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Heft 237: Paradoxer Sozialismus und Opposition

Von: Ulrich Knappe

Heft 237: Paradoxer Sozialismus und Opposition

Pankower Vorträge, Heft 237, Berlin 2022, 43 Seiten
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Das vorliegende Heft enthält den verschriftlichten und erweiterten Vortrag des Autors im Verein „Helle Panke“ vom 6. April 2022. Unter dem Titel „Was für ein Sozialismus war der ‚real existierende‘? Über Opposition im paradoxen Sozialismus“ sprach Ulrich Knappe in der Veranstaltungsreihe „Vielfalt sozialistischen Denkens“ über Entwicklungsfaktoren des sowjetischen, „paradoxen“ Sozialismus, über den Charakter des politischen Systems in der Sowjetunion und der DDR sowie über Rolle und Bedingungen oppositionellen Handelns.
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Autor: Ulrich Knappe

Ulrich Knappe ist Diplomgesellschaftswissenschaftler und Philosophiehistoriker. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen der Sozialismus, die Philosophiegeschichte und die Entwicklung von Auffassungen zu Frieden und Krieg.
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Inhalt

Ulrich Knappe
Paradoxer Sozialismus und Opposition

      Teil I  –  Paradoxer Sozialismus  
                   
1. Geschichtliche Voraussetzungen, die die Weichen  in einen    
                        paradoxen Sozialismus stellten
                        1.1   Die Staatsbürokratie
                        1.2   Die russische Dorfgemeinde 
                  2. Die russische Dorfgemeinde – eine Kontroverse zwischen               
                      Marx und Lenin      
                  3. Die Entwicklung von Lohnarbeit in der Sowjetunion – 
                      ein Paradoxon
                 4. Das Entstehen von Kapitalersatz in der Sowjetunion –    
                     ein Paradoxon
                 5. Die gefesselte WERTform der Ware im Sozialismus – 
                     das wesentliche Paradoxon

        Teil II – Opposition in der Sowjetunion 
                     1. Soll die Macht geteilt werden? 
                     2. Kann man die proletarische Revolution fortsetzen, 
                         wenn das Proletariat die Fortsetzung ablehnt?
                    3. Rechte und linke Opposition in der Phase der NÖP
                    4. Totalitarismus und Opposition
                    5. Was lässt sich bis hierher aus der historischen
                        Darstellung  verallgemeinern?

     Teil III – Opposition in der SBZ und der DDR – 
                   Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Sowjetunion                   

                   1. Soll die Macht geteilt werden?
                   2. Kann man den Sozialismus aufbauen, wenn das eigene Volk
                       diesen Aufbau ablehnt?
                   3. Opposition in der späten DDR

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LESEPROBE

Ulrich Knappe

Paradoxer Sozialismus und Opposition

Stellt man sich die Frage, ob Sozialismus und Opposition einen Zusammenhang haben, so liegt man sicherlich nicht falsch, wenn man das grundsätzlich bejaht und an eine Gesellschaftsordnung der Mitbestimmung und der Freiheit denkt. Das große Experiment machte es doch zwingend notwendig, Alternativen abzuklären und im breiten gesellschaftlichen Konsens Entwicklungswege zu beschreiten. Oder etwa nicht?

Blickt man in die jüngere Geschichte zurück, so erkennt man eine andere Wirklichkeit. Oppositionelles Denken und Handeln war im realen Sozialismus nicht nur unerwünscht, sie wurden darüber hinaus verfolgt und hart sanktioniert.

Der Inlandgeheimdienst der DDR beschäftigte sich mit den theoretischen Überlegungen Rudolf Bahros, deklarierte ihn zum Feind, und nur deshalb, weil er das bestehende Gesellschaftssystem anders als offiziell vorgegeben interpretierte.

Robert Havemann fiel in Ungnade, weil er für mehr Gedankenfreiheit eintrat und sich gegen die Dogmatisierung der Wissenschaften zur Wehr setzte. Mit ihrer oppositionellen Haltung waren Bahro, Havemann, Harich (und viele andere Oppositionelle in der DDR) auch in die politischen Ränkespiele ihrer Zeit eingebunden. Sie gerieten in Widerspruch nach außen, aber auch zu sich selbst und lebten zwischen Anpassung und Aufbegehren, zwischen Selbstgewissheit und Selbstzweifeln, zwischen Euphorie und Entmutigung.

