Dienstag, 12. März 2013, 10:00, Karl-Liebknecht-Haus, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin

Wirtschaftstheorie in zwei Gesellschaftssystemen

Seniorenklub im Karl-Liebknecht-Haus

Für die Ausarbeitung realistischer Alternativen zur nach wie vor dominierenden neoliberalen Wirtschaftspolitik und für das Aufzeigen eines zukunftsfähigen Entwicklungsweges kann eine linke Wirtschaftstheorie einen wichtigen Beitrag leisten. Im Vortrag sollen unter diesem Aspekt vor allem zwei Problemkomplexe untersucht werden: Erstens die Beziehungen zwischen Wirtschaftstheorie, Ideologie und Politik, die dabei bestehenden wesentlichen Unterschiede aber auch die Ähnlichkeiten zwischen der realsozialistischen DDR und der kapitalistischen BRD. Zweitens Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für Alternativen, insbesondere für eine langfristige Transformationsstrategie zur Überwindung des kapitalistischen Systems.

Referent: Prof. Dr. Klaus Steinitz
Moderation: Elfriede Juch


Ohne Wenn und Aber
Ost- und westdeutsche Wirtschaftstheorien auf dem Prüfstand
Rezension des Buches von Günter Krause/Christa Luft/Klaus Steinitz (Hg.): Wirtschaftstheorie in zwei Gesellschaftssystemen. Erfahrungen - Defizite - Herausforderungen."
erschienen im neuen deutschland vom 31.5.2012. Autor: Michael Brie

Wenn Arbeiter ihre Arbeit verlieren, so verlieren sie auch den Zugang zu den Produktionsmitteln. Sie werden »entwertet«. Gesellschaftswissenschaftler dagegen haben auch dann, wenn ihre Institutionen wegbrechen, wenn sie abgeschnitten werden von der Lehre und dem nationalen wie internationalen Wissenschaftsbetrieb, immer noch einen Rest an Produktionsmitteln - sich selbst, die Bibliotheken, das globale Internet und ihre Wissenschaftskontakte. Sie können - offiziell »außer Wert gesetzt« - befreit von institutionellen Zwängen produzieren, vorausgesetzt, ein »Grundeinkommen« (und sei es die reduzierte Rente) steht zur Verfügung.

Dies betrifft viele Wirtschaftswissenschaftler der DDR, die Generation, die im Nachkrieg studierte, in den 1950er und 1960er promovierte und später habilitierte. Aus »dem personellen Potential der zerstörten DDR-Forschungseinrichtungen«, so Reinhold Kowalski, entwickelte sich »eine breite und recht produktive ›intellektuelle Subkultur‹«. In diesem Buch legen einige ihrer Vertreter Rechenschaft ab. Sie fällt unterschiedlich aus.

Der zentrale Konflikt, soweit es um die DDR geht, wird in einem Resümee von Klaus Steinitz und einer Fußnote deutlich. Der ostdeutsche Wirtschaftsprofessor schreibt: »Bei aller notwendigen selbstkritischen Reflexion gibt es auch für die Wirtschaftswissenschaftler der DDR keinen Grund, ihre geleistete Arbeit vorwiegend negativ zu betrachten oder gering zu schätzen.« Und in der Fußnote bekräftigt er, zu einer anderen Gesamtwertung als sein Kollege Günter Krause zu gelangen, der meint: ›Für die Wirtschaftstheorie der DDR gibt es daher insgesamt keine positive Schlussbilanz - da hilft kein ›wenn‹ und ›aber‹‹«. Zu einer eher negativen Bilanz kommt auch Norbert Peche: »Meine durchaus bittere Erkenntnis: Offensichtlich hat jede Generation, was das Vertrauen betrifft, nur einen Schuss: Wir haben den unseren vertan.« Er fügt jedoch hinzu: »In Ost und West.«

Was ist der Maßstab von Scheitern? Menschen werden in ein Gesellschaftssystem hineingeboren. Nach 1945 haben jene, die gegen den Faschismus gekämpft haben oder ihn aus Erfahrung strikt ablehnten, sich »für das genaue Gegenteil« (Christa Wolf) entschieden und an dieser Entscheidung bis 1989 festgehalten. Steinitz spricht für eine ganze Generation, wenn er bekennt: »Wir haben aktiv an dem Versuch mitgewirkt, eine neue gerechte und solidarische Gesellschaft zu schaffen.« Was dies für die Arbeit von Wirtschaftswissenschaftlern bedeutete, wird hier eindrucksvoll beschrieben.

Es ging um den Aufbau einer neuen Art von Forschung wie Lehre mit dem Ziel, einen neuen Typ von Volkswirtschaft zu schaffen, in dem wirtschaftliche Zusammenhänge bewusst und planmäßig hergestellt werden, eine höhere Effizienz als die des Kapitalismus angestrebt wird und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung positiv für alle miteinander verbunden werden sollte. Natürlich war dies Teil der Systemauseinandersetzung, spielten Fragen von Rüstung genauso eine Rolle wie die unbedingte Sicherung der Vorherrschaft der SED. Der damit gesetzte Rahmen war nicht »verhandelbar« für jene, die Teil des Wissenschaftssystems der DDR bleiben wollten. Dissidenten, die die Grenzen dauerhaft verletzten, wurden »ausgegrenzt«.

