Publikationen

Suchmaske
Suche schließen

Heft 236: Nutzen von Erfahrungen für eine zukunftsfähige sozialistische Alternative

Von: Klaus Steinitz, Alexandra Wagner, Loren Balhorn

Heft 236: Nutzen von Erfahrungen für eine zukunftsfähige sozialistische Alternative

Grundlage des Heftinhalts sind Ausführungen der Referenten auf einer Veranstaltung der "Hellen Panke".

52 Seiten

---------------------------------------------------

LESEPROBE

     Klaus Steinitz:  Nutzen von Erfahrungen für eine zukunftsfähige sozialistische Alternative

1.   Bedeutung der differenzierten gesellschaftlichen Erfahrungen  des gescheiterten Staatssozialismus für eine neue, erfolgreiche und zukunftsfähige sozialistische Alternative

Im Folgenden werden die Erfahrungen der DDR aber auch der anderen Staaten des „Realsozialismus“ ausgewertet und auch wichtige Erfahrungen aus der Entwicklung des aktuellen Kapitalismus berücksichtigt.(1) 

Beginnen wir mit drei Überlegungen, um die Problematik einer sozialistischen Alternative zu charakterisieren:

  1. Der Realsozialismus ist gescheitert. Das Scheitern ist vor allem auf innere, strukturelle Defizite, Schwächen und Fehlentwicklungen zurückzuführen. Sie betreffen entscheidende Seiten der gesellschaftlichen Verhältnisse des Realsozialismus wie die autoritären Machtstrukturen, die Schwäche demokratischer und zivilgesellschaftlicher Strukturen, die unzureichende Entfaltung persönlicher Freiheitsrechte, die schwache reale Vergesellschaftung des Eigentums an den Produktionsmitteln durch die Dominanz der Verstaatlichung dieses Eigentums, Schwächen in der Entwicklung der Produktivkräfte und der Effizienz sowie die damit zusammenhängenden Probleme in der Versorgung der Bevölkerung.
    Zugleich wurden in der DDR und den anderen realsozialistischen Ländern erhaltenswerte Leistungen für das Leben und Arbeiten der Bevölkerung erreicht. Auf diese wird an anderer Stelle noch zurückzukommen sein.
    Bei allen Untersuchungen und Diskussionen zur Ausarbeitung einer sozialistischen Transformationsstrategie muss davon ausgegangen werden, dass es bisher kein Beispiel gibt, in dem die Zielstellungen eines demokratischen und freiheitlichen, ökologisch nachhaltigen und effizienten Sozialismus realisiert und stabil reproduziert wurden.
  2.   Der Kapitalismus hat sich über mehr als zwei Jahrhunderte als äußerst flexibel und anpassungsfähig erwiesen. Seine Entwicklung ist seit dem Siegeszug des Neoliberalismus in enger Verflechtung mit einer weltweiten Durchsetzung des Finanzmarktkapitalismus durch eine krisenhafte Entwicklung gekennzeichnet, die zunehmend alle Bereiche erfasst. Sie ist vor allem durch die Verschärfung der ökonomischen, sozialen, ökologisch-umweltpolitischen und globalen weltwirtschaftlichen und -politischen Konflikte gekennzeichnet, die die weitere Existenz der Menschheit gefährden. So wichtig einzelne Reformen auf verschiedenen Gebieten auch sind, können sie jedoch diese Konflikte und Probleme nicht lösen, solange sie nicht dazu führen, dass deren tiefere, eigentliche Ursachen überwunden werden. Diese ergeben sich vor allem aus den privatkapitalistischen Eigentumsstrukturen, die zu einer Wirtschaftsweise und Wirtschaftsstruktur führen, die auf höchstmögliche Profite gerichtet sind, auf einer ständig erweiterten Kapitalakkumulation und weiter ansteigender sozialer Ungleichheit und Unsicherheit sowie auf einer zunehmenden globalen Machtkonzentration transnationaler Konzerne und Finanzinstitutionen beruhen.
  3. Die Transformation zu einer nichtkapitalistischen Alternative ist also dringender denn je. Sie kann heute und zukünftig nur über verschiedene Stufen als schrittweise Transformation im Kapitalismus und als weitergehender Prozess über den Kapitalismus hinaus in Richtung einer neuen sozialistischen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts realisiert werden. (Vgl. hierzu u.a. Klein 2013) Sie beruht notwendigerweise auf der Prämisse, dass die Fehlentwicklungen im Realsozialismus nicht dem Sozialismus immanent sind, sondern sich auf der Grundlage einer wissenschaftlich begründeten Strategie und einer klugen Politik vermeiden lassen.
    Dabei dürfen jedoch die Schwierigkeiten und Probleme, insbesondere die Versuchungen der Machtkonzentration und eines darauf beruhenden Machtmissbrauchs sowie die Einschränkung von Freiheitsrechten und die unzureichenden Voraussetzungen tatsächlicher Mitbestimmung der Menschen sowie insgesamt die Gefahren für Fehlentwicklungen nicht unterschätzt werden. Es geht um eine bewusste Gestaltung der sozialistischen Transformation, um einen Weg, der bisher durch hohe Komplexität, große Schwierigkeiten, viele unterschiedliche Möglichkeiten und auch starke Widersprüche gekennzeichnet war und auch in Zukunft gekennzeichnet sein wird.
    Als unerlässliche Voraussetzungen für die vor uns liegenden Transformationsprozesse müssen wir zum einen die Defizite und Fehlentwicklungen des Realsozialismus gründlich analysieren und die Erfahrungen auswerten, wie Fehler entstehen, um sie soweit wie möglich zu vermeiden. Zum anderen gilt es zu lernen, die einmal beschlossenen Aufgaben und Maßnahmen stets kritisch zu betrachten, um möglichst frühzeitig Schwächen und Fehler aufzudecken, sie gründlich und öffentlich zu diskutieren und notwendige Korrekturen vorzunehmen.

