Freitag, 27. November 2009, 14:00 bis Sonntag, 29. November 2009, 14:00, RLS, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin

Marx mit der MEGA neu lesen

Internationale wissenschaftliche Konferenz

Seit Ausbruch der Weltwirtschaftskrise ist Marx wieder in aller Munde. Eine Renaissance der Beschäftigung mit Marx hat eine Flut neuer Publikationen hervorge­bracht. In den letzten Jahren wurde eine Reihe von neuen Bänden der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) mit vielen neuen Forschungsergebnissen veröffentlicht, die stärker in das Licht der Öffentlichkeit gerückt werden sollen. Die Marx-Konferenz mit breiter Themenauswahl wendet sich nicht nur an Spezialisten, sondern an alle, die über Marx’ und Engels’ Werk debattieren wollen.

Die erstmalige Veröffentlichung von Manuskripten zum „Kapital“, von naturwissenschaftlichen, ökonomischen und historischen Exzerpten sowie die neue Edition der Schriften von Marx und Engels und der von ihnen verfassten Dokumente der internationalen Arbeiterbewegung in der MEGA schaffen vielfältige Möglichkeiten für neue Analysen des Werkes und für kritische Sichtweisen auf das Leben und Schaffen der beiden bedeutenden deutschen Wissenschaftler, Publizisten und Politiker.

Von Marx‘ Frühschriften bis Engels‘ Alterswerk reicht die Themenpalette der angebotenen Vorträge und Diskussionen, die sowohl im Plenum als auch in zwei Workshops zur Geschichte und zur Politischen Ökonomie ausgetragen werden können. Die Podiumsdiskussion mit ausländischen Gästen zeigt die Vielzahl der internationalen Marx-Aktivitäten und bekräftigt die Notwendigkeit der Kooperation bei der Herausgabe der Schriften von Marx und Engels. In der abschließenden Generaldebatte können Veranstaltungen und Projekte abgestimmt werden.

Veranstalter: Helle Panke e.V. - Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung e.V., Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V. und die Marx-Gesellschaft e.V.

Programm

Freitag, 27. November 2009

14.00–15.30 Uhr
Plenum
Prof. Dr. Rolf Hecker (Berlin): Marx – MEGA – MEW – sind tot? – Von wegen!
Prof. Dr. Thomas Marxhausen (Halle): Marx-Engels-Editionsgeschichte im Spannungsfeld von Wissenschaft und Ideologie
Leitung: Prof. Dr. Ehrenfried Galander (Erfurt)

16.00–18.00 Uhr
Plenum
Prof. Dr. Michael Krätke (Lancaster): Der Zusammenhang von Weltpolitik und Weltökonomie im Marxschen Journalismus
Christoph Lieber (Hamburg): Geschichtliche „Knotenpunkte“ (Marx) – Zur Aktualität eines theoriepolitischen Leitmotivs in der Kritik der politischen Ökonomie
Leitung: Prof. Dr. Rolf Hecker (Berlin)

19:00–21.00 Uhr
Podiumsdiskussion: Marxianer aller Länder, vereinigt euch!
Roberto Fineschi (Siena), Jannis Milios (Athen), Juha Koivisto (Tampere), Michael Krätke (Lancester), Izumi Omura (Sendai)
Leitung: Prof. Dr. Rolf Hecker (Berlin)

Sonnabend, 28. November 2009 10.00–12.30 Uhr

Workshop I (Geschichte)
Prof. Dr. Juha Koivisto (Tampere): Die Bedeutung des Fragments der "Deutschen Ideologie" für eine Ideologietheorie

Prof. Dr. Moon-Gil Chung (Seoul): Marx' Kritik an den zeitgenössischen Sozialisten/Kommunisten (1844-48)

Dr. Jürgen Herres (Trier/Berlin): Karl Marx und die Erste Internationale. Der MEGA-Band I/21
Leitung: Dr. François Melis (Berlin)

Workshop II (Politische Ökonomie)
Prof. Dr. Jannis Milios (Athen): Der Begriff des Geldes, von den „Grundrissen“ zum „Kapital“ – Verschiebungen
Prof. Dr. Izumi Omura (Sendai): Marx‘ Manuskripte zum 2. Buch des „Kapitals“ und ihre Engels'sche Edition
Fritz Fiehler (Schobüll): Die Entwicklung des Kapitalumschlags in den „Kapital“-Manuskripten
Dr. sc. Carl-Erich Vollgraf (Berlin): Marx' ökonomische Manuskripte von 1867/1868 zu Buch 2 und 3 des „Kapitals“
Leitung: Dr. Nadja Rakowitz (Maintal)

