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Heft 244: Profit - Wesensmerkmal im gegenwärtigen Gesundheitswesen und in den Biowissenschaften

Mit Beiträgen von Heinrich Niemann, Herbert Kreibich, Daniel H. Rapoport, Peter M. Kaiser, Hartmut Reiners, Marianne Linke und Ellis Huber

Von: Heinrich Niemann, Herbert Kreibich, Daniel H. Rapoport, Peter M. Kaiser, Hartmut Reiners, Marianne Linke, Ellis Huber

Heft 244: Profit - Wesensmerkmal im gegenwärtigen Gesundheitswesen und in den Biowissenschaften

Reihe "Pankower Vorträge, Nr. 244, 2024, 76 S.

Am 21. Oktober 2023 veranstalteten „Helle Panke“ e.V. und die Rapoport
Gesellschaft e.V. in der Kopenhagener Straße 9 die Tagung „Profit – Wesensmerkmal im gegenwärtigen Gesundheitswesen und in den Biowissenschaften“. Ziel war, über Ursachen und Zusammenhänge der gegenwärtigen desolaten Situation im Gesundheitswesen –  insbesondere in Deutschland, aber auch international – aufzuklären. Dringende Reformen innerhalb des Systems sind notwendig und bei politischem Willen auch machbar. Wir bedanken uns bei allen Beteiligten für die verschriftlichten Beiträge.

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Autorinnen und Autoren

Heinrich Niemann, Dr. med., Facharzt für Sozialmedizin, war in Marzahn-Hellersdorf neun Jahre Gesundheitsstadtrat

Herbert Kreibich, Prof. Dr. med., ehem. Direktor Zentralinstitut für Arbeitsmedizin der DDR

Daniel H. Rapoport, Dr. rer. nat., Universität zu Lübeck, Institut für Medizinische und Marine
Biotechnologie

Peter M. Kaiser, Dr., Biochemiker, Qualitätsmanager in der Pharmazeutischen Industrie

Hartmut Reiners, Gesundheitsökonom

Marianne Linke, Dr. habil, ehem. Sozialministerin von Mecklenburg-Vorpommern

Ellis Huber, Dr. med., ehem. Präsident der Ärztekammer Berlin

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Inhalt

Heinrich Niemann
Das Gesundheitswesen zum Guten verändern – mit kausaler Diagnose und realistischen Forderungen und Vorschlägen – Eine Einführung (4)

Herbert Kreibich
Über Produktivkräfte, Eigentumsverhältnisse und die Aneignung des Profits im kapitalistischen Gesundheitswesen (11)

Daniel H. Rapoport
Forschung und Lehre in den Bio-Wissenschaften (19)

Peter M. Kaiser
Entwicklung und Geschichte der Biotechnologie (32)

Hartmut Reiners
Das Gesundheitswesen als Kapitalanlage (45)

Marianne Linke
Die Finanzierung des Gesundheitswesens durch Kassenbeiträge, Steuern und private Investoren (52)

Ellis Huber
Wie gestalten wir ein Gesundheitswesen, das den Menschen dient und nicht dem Kapital? Die Aufgabe des Arztes und das Sehnen der Menschen (65)

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LESEPROBE (S. 4-10)

Heinrich Niemann
Das Gesundheitswesen zum Guten verändern – mit kausaler Diagnose und realistischen Forderungen und Vorschlägen – Eine Einführung

„Das Gesundheitswesen ist – anstatt ein berechenbares System darzustellen – zu einem Mischmasch von körperschaftlichen Lebensgütern geworden, deren zentrales Anliegen es ist, die Profitabilität für Investoren von Wagniskapital so ertragreich wie möglich zu gestalten. Ein profitorientiertes Gesundheitswesen verlangt vom Arzt, dass er als eine Art Torhüter agiere, der über Zuteilung oder Ablehnung einer Krankenversorgung befinde. Ein profitorientiertes Gesundheitswesen ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. In dem Augenblick, in dem die Fürsorge dem Profit dient, hat sie die wahre Fürsorge verloren.“[1]

Mit dieser Publikation über die nunmehr schon dritte Fachtagung[2] der Rapoport-Gesellschaft dokumentieren wir die am 21. Oktober 2023 gemeinsam mit der „Hellen Panke“ organisierte Veranstaltung. Das gewählte Thema spiegelt auf besondere Weise einen andauernden gesellschaftlichen Diskurs über einen für die Menschen so wichtigen Lebensbereich wider, nämlich die Sorge für ihre Gesundheit.