Die aus der 40-jährigen DDR-Entwicklung vorliegenden Erfahrungen beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und bei deren Scheitern sind unverzichtbare Erkenntnisgrundlagen für die Gestaltung einer lebens- und zukunftsfähigen Alternative zum Kapitalismus.

 Schon zu dieser Feststellung gibt es jedoch unter linken Theoretikern Meinungsverschiedenheiten. Einige lehnen es ab, Erfahrungen als Erkenntnisquellen für die Gestaltung der Zukunft anzusehen, weil sie sich auf die Vergangenheit, d.h. auf schon abgelaufene Prozesse beziehen, die nicht mehr verändert werden können. Auf die Frage eines Reporters, ob die SPD nicht besser kurz recherchiert hätte, bevor sie ein geklautes Wahlkampfmotto verwendet, das ihr nun schadet, antwortete Peer Steinbrück im Wahlkampf 2013: „Hätte, hätte Fahrradkette“ Wenn wir vom Nutzen von Erfahrungen sprechen, geht es nicht darum, darüber zu philosophieren was passiert wäre, wenn man damals etwas anderes getan hätte. Bei der Auswertung von Erfahrungen steht im Vordergrund, die richtigen Schlussfolgerungen für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen. Das bezieht sich immer sowohl auf zugelassene Fehler oder falsche Einschätzungen der Situation und ihrer voraussichtlichen Veränderung, als auch auf unterlassene Maßnahmen und eine defizitäre Politik und Strategie.

 Sehen wir uns einige Aussprüche bekannter Persönlichkeiten an, die die Verschiedenheit der Interpretationsmöglichkeit von Erfahrungen bestätigen.

  • Auf Dinge, die nicht mehr zu ändern sind, muss auch kein Blick mehr zurückfallen, was getan ist, ist getan, und bleibt´s. (Shakespeare)
  • Es macht unser Leben reicher, wenn wir uns gegenseitig dabei helfen, aus Fehlern zu lernen und wieder zusammenzufinden. So ist es auch in der Geschichte und Politik. (Richard v. Weizsäcker)
  • Ein einziges Blättchen Erfahrung ist mehr wert als ein ganzer Baum voll guter Ratschläge. (Sprichwort)
  • Erfahrung besteht aus Anschauungen, die der Sinnlichkeit angehören, und aus Urteilen, die lediglich ein Geschäft des Verstandes sind.   (Immanuel Kant)
  • Erfahrung kann eine Führerin des Denkens und des Handelns sein, die durch nichts zu ersetzen ist, auch nicht durch angeborenen Intellekt. Das gilt insbesondere für das Gebiet der Politik. Keiner wird es raten, Konrad Adenauer ist der Autor. Daran wird deutlich: Leider sind kluge Worte nicht selten mit völlig entgegengesetzten Handlungen verbunden.
  • Wer etwas wert ist, den machen Erfahrung und Unglück besser.     (Pestalozzi)

Wenn hier unterschiedliche Erfahrungen betrachtet werden, so geht es nicht um die äußerst vielfältigen subjektiven Erfahrungen einzelner Individuen, sondern um gesellschaftliche Erfahrungen von Klassen, größeren sozialen Gruppen und Schichten.

