Montag, 17. Oktober 2011, 19:00 bis 21:00, Max-Lingner-Haus, Straße 201, Nr. 2, 13156 Berlin

Ralf Schröder: "Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines Romans"

Reihe Siedlungsgeschichte

Der Slawist Ralf Schröder (1927–2001) lebte in der russischen und sowjetischen Literatur. Bulgakow, Ehrenburg, Tendrjakow und Trifonow wurden, dank seines Engagements, in der DDR vollständiger als in der Sowjetunion verlegt. Ebenso leidenschaftlich lag Schröder der Sozialismus am Herzen – ein anderer als der "reale" in den Farben der DDR. Für seine Ideen saß er sieben Jahre im Zuchthaus Bautzen. Sein autobiographisches Buch "Mein Roman mit der russischen und sowjetischen Literatur" konnte Schröder nicht mehr beenden.Michael Leetz hat die nachgelassenen Schriften seines Vaters herausgegeben und stellt das im Frühjahr im Verlag "edition schwarzdruck" erscheinende Buch vor.

Moderation: Dr. Thomas Flierl

Eine Veranstaltung in Kooperation mit dem Kulturforum der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Werner Röhr hat in der Jungen Welt vom 17. 10. 2011 einen Artikel dazu geschrieben:

Mutig, hell und klar. »Unaufhörlicher Anfang«: Die Nachlaßtexte des Slawisten Ralf Schröder sind erschienen.