Seit geraumer Zeit kann man in den Medien, aber auch durch vielfältige Kampfaktionen der Beschäftigten des Gesundheits- und Sozialwesens die anhaltende und zutreffende Kritik an den Defiziten, ja offenkundigen Mängeln, bürokratischen Mechanismen und auch unflexiblen Strukturen des gegenwärtigen Gesundheitswesens verfolgen. Sie kommt inzwischen nicht nur, wie üblicherweise erwartet, aus linken Kreisen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft und auch der etablierten Medizin wie z.B. den Vertretungskörperschaften der Ärzte.

Wenn man die bekannten Fakten sowohl des finanziellen Aufwands der Gesellschaft für die gesundheitliche Versorgung als auch die Eckdaten über die zur Verfügung stehenden beachtlichen Kapazitäten kennt und das auch mit vergleichbaren Ländern betrachtet, so erstaunt schon die nicht nachlassende Kritik am bundesdeutschen Gesundheitswesen.

In dem gesellschaftlichen Bereich der Gesundheitsversorgung sind etwa sechs Millionen Menschen tätig, die 13% des Bruttoinlandsproduktes (etwa 500 Mrd. Euro) erwirtschaften. Das ist mehr als doppelt so viel als vor 50 Jahren. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung haben sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt. Etwa 416. 000 Ärztinnen und Ärzte, davon 56 .000 Ausländer, vor allem aus Ländern, wo Ärzte fehlen, sind in unserem Land tätig. Der statistische Versorgungsgrad ist mit einem Arzt auf 200 Einwohner einer der internationalen Spitzenplätze.

Weshalb ist es also zu diesen sich verfestigenden und tiefwirkenden Mängeln und Ungereimtheiten gekommen. Warum lassen sie sich so schwer überwinden? Und wie wären sie, wenigstens schrittweise, aufzulösen?

Die zunehmende Unterwerfung dieses so wichtigen Bereichs der Daseinsvorsorge unter die Mechanismen und Verwerfungen einer auf Profit orientierten Kapitalverwertung ist wohl die wichtigste Ursache. Sie erklären viele der Mängel und Ungereimtheiten, wenn man genau hinsieht.

Diese Zusammenhänge aufzuklären, zu sortieren und zu machbaren Vorschlägen für eine Veränderung zu führen, war das Ziel unserer Tagung. 

Prof. Herbert Kreibich setzt in seinem einführenden Beitrag die krisenhafte Entwicklung des Gesundheitswesens in einen Zusammenhang mit der beschleunigten Entwicklung der Produktivkräfte bei bestehenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen in den letzten Jahrzehnten, mit den dadurch verursachten Krisen und mit den damit verbundenen Prozessen der Auseinandersetzung und der Wechselwirkung der menschlichen Tätigkeit und Existenz mit der umgebenden Natur. So haben sowohl die Entwicklungen der Informations- und Robotertechnik als auch die dynamische Entwicklung in den biologischen Wissenschaften insbesondere in den Biotechnologien große Wirkungen auf die modernen gesellschaftlichen Strukturen und nicht zuletzt auf die Medizin. Nicht nur die laufende privatkapitalistische Aneignung und profitable Ausnutzung solcher modernen Erkenntnisse, verkörpert z.B. durch Bill Gates, Mark Zuckerberg, Elon Musk oder die Biotech-Eigentümer, verschärfen die gesellschaftliche Situation. Auch die weltweit zu beobachtenden Folgen auf das alltägliche Arbeitsleben der Menschen mit ihrer veränderten Rolle und Stellung im Produktions- und Reproduktionsprozess oder neue und andauernden psychischen Überlastungserscheinungen tragen dazu bei.

Das führt zu der Frage, ob die Profiterzeugung aus derartigen privaten Einrichtungen überhaupt noch geeignet ist, gesellschaftlich tragfähig zu sein. Das gilt für alle Bereiche der sogenannten Daseinsvorsorge. Kreibich zählt entscheidende Hemmnisse im gegenwärtigen Gesundheitswesen auf, die gründlicher untersucht werden müssen und die bei politischem Willen durchaus reale Möglichkeiten zu positiven Veränderungen beinhalten. Er verweist auf die Leistungen und erfolgreiche Strukturen bei wesentlich geringerer Wirtschaftskraft im Gesundheitswesen der DDR, die auch darauf hinweisen, dass es Alternativen auch in der gesundheitlichen Betreuung gibt.  