Im Vordergrund der folgenden Analysen stehen die Erfahrungen der progressiven, linken sozialen Kräfte und Bewegungen, die sich für eine friedliche, lebenswerte, sozial gerechte und nachhaltige Zukunft für alle Menschen einsetzen. Dabei gibt es natürlich auch innerhalb dieser Klassen und sozialen Gruppen unterschiedliche Sichtweisen und Interpretationen.

Auch die Differenzierung der Erfahrungen nach unterschiedlichen Generationen spielt eine wichtige Rolle. (Siehe dazu auch die Beiträge von Alexandra Wagner und Loren Balhorn in diesem Heft.) Unter den linken kapitalismuskritischen Menschen verschiedener Generationen überwiegen meines Erachtens übereinstimmende Auffassungen zum Umgang mit den vorliegenden Erfahrungen. Bei bestimmten Erfahrungen gibt es jedoch generationsabhängige spezifische Schwerpunktsetzungen zu deren Rolle und der angestrebten Richtung ihrer Nutzung. Natürlich will die jüngere Generation die Positionen der Älteren sowohl hinsichtlich des gescheiterten Realsozialismus als auch einer zukünftigen sozialistischen Alternative nicht einfach übernehmen. Für sie spielen Themen wie Bedrohung der Umwelt, Klimakrise und sozial-ökologischer Umbau, Freiheitsrechte, größere demokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten, neue soziale Kommunikationsformen sowie Innovationen im Zusammenhang mit neuen Technologien besonders der Digitalisierung, eine herausragende Rolle.

Um die Erfahrungen der DDR zu nutzen, ist es zunächst notwendig sich in aller Kürze über den Charakter dieses sozialistischen Versuchs zu verständigen. Er beruhte vorwiegend auf dem sowjetischen staatssozialistischen Modell mit einer übermäßigen Zentralisierung aller Entscheidungen im Staat bzw. in der führenden Partei und bürokratischen Zügen der Leitung und Kontrolle. Daraus ergaben sich stark eingeschränkte ökonomische Spielräume für eine eigenverantwortliche wirtschaftliche Tätigkeit der Unternehmen und kaum Möglichkeiten für offene, kritische Debatten über anstehende Probleme und die Wege ihrer Lösung. Ebenso waren die Bedingungen für eine demokratische Einflussnahme auf die zu treffenden Entscheidungen und die Kontrolle ihrer Durchführung völlig unzureichend.

Die Entwicklung in der DDR wurde im Vergleich mit den anderen Ostblockstaaten auch durch einige wichtige Besonderheiten beeinflusst. Dazu gehörten insbesondere: (1) die Spaltung Deutschlands in zwei gegensätzliche, einander weitgehend feindlich gegenüberstehende Staaten mit allen sich daraus ergebenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und bewusstseinsmäßigen Konsequenzen, (2) die direkte Lage an der Grenze zwischen den beiden einander feindlich gegenüberstehenden Systemen, (3) ein relativ hoher Entwicklungsstand der Produktivkräfte im Vergleich zu fast allen anderen Staaten des sozialistischen Lagers, bei gleichzeitig beträchtlichen ökonomischen Rückständen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland.

Für die Beurteilung der wirtschaftlichen Rückstände der DDR gegenüber der Bundesrepublik, die in ihrer gesamten Lebenszeit bis zum Anschluss an die Bundesrepublik 1990 bestanden, spielt das äußerst unterschiedliche Ausgangsniveau der Wirtschaftsleistung der beiden Staaten eine wichtige Rolle. Infolge der hohen Belastungen Ostdeutschlands durch die Folgen des faschistischen Krieges – nach offiziellen Angaben entfielen über 90 % der Reparationszahlungen Deutschlands, vor allem als Demontagen von Produktionsanlagen und als Lieferungen aus der laufenden Produktion auf das Territorium der Sowjetischen Besatzungszone – betrug die industrielle Kapazität in Ostdeutschland 1948 etwa 50 % des Standes von 1936, in Westdeutschland lag sie dagegen in diesem Jahr schon über dem Stand von 1936. Daraus ergaben sich für die weitere ökonomische Entwicklung einschneidende Konsequenzen, die Investitionsquote erreichte z. B. nur die Hälfte der westdeutschen. (Zahlenangaben nach Roesler, 2006).

(1)  Die in diesem Heft analysierten Erfahrungen bei der Entwicklung des Realsozialismus hängen eng und in vielfältiger Weise mit den Problemen zur Bewertung der DDR- Entwicklung und ihrer Wirtschaftspolitik zusammen, die in vielen Heften der „Hellen Panke“ veröffentlicht wurden.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2021