13.30–15.30 Uhr
Workshop I
Prof. Dr. Renate Merkel-Melis (Berlin): Übersetzungen im Spätwerk von Friedrich Engels
Dr. Gerd Callesen (Wien): Diskussion zur politischen Taktik zwischen Engels und Victor Adler
Leitung: Prof. Dr. Martin Hundt (Potsdam)

Workshop II
Dr. Jan Hoff (Berlin): Die Anfänge der Arbeitswerttheorie bei William Petty und Benjamin Franklin im Spiegel der Marxschen Exzerpthefte und ökonomischen Manuskripte
Dr. Roberto Fineschi (Siena): Marx‘ Pläne einer Kapitaltheorie zwischen 1862 und 1865
Dr. Michael Heinrich (Berlin):Wie viele Entwürfe/Fassungen des "Kapitals" gab es wirklich?
Prof. Dr. Akira Miyakawa (Tokio): Widerspruch zwischen 2. und 3. Band des „Kapitals“?
Leitung: Dr. sc. Carl-Erich Vollgraf (Berlin)

16.00–18.00 Uhr
Plenum
Prof. Dr. Tomonaga Tairako (Tokio): Neue Wende der Forschungen von Marx nach 1869 - Die Charakteristika der Exzerpthefte von Marx in den Jahren 1869-1883
Dr. Dieter Wolf (Mühlheim): Warum konnte Hegels „Logik“ Marx „große Dienste leisten“?
Leitung: Prof. Dr. Anneliese Griese (Berlin)

Sonntag, 29. November 2009 10.00–13.00 Uhr

Plenarsitzung/Generaldebatte
Kurzberichte von den Workshops I und II
Dr. Jakov Rokitjanskij (Moskau) Vorstellung der neuen Rjazanov-Biografie

Projekt: Marx-Biochronik zum 200. Geburtstag

Leitung: Prof. Dr. Rolf Hecker (Berlin)

In den Konferenzpausen gibt es eine Imbissversorgung.

Wir bitten um Anmeldung bis zum 16. November 2009.

Rolf Hecker hat einen Konferenzbericht verfasst; er enthält auch Berichte zu den Workshops:

Internationale Wissenschaftliche Konferenz "Marx mit der MEGA neu lesen" Prof. Dr. Rolf Hecker

Internationale Wissenschaftliche Konferenz Marx mit der MEGA neu lesen

Berlin, 27.–29. November 2009

Die Konferenz fand in Kooperation mit der Hellen Panke e.V., der RLS und der Marx-Gesellschaft e.V. im Konferenzsaal der RLS am Franz-Mehring-Platz 1 in Berlin statt. Daran beteiligten sich 86 Teilnehmer, darunter 10 Referenten aus acht Ländern und 9 ReferentInnen aus der Bundesrepublik, die Plenarsitzung und die Workshops wurden von fünf KollegInnen geleitet, die Gesamtvorbereitung und -Leitung oblag Rolf Hecker. Weiterhin beteiligten sich der Verlag Lotta Communista (Mailand), der VSA-Verlag (Hamburg), der MEGA-Verein und die RLS mit Bücherständen.

Wie vorgesehen reichte die Themenpalette der angebotenen Vorträge und Diskussionen von Marx‘ Frühschriften bis Engels‘ Alterswerk, die sowohl im Plenum als auch in zwei Workshops zur Geschichte und zur Politischen Ökonomie ausgetragen wurden. Die Aufteilung gestattete eine spezifische Debatte zu den Vorträgen, wenn auch im Workshop zum „Kapital“ die Diskussionszeit aufgrund der Fülle der Vorträge knapp bemessen war. Die TeilnehmerInnen verabredeten daher, spezielle Themen in den nächsten Veranstaltungen wieder aufzunehmen. Das gilt insbesondere der Debatte über die Aufbaupläne und die Struktur des „Kapitals“.

Die Podiumsdiskussion mit den ausländischen Gästen (nach Programm) am Freitagabend zeigte die Vielzahl der internationalen Marx-Aktivitäten und bekräftigte die Notwendigkeit der Kooperation bei der Herausgabe der Schriften von Marx und Engels.