Daniel Rapoport setzt sich mit einer über die Medizin hinausgehenden Problematik auseinander: Ob und wie gegenwärtig in der Bundesrepublik die Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre, nicht zuletzt die Art ihrer Förderung, geeignet sind, wirklich schöpferische Prozesse zu befördern und damit neue Erkenntnisse entstehen zu lassen.  Er charakterisiert in fünf Themenkomplexen bestehende Mängel und Hemmnisse für eine moderne und fruchtbare Wissenschaftsentwicklung.

Sie reichen von falschen Erwartungen an die Wissenschaft und einer missverstandenen „Ideologie der Nützlichkeit“. Er benennt die Grenzen einer Steuerbarkeit der Wissenschaft nur durch Geld und kritisiert das bürokratische Drittmittelsystem in der Wissenschaftsförderung. Er setzt sich mit einem eng verstandenen Leistungsprinzip in der Wissenschaft auseinander, weil sich in den üblichen Laufzeiten von einem bis zu drei Jahren ein wirklich schöpferischer Forschungsprozess oft nicht entfalten kann und „risikoaverses“ Forschen befördert wird. Er sieht eine Gefahr darin, wenn die sogenannte Grundlagenforschung und die angewandte Forschung nicht genügend voneinander abgetrennt werden. Schließlich stellt er fest, dass in unserem Land die Lehre zu einer ungeliebten Pflicht geworden sei. Längst aufgegeben sei der Anspruch, einen zusammenhängenden Überblick über ein Wissensgebiet zu vermitteln oder auch in Lehrbüchern darzustellen. Die universitäre Lehre wird immer mehr zu einem verschulten Massenbetrieb.  

Mit der Fülle seiner scheinbar sehr theoretischen allgemeinen Fragestellungen und Gedanken fordert er seine Zuhörerinnen in der Diskussion besonders heraus. Daniel Rapoport schließt mit fünf konkreten und pragmatischen Vorschlägen: Mehr Geld unmittelbar für die Lehre, Begrenzung der Größe von Forschungsteams, Räume für wissenschaftliche Debatten schaffen und den wissenschaftlichen Dialog fördern, Professorengehälter sollten zugunsten eines gemeinsamen Gehaltsniveaus sinken und schließlich mehr Zeit und Raum für das Schreiben von Lehrbüchern und Monographien.

Der Biochemiker Peter Kaiser zeigt, wie die rasante Entwicklung der Biotechnologie seit den 1970er Jahren wichtige Lebensbereiche der Gesellschaft verändert hat. Molekularbiologische und genetische Erkenntnisse haben zu neuen Methoden und Herstellungsverfahren gerade auch für die Medizin geführt. Im Vortrag werden die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten aufgeführt. Als neue Richtung hat sich die Synthetische Biologie entwickelt, mit deren Hilfe biologische Systeme erzeugt werde, die es in der Natur gar nicht gibt. So ist möglich geworden, mit modifizierter mRNA (Messenger-Ribonukleinsäure) Impfstoffe z.B. auch gegen den Erreger von Covid-19 zu entwickeln. Die Forschungen zur Entwicklung einer sogenannten Gen-Schere (CRISPR) sind aktuell. Mit deren Hilfe soll es möglich werden, die DNA als Träger des Erbgutes an definierten Stellen auseinanderzuschneiden. Ein Vorgang, der den Weg zur Erzeugung gentechnisch veränderter Organismen öffnet, die z.B. als Bakterien dauerhaft immun gegen bestimmte Phagen werden.  

All diese Entwicklungen werfen Fragen zur Biosicherheit und Missbrauch, zur Ethik, zum geistigen Eigentum auf. Dabei geht es nicht nur um Missbrauch durch Terrorismus. Die Kontrolle über die Herstellung und Anwendung all dieser Materialien erhält noch ein viel größeres Gewicht als die ohnehin in Kritik stehenden privaten kapitalistischen Verwertungsprozesse in der Pharmaindustrie.