Bleibt festzuhalten: So einfach scheint sich der Zusammenhang von Sozialismus und Opposition nicht darstellen zu lassen.

Eine Möglichkeit, ihm auf die Spur zu kommen, liegt meiner Meinung nach darin, sich in einem ersten Schritt kritisch mit der Begrifflichkeit „des Sozialismus“ zu befassen. Viel zu schnell und oberflächlich wird heute von Kommunismus und Sozialismus gesprochen und das Scheitern eines Entwurfes zum Anlass genommen, das gesamte Gebilde ungeprüft zu verwerfen.

Sollte man nicht fragen, welcher Sozialismus Ende der 1980er Jahre scheiterte und wie sich sein Entwicklungsweg in oppositionellem Denken und Handeln spiegelte?

Ich möchte nicht auf einen theoretischen Exkurs abstellen, wenn es um die Definition von Sozialismus geht. Das wurde schon vielfach unternommen und hier kann ich kaum Neues beisteuern.

Was aber weit weniger untersucht wurde (und das ist paradox), ist die wirkliche Gestalt dessen, was sich Sozialismus nannte. Rudolf Bahro hatte hier in den 1970er Jahren einen Anfang gemacht und mit dem Begriff des real existierenden Sozialismus eine „nicht kapitalistische Ausbeutergesellschaft“, eine neue, zwischen Kapitalismus und Sozialismus liegende Gesellschaftsordnung, zu umreißen begonnen.

Die Erfahrung des Scheiterns konnte er nicht haben und er suchte noch nach einer so notwendigen Alternative zum Bestehenden.

Ist es nicht im Sinne Rudolf Bahros, jetzt, da das Scheitern Realität geworden ist und eine Fülle an Material von den Historikern aus den Archiven ausgegraben wurde, den von ihm gesponnenen Faden neu aufzunehmen?

Teil I

Paradoxer Sozialismus

Paradox erscheint uns ein Gegenstand dann, wenn Tatsachen oder Zusammenhänge unserem für gültig angenommenen Wissensstand oder Erfahrungshorizont (plötzlich und unerwartet) zuwiderlaufen. Und da liegt in Bezug auf den Sozialismus das Problem: Da sich die modernen Sozialwissenschaften (die Historiker ausgenommen) der Aufarbeitung des realen Sozialismus verweigern, irrlichtern noch immer dogmatisierte marxistisch-leninistische Ideenkonstrukte durch die Welt, die als Vorurteile in die wissenschaftliche Diskussion einsickern und dadurch eine Auseinandersetzung mit einem „Pappkameraden“ befördern.

Zwei Vorbemerkungen möchte ich machen, bevor ich im ersten Teil meines Kapitels zur Skizzierung des paradoxen Sozialismus komme.

Erstens: Es ist ein Fakt, dass die ersten Schritte hin zu einer Gesellschaft, die sich sozialistisch nannte, im revolutionären Russland und der Sowjetunion gegangen wurden. Man kommt also im Zuge einer historischen Betrachtungsweise nicht umhin, sich diesen spezifisch russischen Voraussetzungen und Entwicklungswegen zuzuwenden. Der deutsche demokratische Leser wird im Verlaufe dieses Exkurses zu Recht einwerfen; aber das hat es doch alles so in der SBZ und der DDR nicht gegeben!

Das stimmt. Aber das, was es gegeben hat, ist in seiner abgeschwächten Form ohne das sowjetische Vorbild unerklärlich. Sicherlich, die DDR war keine Sowjetrepublik und sie war zu einer eigenständigen Entwicklung fähig. Löst man das jedoch von jenen Ereignissen los, die im Vorfeld die Entwicklungen in der Sowjetunion betrafen, betritt man zweifelsfrei den Holzweg.

Zweitens: Wenn ich vom Scheitern rede, dann meine ich den sowjetischen Gesellschaftsentwurf, in den auch die DDR fest eingebunden war. Über den chinesischen Sozialismusentwurf spreche ich ausdrücklich nicht. Den chinesischen Kommunisten ist es gelungen, sich rechtzeitig vom niedergehenden sowjetischen Sozialismus abzukoppeln und einen neuen, von vielfältigen Ambivalenzen geprägten sozialistischen Entwicklungsweg zu beschreiten.