Am Sonntag stellte Jakov Rokitjanskij seine soeben in russischer Sprache erschienene Rjazanov-Biografie vor. Sein Vortrag fand großes Interesse und es wurde der Wunsch zum Ausdruck gebracht, bald eine deutsche Version zu veröffentlichen.

In der abschließenden Generaldebatte wurden die Projekte des MEGA-Fördervereins (Herausgabe der Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge und von Wissenschaftlichen Mitteilungen, Marx-Biochronik in Vorbereitung des 200. Geburtstages), die Veröffentlichung der italienischen Marx/Engels-Werkausgabe durch Lotta Communista und weitere Aktivitäten vorgestellt und diskutiert. U.a. wurde Unterstützung für die Veröffentlichung eines Rubin-Bandes mit neuen Manuskripten und für die Marx-Biochronik zugesagt.

Die TeilnehmerInnen schätzten die Konferenz als gelungen ein, sie war – nach dem Feedback einiger Teilnehmer – eine „kleine Heerschau für die Marxforschung“, war eine „große Gelegenheit“ neue Forschungsergebnisse vorzustellen, die ausländischen Gäste bedankten sich für die ausgezeichnete Organisation und den freundlichen Empfang, alle waren von der freundlichen Atmosphäre und den Arbeitscharakter der Konferenz sehr beeindruckt.

Von den beiden Workshops zur Geschichte liegen folgende Berichte vor:

Bericht über den Workshop Geschichte I (François Melis)

Prof. Dr. Juha Koivisto aus Helsinki legte zu Beginn seines Vortrags „Die Bedeutung des Fragments der ,Deutschen Ideologie’ für eine Ideologietheorie“ seine Auffassung über verschiedene Ideologiestrukturen dar. Entsprechend seiner These unterscheidet er zwei Richtungen: Zum ersten einen ideologisch neutralen Aspekt, der wiederum in zwei spezifische Bewußtseinsphänomene zerfällt: erstens in eine Ideologie als Klassen- oder gruppenspezifisch einheitliche Weltanschauung, die miteinander kämpfen. Zum zweiten als Ideologie, die in institutionell verankerte Diskurs- oder Praxisformen und miteinander um ideologische Elemente kämpfen. Die andere Richtung der Ideologie ist als kritische Ansicht aufzufassen, - ein Bewußtseinsphänomen, dessen Ideologie ein falsches Bewußtsein darstellt, gegen das die Wissenschaften oder die durch sie beratenen Praxen kämpfen. (So annähernd wörtlich, um keine eigene Interpretation hineinzubringen).

Doch keiner dieser Strukturen – so der Referent weiter – träfe auf die „Deutsche Ideologie“ zu. Nach seiner Überzeugung ist für diese Arbeit die Negation charakteristisch, die er mittels des Metaphers – einer Camera opscura – anschaulich erläuterte. Die Ideologie wird darin nicht als ein Bewußtseinsphänomen betrachtet, sondern positioniert sich innerhalb des Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Gliederung. Obwohl die „Deutsche Ideologie“ ein Fragment blieb, das durch die neue Edition im Marx-Engels-Jahrbuch 2003 eine Umstrukturierung und Erweiterung erfahren hat, gäbe die Textvorlage einen interessanten Ausgangspunkt für weitere theoretische Diskussionen zur Ideologieinterpretation des Werkes.

In der Diskussion wurde vor allem das Spannungsverhältnis zwischen Marxscher Kritik der Politischen Ökonomie und Ideologie aufgeworfen. So wurde beispielsweise der These des Referenten widersprochen, dass im „Kapital“ von Marx der ideologische Aspekt nur eine untergeordnete Rolle gespielt habe. Auch müsse man die Kategorien „Gedanken“ und „Ideologie“ stärker von einander unterscheiden. Eine weitere Diskutantin wies darauf hin, dass bei der weiteren Forschung über die „Deutsche Ideologie“ dem selbstkritischen Aspekt von Marx und Engels in diesem Fragment ein stärkeres Augenmerk geschenkt werden müsse.

Dr. Jürgen Herres von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft stellte den von ihm bearbeiteten und im Herbst dieses Jahres vorgelegten MEGA-Band I/21 vor. Dieser umfaßt den Zeitraum von 1867 bis 1871. Nachdem der Referent einleitend eine neue Sicht auf das 19. Jahrhundert als ersten Globalisierungsschub charakterisierte und darin auch das Werk von Marx und Engels einordnete, ging er auf drei große Komplexe ein, die in diesem Band ediert werden.

