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Heft 64: Neue Transformation im 21. Jahrhundert

Hintergründe, Vergleiche, Perspektiven

Von: Rolf Reißig

Heft 64: Neue Transformation im 21. Jahrhundert

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 64, 2021, 54 S.
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Autor:
Rolf Reißig

Prof. Dr. habil., Sozial- und Politikwissenschaftler, Mitbegründer und viele Jahre Leiter des Brandenburg-Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS e.V.).
Forschungen zunächst zur Transformation Ostdeutschlands und der deutsch-deutschen Vereinigungsgesellschaft und später zu Transformationen von Gesellschaften in Geschichte, Gegenwart und Zukunft; dazu zahlreiche Veröffentlichungen (jüngst Schüren Verlag Marburg).

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INHALT

1.  Ende der Geschichte oder Rückkehr der Transformation? 
2.  Transformation – eine begriffliche und inhaltliche Erklärung 
3.  Historische Transformationsfälle und -wellen 
4.  Neue Transformation im 21. Jahrhundert 
5.  Die neue Transformation im 21. Jahrhundert – eine sozial-ökologische Transformation 
6.  Sozial-ökologische Transformation als struktureller und kultureller Wandlungsprozess
7.  Wie kann eine solch weitreichende Gesellschafts-Transformation sich vollziehen
und wie reale Gestalt annehmen? 
8.  Heutige und frühere Transformationen im Vergleich – Erfahrungswerte und neue Erkenntnisse
9. Transformationen als Debatten und Diskurse 
10. Transformation als Zukunftsdenken 

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LESEPROBE 

(Literatur zu den Quellenangaben siehe Publikation)

Eine neue Transformation im 21. Jahrhundert

Hinter der Aussage „Neue Transformation im 21. Jahrhundert“ könnte auch erst einmal ein Fragezeichen stehen. Denn zu fragen wäre, ob angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen und globalen Spaltungen und Blockaden die These von einer neuen Transformation vielleicht doch eher Ausdruck einer Wunschvorstellung ist als Ausdruck einer realistischen Gegenwartsdiagnose und Zukunftsperspektive. Aber selbst wenn man von der Annahme einer neuen Transformation ausgehen würde, stellen sich zugleich eine Reihe offener Fragen:

Was bedeutet überhaupt „Transformation“ – und was Transformation moderner bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften, auch im Unterschied zu Evolution, Revolution und Reform? Was wären der sozioökonomische und soziokulturelle Inhalt und das Ziel einer solchen neuen Transformation? Wie sollte sich eine solche neue, sozial-ökologische Transformation realisieren? Wo liegen die Blockaden und wo die Voraussetzungen und Möglichkeiten eines solchen Übergangs vom „expansiven Steigerungsspiel“ zu ökologischer Nachhaltigkeit und sozialer Progressivität? Wer könnte sie tragen und gestalten? Welche entsprechenden Erfahrungswerte und Erkenntnisse vermitteln uns die bisherigen Gesellschafts-Transformationen der Neuzeit?

Und aktuell: Befördert oder hemmt die Corona-Pandemie eine solche gesellschaftliche Transformation?

Begeben wir uns mit diesem Text auf eine empirisch und theoretisch-konzeptionell begründete Antwortsuche auf diese und ähnliche Fragestellungen. Dabei werde ich die hier zu behandelnde Thematik problemorientiert, aber doch zugleich strukturiert und systematisch darzustellen versuchen.

Vielleicht hilft aber zunächst ein knapper zeithistorischer Rückblick.

1. Ende der Geschichte oder Rückkehr der Transformation?

Versetzen wir uns noch einmal kurz in die Zeit der Jahre 1989/90. Der Systemwettstreit zwischen der sozialistischen und der kapitalistischen Welt schien entschieden. Der Sozialismus implodierte, der Kapitalismus sah sich als Sieger.