   1. Geschichtliche Voraussetzungen, die die Weichen 
        in einen paradoxen Sozialismus stellten

     1.1 Die Staatsbürokratie

Betrachtet man die Zeitspanne von 1917 bis 1921, so zeigt sich als revolutionäres Übel die Entfaltung einer bolschewistischen Bürokratie. Eigentlich sollte die Macht in den Händen der demokratisch gewählten Räte der Arbeiter- und Bauerndeputierten liegen. Tatsächlich konzentrierten sich immer mehr staatliches Industrieeigentum sowie Verteilungs- und Aufsichtsfunktionen, sprich Macht, in den Händen nicht gewählter, staatlich organisierter Institutionen. Diese wuchernden Instanzen gab es nicht nur im Zentrum, sondern sie trieben ihre Ableger innerhalb kürzester Zeit bis in die Peripherie. Woher kamen diese Hunderttausenden, qualifizierten Staatsdiener? Die kommunistische Partei kann sie nicht gestellt haben, denn sie zählte 1917 kaum 24.000 Mitglieder. In der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung wird von einer Zerschlagung des zaristischen Staatsapparates in den Oktobertagen berichtet, denn das hatte Lenin als die wichtigste Lehre des Marxismus vom Staat ausgearbeitet.1 Tatsächlich hat es diese Zerschlagung nur in der Staatsspitze, nicht aber in seiner Breite, gegeben. Am 26. Oktober 1917 überraschten die Bolschewiki die Delegierten des Zweiten Allrussischen Sowjetkongresses mit der Nachricht: Wir haben gestern Nacht, ohne Euer Zutun, eine neue, rein bolschewistische Regierung gebildet. Ihr könnt nun diskutieren, aber die Macht haben wir in der Hand. – Einmal davon abgesehen, dass damit die Sowjets desavouiert und einem Bürgerkrieg Vorschub geleistet wurde, blieb der neuen Regierung gar nichts anderes übrig, als auf die vorhandenen Staatsdiener zurückzugreifen. Einen Instanzenzug in die unteren Ebenen hatten sie nicht und sie wären keinen Tag an der Macht geblieben, hätten sie nicht auf einen liberalen Teil der zaristischen Bürokratie in den unteren Ebenen setzen können.2 In der Folge verschmolzen liberale zaristische Staatsdiener und bolschewistische Funktionäre zu einem Amalgam. Geschmiedet wurde die Legierung durch verschiedene historische Prozesse. Der wichtigste von ihnen bestand in der Bildung von Eigentum an Produktionsmitteln in Staatshand. Aber auch am Umgang mit der Opposition formierte sich dieses neue Geschichtssubjekt.

    1.2  Die russische Dorfgemeinde

Ökonomisch besteht das Kernelement einer sozialistischen Entwicklung zweifelsfrei darin, die Entwicklung von gemeinschaftlichem Eigentum an Produktionsmitteln zu ermöglichen und zu gestalten. Die Marx`sche Sicht der Dinge hatte hier ein westeuropäisches Spezifikum vor Augen, nämlich die Existenz privaten, kapitalistischen (industriellen) Eigentums in den Händen einer national geformten Eigentümerklasse.

Dieses Eigentum (und nur darauf hatte sich der Marxismus ausgerichtet) galt es zugunsten der Gemeinschaftlichkeit aufzulösen, was nur über die Enteignung der Produktionsmittel besitzenden Industrie-Bürger in einer Revolution für möglich gehalten wurde.

Für den Fall, dass eine sozialistische Revolution ohne nationale bürgerliche Klasse und daher ohne nationales kapitalistisches Industrieeigentum auskommen müsste, gab es weder theoretische Überlegungen, noch praktische Erfahrungen. Noch weniger hatte man sich in marxistischen Kreisen damit beschäftigt, in einer sozialistischen Revolution gemeinschaftliches Eigentum vorzufinden. Nun bescherte die Geschichte den Bolschewiki gleich beide Danaergeschenke gleichzeitig.

Um zu begreifen, welcher Sozialismus in der Sowjetunion tatsächlich entstand, muss man sich meiner Meinung nach diesen beiden paradox anmutenden aber historisch konkret existierenden russischen Besonderheiten zuwenden.
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Fußnoten
[1]  Lenin, W. I.: Staat und Revolution, LW Bd. 25, Berlin, DDR: Dietz Verlag, 1959, S. 418, 421, 427, 444.
[2]  Hildermeier, M.: Geschichte der Sowjetunion, München, BRD: C.H.Beck, 1998, S. 120.

  • Preis: 4.00 €
  • Helle Panke
  • 43 Seiten
  • Erscheinungsjahr: 2022