Ersten Marx’ dominierende Tätigkeit im Generalrat der I. Internationale, die an vielen Beispielen anschaulich belegt wurde. So werden auch im Anhang die Protokolle von 168 Sitzungen des Generalrats veröffentlicht. Der Referent hob in diesem Zusammenhang besonders hervor, dass wir Marx als Politiker kennenlernen, aber nicht im Sinne als aktionistischer Berufsrevolutionär, sondern er aus unterschiedlichen Gründen vermieden hätte, in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Ein zweiter großer Komplex betrifft die Solidaritäts- bzw. die Amnestiebewegung für die irischen Gefangenen, wobei auch Marx’ Tochter Jenny Marx ein aktive Rolle spielte. Der Referent konnte nachweisen, dass diese persönlichen Aktivitäten auf das Handeln der britischen Regierung einen Einfluß besaßen. Und Engels arbeitete 1869/70 an einer Geschichte Irlands.

Der dritte Komplex beinhaltet die Arbeiten von Marx und Engels – von letzterem besonders die Militärartikel – über den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Für Marx – so der Referent – änderte sich mit dem Krieg die machtpolitische Landkarte Europas entscheidend. Aus Marx’ Sicht wurde Deutschland von Rußland unabhängig und damit schien ihm ein Zusammengehen von Frankreich und Deutschland zur Durchsetzung von Republiken und sozialen Revolutionen möglich.

In die Zeit des Bandes fällt auch bekanntlich die Herausgabe des 1. Bandes des „Kapitals“. So werden zahlreiche in Zeitungen lancierte Rezensionen von Engels ediert. Der Referent konnte mindestens 12 dieser Besprechungen nachweisen. Aufgrund des jetzt vorhandenen Überblicks stellte er die These auf, dass es nicht, wie persönlich von Marx eingeschätzt, zu diesem Werk eine „Allianz des Schweigens“ gab, sondern eine beachtliche öffentliche Resonanz. Das zeige sich u.a. darin, dass eine Reihe von jüngeren deutschen Privatdozenten und Professoren sich mit dem „Kapital“ auseinandergesetzt haben.

Da der Referent die Auffassung vertrat, dass Engels erhebliche Schwierigkeiten bei der Abfassung der Kapitalrezensionen hatte, wurde in der Diskussion die Frage nach den Ursachen gestellt, ohne darauf eine schlüssige Antwort geben zu können – eine Frage, worüber man weiter nachdenken sollte. Von dem japanischen Kollegen Prof. Tairako aus Tokio wurde besonders hervorgehoben, welchen wertvollen Beitrag mit der Edition dieses Bandes für die Vorbereitung des MEGA-Bandes IV/18 gegeben wurde.

Bericht über den Workshop Geschichte II (Martin Hundt)

Wie im Programm vorgesehen, referierten Prof. Dr. Renate Merkel-Melis zum Thema „Übersetzungen im Spätwerk von Friedrich Engels“ und Dr. Gerd Callesen über „Diskussion zur politischen Taktik zwischen Engels und Victor Adler“. Unser Workshop war damit der gebührende Engels-Teil unsrer Marx-Konferenz, und Renate Merkel-Melis gebührt das Verdienst, am Beginn unsrer Diskussion darauf hingewiesen zu haben, dass wir am 189. Geburtstag von Engels debattierten.

Sie gab nicht nur einen Überblick über die zahlreichen Übersetzungen, die Engels nach 1883 kritisch durchsah, selbst ergänzte oder kommentierte, sondern untersuchte sowohl die politischen Umstände, die diese Übersetzungen hervorriefen, wie die Rolle, die sie im Schaffen von Engels spielten. Es zeigt sich, dass ein bedeutender Teil dessen, was die MEGA an Neuem bietet bzw. bieten wird, in der Wiedergabe und Kommentierung von Übersetzungen besteht, und hier zeigt sich der Zusammenhang mit dem Generalthema unsrer Konferenz.

Gerd Callesen stellte die Geschichte und Überlieferung des Briefwechsels zwischen Engels und Victor Adler dar, der mit seiner Vielzahl politischer Themen aus der damaligen europäischen Arbeiterbewegung eine Reihe von Fragen aufwirft, die zu diskutieren auch heute noch lohnt. Ihr werdet das nicht nur in der Druckfassung unsrer Konferenz nachlesen können, sondern es liegt ja auch bereits eine reich kommentierte Neuausgabe dieses Briefwechsels vor und kann als Probe-Exemplar am Buchstand eingesehen werden.