Hartmut Reiners setzt sich als erfahrener Gesundheitsökonom mit der Behauptung auseinander, dass die weitere medizinische Versorgung nur auf dem Wege einer weiteren Privatisierung der Ressourcen in unserem Land zu bewältigen wäre. Es ist aber gerade die Zulassung von Privatisierungen vor allem im Krankenhauswesen und in den letzten Jahren zunehmend im ambulanten Bereich, die die Kosten erhöhen und gepaart mit den sogenannten Fallpauschalen fachlich falsche, den medizinischen Erfordernissen widersprechende Anreize generieren. Am Beispiel der sogenannten Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) wird das besonders deutlich, die allzu häufig, aber völlig unzutreffend als eine Fortschreibung der Polikliniken aus der DDR missdeutet werden. Reiners beschreibt, wie insbesondere durch Nutzung sogenannter lukrativer Fachgebiete eine Gewinnmaximierung erfolgt. Die Gewinne werden aber der weiteren medizinischen Betreuung der Bevölkerung objektiv entzogen. Es bedarf ohnehin einer Veränderung im System der privat niedergelassenen ärztlichen Praxen. Sie finden immer weniger Nachfolger. Der Anteil angestellter Ärzte unter den Medizinern steigt. Junge Mediziner haben andere Berufsvorstellungen und der Anteil von Ärztinnen ist inzwischen stark angewachsen.

Ein Vorschlag, der kurzfristig umsetzbar scheint, ist, dass freiwerdende private Arztpraxen durch gemeinsame Projekte der Kassenärztlichen Vereinigungen und der betroffenen Kommunen wieder in öffentlicher Verantwortung weitergeführt werden. Das ist eine Frage des politischen Willens. Reiners listet Erträge und Einkommen der Praxen auf. Für mich ist es – und das ist keine neue Frage --aus medizinischer Sicht schwer zu erklären und zu vermitteln, warum sich die Reinerträge der privaten Arztpraxen in Abhängigkeit von der jeweiligen Fachdisziplin z.T. gravierend unterscheiden. So differierte der Ertrag von Arztpraxen im Jahre 2019 zwischen 485 000 € Reinertrag (Radiologie), gut 300 000 € (Augen, Innere Medizin) und 200 000 € oder weniger (Kinder, Allgemeinmedizin, Neurologie/Psychiatrie). Einen vergleichbaren hohen Arbeitsfleiß und gleich hohe Qualifizierung unterstellt, ist das nicht zu rechtfertigen, aber ein „noli me tangere“ in der bundesdeutschen Diskussion. Ein einheitliches Krankenversicherungssystem für alle Bürger und die Reduzierung der privaten Krankenversicherung auf Zusatzversicherungen ist schließlich für Reiners ein Dreh- und Angelpunkt für weitere Verbesserungen im Gesundheitswesen.

Marianne Linkes Verweis auf die Gesundheitsdefinition der WHO und ihr Exkurs in die ältere und jüngere Geschichte der Krankenversicherung (seit Bismarcks Sozialgesetzgebung 1883) führt zu Ihrer Schlussfolgerung, dass gerade im Bereich der Gesundheit die gesellschaftlichen Erfahrungen und die Erfordernisse, d.h. besonders medizinisch-ethische und gesundheitspolitische Maßstäbe, von Generation zu Generation weitergegeben und immer wieder neu erstritten werden müssen. 73,6 Mio. Menschen (ca. 87% der Bevölkerung) sind in einer der 95 gesetzlichen Versicherungen krankenversichert. Dazu kommen noch die zahlreichen privaten Versicherungen. Der tragende Gedanke der paritätischen Finanzierung ist jedoch seit 20 Jahren systematisch aufgeweicht worden, zu Lasten der Versicherten mit verschiedensten Zuzahlungen oder Leistungskürzungen und anderen Rechenkünsten, die der Laie kaum erkennen kann.

Die Folgen der veränderten Krankenhausfinanzierung einschließlich der Privatisierung vieler vorher kommunaler Krankenhäuser werden dargestellt. So haben Kommunen als Folge ihrer finanziellen Engpässe mit der Überlassung ihrer Krankenhäuser an private Investoren objektiv und eigentlich wider bessres Wissen die Krankenhausversorgung ihrer Bürger den Kapitalinteressen unterworfen. Man muss, so Marianne Linke, die Entwicklung der Krankenhäuser und anderer medizinischer Einrichtungen der wirtschaftlichen Wettbewerbslogik wieder entziehen. Es sollte gesetzlich ausgeschlossen werden, erzielte Überschüsse und Gewinne dem Gesundheitssystem zu entziehen oder mit diesen Mitteln an der Börse zu spekulieren. Denn sie kommen aus Geldern der Versicherten, aus Beiträgen und Steuern. Eine Vereinfachung und Erweiterung der gesetzlichen Krankenversicherung für alle Bürger im Sinne einer Bürger-Versicherung ist notwendig und machbar, die auch die Beamten einbezieht – wobei deren Dienstherr analog dem Arbeitgeber in die Finanzierung der Krankenversicherung seiner Dienstkräfte einsteigt