Werner Röhr Zehn Jahre nach dem Tod des marxistischen Literaturhistorikers Ralf Schröder hat sein Sohn Michael Leetz die Fragment gebliebenen Memoiren aus dem Nachlaß unter dem Titel »Unaufhörlicher Anfang« herausgegeben. Schröders Beziehung zur russischen und sowjetischen Literatur war mehr als die professionelle Erforschung und Darstellung seines Gegenstandes. Ihre Erkundung, Analyse, Herausgabe und Förderung war ästhetisch wie politisch der Inhalt seines Lebens. Entsprechend nannte er seine Erinnerungen »Mein
Roman mit der russischen und sowjetischen Literatur«. Roman als Metapher für Lebensschicksal. Außer den Fragmenten des Romans enthält der Band »Aufzeichnungen auf dem Bildschirm«, die Schröder während der Arbeit an der Bulgakow-Ausgabe seines Verlages Volk und Welt seit 1992 niederschrieb. Dazu kommen Briefe, Vorträge, Rundfunkinterviews.
Ralf Schröder (1927-2001) war ein hellwacher politischer Beobachter und scharfsinniger Analytiker des Zeitgeschehens. Als marxistischer Denker und als glänzender Kritiker, der in seinen Erinnerungen keines taktischen Verhaltens mehr bedarf, sondern nur noch Klartext redet, sind seine Wahrnehmungen und Kommentare auch für Leser, die sich nicht professionell mit Literatur beschäftigen, eine Fundgrube. Zwei Zäsuren bestimmen Leben und Memoiren, das Jahr 1956 und die Konterrevolution 1989/91.
Der XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 sensibilisierte den Slawisten für die von der offiziellen Kritik verschwiegenen und unterdrückten Autoren der Sowjetliteratur und ermutigte ihn, in seiner Analyse der Widersprüche der sowjetischen Entwicklung nicht bei vordergründigen oder psychologischen Erklärungen für die Verbrechen stehenzubleiben, sondern eine marxistische historische Analyse in Angriff zu nehmen: »Der XX. Parteitag wurde schon deshalb eine Zäsur, weil er einen befreienden Durchbruch meines eigenen
Denkens auslöste und zugleich sieben Jahre Haft zeitigte. Aber mein 'langer Abschied' von Überlagerungen des 'Stalinismus' hatte schon viel früher begonnen, und seine Unterlagerungen sollten auch über die Zäsur hinaus nachwirken.«
Nach seiner Freilassung 1964 aus Bautzen im Zuge einer Amnestie durfte Schröder nicht an die Leipziger Universität zurückkehren, auch jede andere wissenschaftliche Tätigkeit wurde ihm verwehrt. Dennoch wurde der verfemte und unter Zensur schreibende Literaturhistoriker bald einer der produktivsten und einflußreichsten Slawisten in der DDR. Seit 1966 konnte er im Verlag Volk und Welt Werkausgaben u.a. von Alexander Malyschkin, Ilja Ehrenburg, Bulat Okudshawa, Tschingis Aitmatow, Juri Trifonow, Juri Tynjanow, Wladimir Tendrjakow und von Michail Bulgakow herausgeben. Durch seine Herausgebertätigkeit, seine bald berühmten Vor- und Nachworte und eine rege Vortragstätigkeit erzielte er eine öffentliche Wirksamkeit wie kein anderer Slawist seines Landes. Ralf Schröder betrieb die Herausgabe sowjetischer Autoren so intensiv, daß manche ihre Werke in der DDR besser, umfangreicher und manchmal auch früher gedruckt sahen als in der UdSSR. Trifonow und Tendrjakow haben ihm Manuskripte ihrer vermächtnishaften letzten Werke übergeben, deren Veröffentlichung sie nicht mehr
erlebten.
Schröder blieb Marxist und ließ sich weder von Dogmen noch von Denkverboten abhalten, selbständig zu fragen und zu forschen. Er analysierte die Widersprüche jenes Epochenvorgangs, der mit der Oktoberrevolution eingeleitet wurde. Den Schlüssel zum tieferen Verständnis der Tragödie der Russischen Revolution lieferte ihm die »andere sowjetische Literatur«, das heißt jene Autoren und deren Werke, die seit 1927 in der Sowjetunion »vergessen«, verdrängt oder verboten waren, vor allem Samjatin, Tarasso-Radionow, Babel, Weressajew, Bulgakow, Platonow sowie Gorkis und Ehrenburgs »vergessene« Werke, außerdem jene »Literatur aus der Tiefe« genannten Werke von Trifonow, Tendrjakow, Okudshawa, Aitmatow, Granin und anderen. In dieser Literatur sah er ein Paradigma der Geschichte und eine eigene, der Geschichtswissenschaft überlegene
Erkenntnisart, den Ansatz einer Alternative zum Bestehenden und Vorboten eines grundlegenden sozialistischen Wandels. Die eigene »angewandte Literaturgeschichte« (Mierau) verstand Schröder als geeignete Vorbereitung einer politischen Revolution für einen Rätesozialismus, solange ein »direktes Ansprechen dieser Alternative als Epochennotwendigkeit ausgeschlossen blieb«.