Renommierte westliche, namentlich amerikanische Sozialwissenschaftler wie Francis Fukuyama (1992) sprachen vom „Ende der Geschichte“ und sein Kollege Daniel Bell (1998) meinte, die Frage nach den „Großen Gesellschaftsalternativen“ stelle sich jetzt nicht mehr. Das marktwirtschaftlich-kapitalistische und liberal-demokratische Gesellschaftsmodell des Westens habe sich nun endgültig und unwiderruflich durchgesetzt. Und die postsozialistische Transformation im Osten sei die letzte, gelungene Gesellschaftstransformation. Veränderungen innerhalb des westlichen Modells – Ja; aber Auseinandersetzungen um grundlegende gesellschaftliche Alternativen, um substanziell Anderes – Nein! Und das war damals gesellschaftliche Grundstimmung und dominierte auch die westlichen Sozialwissenschaften.

30 Jahre später zeigt sich ein anderes Bild.

Das westliche Gesellschaftsmodell wurde nicht – wie verkündet – zum weltweit nachzuahmenden Zukunftsentwurf. Ja, die westliche Demokratie erodierte gar und populistische, autoritäre Bestrebungen gewannen an Einfluss, bis in die Staatsspitzen hinein.

Die Verheißung des Neoliberalismus, Privatisierung, Deregulierung, Individualisierung (mehr Markt und immer weniger Staat, soziale Regulierung und Mitbestimmung) führten zu mehr Wachstum, mehr Wohlfahrt und mehr individueller Freiheit – erwiesen sich nach manchen Erfolgsmeldungen letztlich als Blasen. Den Schnittpunkt in dieser Entwicklung bildete die tiefe weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009, die das kapitalistische System akut gefährdete und auch die dominierenden Eliten arg verunsicherte.

Zunehmende Protestbewegungen (u. a. weltweite Occupy Wall Street-Bewegung) und Suchprozesse nach gesellschaftlichen Alternativen waren die Folge.

Mehr noch, das eigentlich bereits verabschiedete Thema Transformation – und nun als Transformation des westlichen Modells – kehrte in die Zeitgeschichte zurück. Die Sozialwissenschaften waren damit auf ganz neue Art und Weise herausgefordert und mussten sich neu erfinden, sich neuartigen Sozial- und Lebensformen zuwenden.

In einem widerspruchsvollen Prozess bildete sich ein wissenschaftlicher und öffentlicher Transformationsdiskurs heraus. Die Rede war von einer „Gesellschafts-Transformation im 21. Jahrhundert“ (Reißig 2009), von einer „Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ (WGBU 2011). Und der Club of Rome setzte sein kritisches Manifest von 1972 („Grenzen des Wachstums“) fort mit dem Bericht „2052. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre“ (Randers 2012).

Der Aufstieg des Begriffs „Transformation“ wurde zum Symbol eines gewandelten Zeitgeistes, in dem das Gefühl notwendiger Wandlungen und Veränderungen sich ausdrückt. Und auch in der linken Bewegung wurde der Transformationsbegriff als Alternative zum alten Streit um Reform oder Revolution übernommen, aber nicht schon inhaltlich-strategisch gefüllt.

Der Begriff Transformation steht seitdem auch für alle möglichen Vorstellungen von Wandlungen, Veränderungen. Und dies ist nicht selten bis heute der Fall. Deshalb ist begriffliche Klarheit eine Voraussetzung für die ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema „Transformation“ sowohl in Theorie als auch in Praxis.

2. Transformation – eine begriffliche und inhaltliche Erklärung

Transformation ist abgeleitet vom lateinischen „transformare“ und bedeutet „umformen“ bzw. „verwandeln“. In diesem Sinne ist es tatsächlich ein Alltagswort, denn wo wird nicht etwas umgeformt oder umgewandelt. Das gilt natürlich auch für Gesellschaften und zumal für moderne. Von „Transformation“ und „Wandel“ reden heißt zuerst und vor allem „Entwicklung“ denken.

„Sozialer Wandel“ ist gewissermaßen der zentrale Begriff der Soziologie. Unter sozialem Wandel wird hier in der Regel ein solcher Prozess von Veränderungen in den Strukturen eines sozialen Systems verstanden, der typische Merkmale des Systems betrifft. Veränderungen, die Abweichungen von relativ stabilen Zuständen beinhalten (Zapf 1994: 11 ff.). Sozialer Wandel umfasst damit nicht jede Veränderung, sondern jene, die auf typische Elemente eines Sozialsystems abstellen. Es geht hierbei aber doch um Wandel im sozialen (Ordnungs-)System und nicht so sehr um Wandel d e s Ordnungssystems.