Unsre lebhafte Diskussion ergab, dass die Revolutionskonzeption des alten Engels keineswegs eindeutig zu definieren ist und dass auch seine Vorstellungen über innerparteiliche Demokratie genügend Anlass für eine weitere wissenschaftliche Untersuchung bieten.

Die Debatte in unserem Workshop endete bei der Frage, ob – nicht nur beim alten Engels, sondern überhaupt im Marxismus – ein Grundwiderspruch besteht zwischen der Aussage, ein Schritt in der praktischen Bewegung sei besser als ein Dutzend Programme, andererseits aber der schon im Kommunistischen Manifest aufleuchtenden Selbstgewissheit, der Bewegung „die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“ zu haben. Diesen echten hegel-marxschen Widerspruch nicht zu bejammern, sonder fruchtbar zu machen, ist eine Aufgabe, die vor uns liegt.

Prof. Dr. Rolf Hecker

Vorsitzender

* Rundschreiben/Newsletter des Vereins erscheinen seit 1998 in unregelmäßiger Folge.

Außerdem ist ein Artikel von Gert Lange im ND vom 19.11.2009, S. 17, zur Konferenz erschienen.

Historisch oder logisch? Der neue Methodenstreit um Karl Marx und die MEGA-Edition.

Gert Lange

Die Attraktivität mancher gemeinnütziger Vereine hat etwas Floristisches. Ihr Erscheinungsbild gleicht etwa dem des rätselhaften Rhododendron. Zwar bekannt, doch übers Jahr unauffälliges, üppiges, unspektakuläres Blattwerk. Dann aber treiben sie prächtige Dolden, und wenn man genau hinsieht, hat jede Einzelblüte etwas Orchideenhaftes.

Dieses Gleichnis fiel mir ein, da die Zeit doch längst überfällig ist, über den »Verein zur Förderung der MEGA-Edition« zu schreiben. Wer sich mit dem Erbe linker Geistigkeit befasst, kennt natürlich die MEGA, die Marx-Engels-Gesamtausgabe. Aber den Verein?

Er ist 1991 gegründet worden. Das Augenmerk richtet sich nicht allein darauf, unter schwierigen, marktwirtschaftlichen Bedingungen den literarischen Nachlass von Marx und Engels weiter zu erschließen, sondern es erfasst auch die Rezeption bis zu derzeit aktuellen Debatten und lässt das biografische Umfeld der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus nicht außer Acht.

Mitglieder des Vereins geben im Jahresrhythmus die »Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge« heraus. Sie wurden ergänzt durch einige Sonderbände zur Editionsgeschichte seit 1924. Und in korporativer Verantwortung erscheint die Reihe »Wissenschaftliche Mitteilungen«, in die größere Einzelpublikationen aufgenommen werden können. Über deren jüngst vorgelegtes Heft 6 soll hier die Rede sein, weil es in die seit etwa zehn Jahren wieder aufgeflammte, mit Feuereifer geführte Debatte über Marxens dialektische Methode eingreift.

Den Hauptteil der Publikation nimmt (neben Ausführungen von Ingo Elbe und Tobias Reichardt) die Arbeit Dieter Wolfs ein. Er knüpft an seine Schrift »Zur Konfusion des Wertbegriffs« an (Heft 3 der »Wissenschaftlichen Mitteilungen«), worin er gegen eine Interpretation der Verfahrensweise von Marx polemisiert, wie sie Helmut Reichelt und, mit anderer Gewichtung, Hans Georg Backhaus zu verstehen meinen. Was wiederum eine Kritik seitens Alexander Gallas ausgelöst hat. (Alle hier genannten Schriften sind im Argument Verlag oder dessen Zeitschrift »Das Argument« erschienen.) Es könnte noch ein halbes Dutzend Namen in die Auseinandersetzung verstrickter Kombattanten angeführt werden.

Worüber streiten sich nun so erstaunlich viele intellektuelle Kapazitäten? Um die Frage, ob Marx bei der Niederschrift der »Kapital«-Bände einer logischen oder einer historischen Methode gefolgt sei. Die Diskussion hat in ihrer Ausgiebigkeit etwas typisch Akademisches. Sieht man einmal vom Ehrgeiz der Beteiligten ab, der dabei vielleicht auch eine Rolle spielt, wenn sie des Renommees wegen ihre jeweilige Ansicht bis zum letzten Buchstaben verteidigen, so hat der Streit eine durchaus fundamentale Bedeutung.