Krause konstatiert für die ostdeutsche Wirtschaftstheorie: »Der kognitive Entfaltungsraum für ihre verschiedenen Bereiche war in der DDR normativ klar abgesteckt.« Aber dies schloss, so Krause, »weder die Gewinnung von Erkenntnissen noch ernst zu nehmende Beiträge zur Theorieentwicklung per se« aus. Auch in einem zum Scheitern verurteilten System kann richtig gedacht werden - dies gilt, so sei angemerkt, sogar für die heute vorherrschende Neoklassik. Harry Nick schreibt: »Der Untergang einer Gesellschaftsform ist durchaus nicht gleichbedeutend mit dem Untergang der Gedanken, die in ihr geboren wurden.«

Nick greift die Erkenntnis des polnischen Ökonomen Oskar Lange auf, der in der Erfindung der doppelten Buchführung die wichtigste Erfindung des Kapitalismus sah und die Planung als die wichtigste Erfindung des Sozialismus ansah. Die Frage der Verbindung des Primats wirklicher demokratischer Planung gerade unter den Bedingungen einer notwendigen sozialökologischen Transformation und der Nutzung der Instrumente von Kredit und marktwirtschaftlicher Regulation kann nur beantwortet werden, wenn die Erkenntnisse der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung der DDR und anderer staatssozialistischer Länder einbezogen wird.

Für die DDR bedeutet der konkrete wissenschaftlich-politische Raum, um noch einmal Krause zu zitieren, dass sich das Wirken ihrer Ökonomen in einem Spannungsleben »zwischen einem von innerwissenschaftlichen Normen geprägten kognitiven Eigenleben und einer theoretisch legitimierten Verkündung politisch-ideologischer Normen« bewegte. Christa Luft und Klaus Müller machen deutlich, in welcher Form ein solches Spannungsverhältnis auch in der Bundesrepublik produziert und reproduziert wird - viel subtiler als in der DDR, gesteuert vor allem über die »Prämierung« von bestimmten Karrierestrategien (Wahl der Studienorte, Lehrer, Forschungs- und Publikationsmethoden usw.) sowie über die Vergabe von Lehrstühlen, Berateraufträgen und Zugang zur Politik. Individuelle Freiheit in institutioneller Fremdbestimmung. Auch in der Bundesrepublik werden Dissidenten ausgegrenzt - aber nicht per Strafrecht. Ob in Ost oder West: Herrschaft, die sich unangefochten glaubt, meint, auf offenes Lernen verzichten zu können, selektiert nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern strukturiert und formiert auch deren Erzeugung und Verbreitung, strebt danach, sie in ein Untersystem von Herrschaft zu verwandeln.

Die Darstellung der Geschichte des Deutschen Wirtschaftsinstituts in Berlin (ab 1971 Institut für Politik und Wirtschaft) durch Reinhold Kowalski offenbart, wie innerhalb der genannten Grenzen von DDR-Wissenschaftlern neue Erkenntnisse gewonnen wurden, so über die Rolle von Planung und neuer Formen von Kooperation im westeuropäischen und internationalen Kapitalismus. Walter Kupferschmidt stellt die Geschichte der Hochschule für Ökonomie (Berlin) ins Zentrum und zeigt, wie die konkreten Bedingungen nicht etwa Dogmatismus, sondern eher kritisch-selbstständiges Denken förderten. Peter Thal kommt mit Blick auf die Wirtschaftswissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu ähnlichen Schlussfolgerungen.

Korrespondierend dazu findet sich in diesem Buch eine Darstellung des »Elends bundesdeutscher ökonomischer Lehre und Forschung« durch Klaus Peter Kisker. Das Scheitern des »Bastard-Keynesianismus« in den 1970er Jahren wird genauso analysiert wie der Siegeszug der »neokonservativen Konterrevolution«. Hier ordnet sich auch der Beitrag von Rudolf Hickel ein. Für ihn hat sich mit der neoliberal geleiteten Abwicklung der DDR-Wissenschaft die »westdeutsche Mehrheits-Wirtschaftswissenschaft« blamiert. Die produktiven Diskussionen um unterschiedliche Ordnungsregeln von Wirtschaften aus der DDR müssten aufgearbeitet werden. Hickel leitet daraus zugleich ein ganzes Forschungsprogramm ab, das von einer »in der Wirklichkeit verankerten Kritik des Neoliberalismus« über die Analyse des Finanzmarkt-Kapitalismus bis hin zur Entwicklung eines »Zukunftsmodell(s), das sozialistische Elemente berücksichtigt«, reicht. Ein Katalog radikaler Eingriffe in die Wirtschaftsordnung schließt seinen Beitrag ab.

Hieran knüpft der Beitrag von Christa Luft an. Sie analysiert die Fortsetzung des Neoliberalismus mit anderen Mitteln und geht konkret auf die Krise im Euro-Raum ein. Vor allem ginge es darum, die Überakkumulation durch die Erhöhung der Lohnquote und der Abgaben auf Vermögen und Gewinne sowie durch Stärkung der sozialen Sicherungssysteme abzubauen. Des weiteren seien Kredite an überschuldete Staaten direkt zu vergeben und gegebenenfalls eine geordnete Insolvenz bei Schutz der Bevölkerung durchzuführen.

Für heutige Sozialisten ist dieses Buch eine wahre Fundgrube, die genutzt werden sollte, gerade auch von der jungen Generationen, um nicht erneut in die Falle des Dogmatismus zu geraten.

Günter Krause/Christa Luft/Klaus Steinitz (Hg.): Wirtschaftstheorie in zwei Gesellschaftssystemen. Erfahrungen - Defizite - Herausforderungen. Karl Dietz Verlag, Berlin 2012. 150 S., br., 14,90 EUR.

Kosten: 2,00 Euro

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