Schröders Ausgangspunkt war die linke Opposition in der UdSSR gegen Stalin. Er wollte mit seiner Kraft für die politische Revolution für den Sozialismus gegen die Stalinsche Ordnung wirken. Insofern er die politische Revolution für einen Rätesozialismus den Ideen Leo Trotzkis entnahm, bezeichnete er sich als Trotzkist: »Die russische Revolutionstragödie war nicht nur eine Geschichte 'verpaßter Möglichkeiten', weltrevolutionärer Anläufe, staatssozialistischer 'Entartungen' und einer gescheiterten 'Politischen Revolution' gegen die staatssozialistische Bürokratie, sondern auch und vor allem das gegen eine weltweite Intervention siegreiche 'Russische 1793', die Tragödie der 'nachholenden ursprünglichen Akkumulation' mit staatskapitalistischen und Selbstherrschaftsmethoden auf einer
zivilisatorisch rückständigen 'kriegskommunistischen Insel' im kapitalistischen Weltmeer, die Herausbildung und Erweiterung dieser Insel zu einer Supermacht und einem 'euroasiatischen' Staatenbund, zu einer 'Zweiten Welt', die weitere eigenständige und
nach wie vor zukunftswichtige sozialistische und nationaldemokratische Ansätze in der 'Dritten Welt' freisetzte.«
In der Perestroika sah Schröder den nach langen Jahren »unterirdischer Arbeit« endlich eingeschlagenen Weg zu jenem Rätesozialismus, für den er wirkte, und der geschichtsmächtig zu werden versprach. In seinen Memoiren räumte er ein: »Alle, die das gläubig sehr wünschten, haben alles hineingeheimnißt, was als mögliche Alternative zum Staatssozialismus herangereift war.« Und er bekannte: »Der Irrtum, daß ich trotz aller Erfahrungen mit trügerischen Wundertätern (...) Gorbatschows 'Katastroika' für den Anbruch dieser Zeit hielt, wiegt schwerer als alle Stalin-Illusionen von 1945.« Die Einsicht,
daß diese Perestroika nur die Nomenklatura-Konterrevolution in Richtung auf jene offen zaristische Konterrevolution fortsetzte, kam ihm erst spät. »Am 4. November 1989 war mir
endgültig klar geworden, daß der fort bzw. rückschreitende allgemeine Gang der Weltereignisse diametral entgegengesetzt zu dem verlaufen werde, was ich mit meinen Visionen von einer 'politischen Revolution' im Staatssozialismus erhofft und durch meine 'angewandte Literaturgeschichtsschreibung' zu befördern gesucht hatte.« Nach 1989/90
setzte Schröder all seine Kraft daran, »die sozialistische Alternative gegen den kapitalistischen Zeitgeist zu verteidigen und an der kommunistischen Weltalternative festzuhalten.«
An Schröders Interpretationen der klassischen russischen und der sowjetischen Literatur der siebziger und achtziger Jahre beißt sich die bürgerliche Literaturwissenschaft bis heute die Zähne aus. Besonders attackiert wurde seine letzte Bulgakow-Ausgabe - eine Ausstellung, ein Film und eine Monographie wandten sich gegen seine Konzeption und
Nachworte. Seine Repliken darauf sind beißend und lesenswert. In den 1990er Jahren avancierte Bulgakow zum berühmtesten und gefeierten russischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts im Westen wie in Rußland - und zum literarischen Stern der Konterrevolution. Allerdings nur kurz. »Nach der konterrevolutionären Vergottung Bulgakows hat inzwischen schon die konterrevolutionäre Demontage des Heiligen begonnen«, schreibt Schröder.
Auf Biographie und Wirkungsgeschichte kann hier verzichtet werden, denn 2002, zum 75. Geburtstag des ein Jahr zuvor verstorbenen Slawisten, richtete die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen in Leipzig ein wissenschaftliches Colloquium aus, auf dem die Lebensleistung Schröders gewürdigt, seine politischen Intentionen, geistigen und ästhetischen Antriebe benannt und die Beiträge in drei Bänden, herausgegeben von Willi Beitz und Winfried Schröder, publiziert wurden (Leipzig 2003 und 2005).
Mit einer immensen Arbeitsleistung hat der Herausgeber Michael Leetz die aufgenommenen Texte und Textfragmente in eine lesbare Ordnung gebracht und den Nachlaßband mit Anmerkungen ausgestattet, die über alle erwähnten russischen und sowjetischen Schriftsteller, deren genannte oder zitierte Werke informieren, die Quellen nachweisen und durch zahlreiche Querverweise dem Leser die Übersichtlichkeit erleichtern. Hut ab!
Ralf Schröder: Unaufhörlicher Anfang. Vorboten eines Romans. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Michael Leetz. Edition Schwarzdruck, Gransee 2011, 624 S., 35 Euro; erhältlich auch im jW-Shop unter www.jungewelt. de/shop heute, 19 Uhr Buchvorstellung im Max-Lingner-Haus, Straße 201, Berlin-Pankow

KULTURFORUM DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG

Kosten: 1,50 Euro

Wo?

Max-Lingner-Haus
Straße 201, Nr. 2
13156 Berlin