Ellis Huber, der in der Zeit der Vereinigung Deutschlands in Berlin als streitbarer und engagierter Präsident der Ärztekammer agierte, erinnerte am Beginn seines Beitrags an eine Begegnung 1991 mit den Rapoports in ihrem Haus im Pankow und stellte fest, dass die nüchternen politischen Voraussagen von Mitja Rapoport über die Zukunft der gesundheitlichen Versorgung in Deutschland, insbesondere die Nichtübernahme guter Erfahrungen aus der DDR, sich leider bewahrheitet haben. In seiner bildhaften Sprache plädiert Huber für ein öffentlich finanziertes Gesundheitswesen für alle Menschen, das über Wirtschaftsinteressen der Einzelnen steht. Menschlichkeit ist wichtiger als Aktienkurse oder Bankkonten. Er sieht zurzeit eine problematische Spaltung zwischen einer sogenannten Indikationsmacht – Ärzte sagen was gemacht werden muss – und der ökonomischen Verantwortlichkeit auf der anderen Seite – Krankenkassen versuchen, das Geld ihrer Versicherten zu schützen. Das ist eine Sackgasse. Beide Momente sind nicht voneinander zu trennen und müssen integriert werden. Die jedoch von Professionen oder Institutionen aggressiv betriebenen Verteilungskämpfe um die Geldressourcen jeweils ohne Rücksicht aufeinander sind mit einer „Ökonomie von Krebszellen“ zu vergleichen. Geld und Machtinteressen als Antrieb für medizinischen Erfolg gehen über die Gesundheitsinteressen der Bevölkerung schamlos hinweg. Nur wer zahlen kann, bekommt schnelle Hilfe. So kolonialisiert der Kapitalismus in seiner Gier jetzt den Leib, nachdem die Kolonien abgeschöpft sind.

Huber definiert ein künftiges Gesundheitswesen basierend auf der Idee der Gemeinwohlökonomie, das das individuelle und soziale Wohl für alle sichert und dabei haushälterisch, also ökonomisch, mit den Ressourcen der Gesellschaft umgeht, Gesundheitskompetenz individuell wie sozial ausbildet und Gesundheit als Maßstab für wirtschaftliche wie gesellschaftliche Prosperität versteht.

Abschließende Diskussion

Die insgesamt fünf Stunden dauernde Tagung in vollbesetzten Saal der „Hellen Panke“ in Berlin, bot die Möglichkeit zu Nachfragen und Diskussion. Dabei wurden die Argumente der Vortragenden zur kritischen Lage mit konkreten Beispielen untermauert. 

Die Frage, warum sich die DDR bzw. die Ärzte und MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens nicht stärker gegen die Ignorierung und Nichtübernahme bewährter Strukturen gewehrt haben, nahm einen größeren Raum ein.

Drei Momente waren sicher wesentlich:

- Die unmissverständliche Botschaft, verbunden mit rechtlichen Regelungen, dass das bundesdeutsche System schnell und komplett eingeführt wird (das hieß z.B.: keine Perspektive für Polikliniken bzw. als angestellter Arzt).

- Durchaus wirkende Erwartungen und „Verlockungen“ über die Höhe des künftigen Einkommens, besonders bei Ärzten und auch Hoffnungen auf Beseitigung mancher Engpässe.

- Unzureichendes Wissen und geringes Selbstbewusstsein über die Stärken und Vorteile der DDR-Strukturen und die tatsächlichen Verhältnisse in der „alten“ Bundesrepublik.

Die sich aus den Vorträgen ableitende Liste der Vorschläge und Forderungen für Veränderungen in der gegenwärtigen Gesundheitspolitik ist beachtlich, von denen eine Reihe bei politischem Willen der Regierenden und der Körperschaften der Kassenärztlichen Vereinigungen, der Ärzte und Gesundheitsarbeiter umsetzbar wären, ohne die Grundordnung der Bundesrepublik in Frage zu stellen.

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[1] Prof. Bernard Lown (1921–2021), amerikanischer Herzspezialist, Nobelpreis 1985, als Mitbegründer der internationalen Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg (IPPNW) in: Die verlorene Kunst des Heilens, Suhrkamp.

[2] Tagung zum 110. Geburtstag von Inge Rapoport am 3. September 2022, Tagung zur Kindergesundheit am 13. Mai 2023.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2024