Denn wenn es stimmt, dass Marxens Darstellungsweise eine historische ist, also im Prinzip ökonomische Geschichtsschreibung - ein Ansicht, der Friedrich Engels unbewusst Vorschub geleistet hat und die Gallas vertritt -, dann kommt diese Deutung dem Argument jener Marx-Kritiker sehr nahe, die behaupten, das »Kapital« sei eben ein Geschichtswerk, das heute nicht mehr gilt, das wir vergessen können.

Dieter Wolf legt nun anhand der ersten drei Kapitel des Kapital dar, dass die Verfahrensweise von Marx eine »logisch-systematische« war und warum er gar nicht anders vorgehen konnte, weil er ein durch seine Vorgeschichte abgeschlossenes, sich selbst regulierendes System zu beschreiben hatte, das der kapitalistischen Produktion und Reproduktion.

Wenn man diese methodische Eigenart verstanden hat, sagt Wolf, »kann man auch feststellen, dass die im 'Kapital' dargestellte einfache Warenzirkulation als abstrakte Sphäre der Kapitalzirkultion keine historische, dem Kapitalverhältnis vorausgehende Entwicklungsstufe sein kann«. Deshalb beginnt Marx eben nicht mit der »einfachen Warenproduktion«, die gang und gäbe war, bevor sie eine kapitalistische wurde, wie oft fehlinterpretiert worden ist - er betont in den »Grundrissen« explizit, diese Phase sei eine »historische Voraussetzung« und gehöre nicht »in das wirkliche System« der kapitalistischen Produktionsverhältnisse.

Er beginnt auch nicht mit dem Geld und Preis der Waren, sondern davon abstrahierend, nachdem er den Doppelcharakter der Arbeit als konkret nützliche und gesellschaftlich allgemeine dargelegt hat, mit Tausch und Tauschwert, wiederum hervorhebend, dass diese Beziehung eine »theoretische, gedachte« ist.

Wolfgang Fritz Haug sieht in diesem methodischen Herangehen eine Vernachlässigung des Historischen und spricht von einer praxisfernen »Begriffsanknüpfungsmethode«. Ähnlich Hans Georg Backhaus, der Marx vorwirft, er habe durch die auf das Logische abhebende Abstraktion die reale Bezugsbasis verloren. Wolf hält diesen Autoren entgegen, dass sie den für die gesamte Kritik der politischen Ökonomie gültigen Hinweis von Marx nicht ernst genommen haben, sein Wirklichkeitsbezug sei die »contemporäre Geschichte«, das heißt die zeitgenössische Geschichte des Kapitals nicht mit ihren Zufälligkeiten, sondern methodisch eingeschränkt, logisch abstrahiert auf die »Kerngestalt« (bei Wolf heißt es »Kernstruktur«) und den »idealen Durchschnitt«. Wolf: »So kann das 'Kapital' als Basis dafür dienen, jedes reale Stück Zeitgeschichte des Kapitals zu verstehen ...«

Der Methodenstreit wird oft in Zusammenhang gebracht mit der »neuen Marx-Lektüre«. Aber Wolf hat Marx nicht »neu gelesen« in dem Sinne, dass er versucht hätte, krampfhaft eine neue »Lesart« zu finden. Er hat ihn, was nicht trivial ist, genau gelesen. Die Argumentation ist überzeugend. Sie könnte über den Kreis der Streithähne hinaus besser wirken, wenn der Autor etwas mehr Sorgfalt auf klaren, stringenten Ausdruck legte.

Dieter Wolf/Ingo Elbe/Tobias Reichardt: Gesellschaftliche Praxis und ihre wissenschaftliche Darstellung. Beiträge zur »Kapital«- Diskussion. Argument-Verlag, Hamburg. 265 S., br., 14,90 EUR.

Vom 27. bis 29. November lädt die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin zu einer internationalen Konferenz ein: »Marx mit der MEGA neu lesen?«

(Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Freitag ab 14 Uhr, Sonnabend und Sonntag ab 10 Uhr; Teilnahmegebühr für alle drei Tage 10 EUR).

RLS, Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V., Marx-Gesellschaft e.V.

Kosten: 10 Euro

Wo?

RLS
Franz-Mehring-Platz 1
10243 Berlin