Sozialer Wandel vollzieht sich jedoch auf zwei Ebenen: Zum einen sozialer Wandel, auch in tiefgreifender Form, innerhalb der gegebenen Prozess- und Ordnungsstrukturen, innerhalb des dominierenden Produktions- und Sozialmodells. Das ist der Normalfall sozialen Wandels in der Moderne. Zum anderen sozialer Wandel, der auf Umwandlung dieser Prozess- und Ordnungsstrukturen, des dominierenden Produktions- und Sozialmodells, des bislang gängigen Entwicklungs- und Deutungsmusters zielt und Möglichkeiten des Übergangs zu einem neuen Entwicklungspfad, zu einem neuen Produktions- und Sozialmodell eröffnet. Dies ist der Sonderfall sozialen, gesellschaftlichen Wandels.

Für diesen Fall sozialen Wandels, gesellschaftlicher Umformung steht der Begriff „Transformation“. Mit Transformation ist also in diesem Sinne immer ein besonderer Typ sozialen Wandels, ein spezifischer Fall gesellschaftlicher Entwicklung gemeint. Und mit Transformation wird so auch ein ganz spezifischer Raum, Ort und Zeitabschnitt im evolutionären Prozess sozialen Wandels erfasst – der des Übergangs, der Umwandlung zu etwas substanziell Neuem.

Transformation als besonderer Typ sozialen bzw. gesellschaftlichen und historischen Wandels ist durch drei Merkmale charakterisiert:

a) durch gesellschaftlichen Pfadwechsel statt bloßer Modifikation des längst eingeschlagenen Pfades;

b) durch eingreifendes, gestaltendes Handeln von Akteuren, mit dem sich im Kontext evolutionärer, nichtlinearer Entwicklungsprozesse Grundstrukturen und Institutionen der Gesellschaft sowie Lebensweisen der Menschen verändern, und

c) durch Orientierungen auf Zukunft, jedoch nicht als rationale Umsetzung eines feststehenden Masterplanes, sondern als offener Suchprozess nach gesellschaftlichen Alternativen in einem neuen Möglichkeitsraum unterschiedlicher Optionen.

Unter Transformation verstehe ich also einen Prozess evolutionärer Selbstveränderung der Gesellschaft und tiefgreifender wirtschaftlicher, politischer, sozialer Veränderung und Neuschöpfung der Gesellschaft, der zugleich eine Sache von Konflikten und gesellschaftlichen Kämpfen ist.

Mit diesem Verständnis von Transformation wird zugleich der Unterschied zum Begriff der „Evolution“ deutlich, der gesellschaftlichen Wandel vor allem als eigendynamischen und nichtintendierten Wandel und ohne Gestaltungswille reflektiert. Und ebenso zum Begriff der „Revolution“, der in der Regel eher für den abrupten Bruch mit der Vergangenheit, für einen radikalen politischen Systemwechsel steht. Im Unterschied zum Begriff der Revolution betont der Begriff Transformation mehr den Entwicklungsgedanken, die Ereignisgeschichte, die Entstehung des Neuen auch schon im Alten, die Kontingenz, die Offenheit der Prozesse, die verschiedensten Formen und den Verzicht auf Mystifizierungen und Heilserwartungen.

Der Begriff „Transformation“ unterscheidet sich auch vom Begriff „Reform“, der eine spezifische Form von Veränderungen im bestehenden Ordnungs- und Gesellschaftsmodell markiert (progressiv, aber auch restaurativ).

Und Transformation ist auch von „Transition“ zu unterscheiden. Von Transition sprechen wir, wenn es um einen Wechsel politisch-institutioneller Ordnungen, Regime geht, der als gesteuerter Prozess handelnder Akteure verläuft (z. B. die Demokratisierungswellen in Südeuropa und Lateinamerika in den 1970er und besonders 1980er Jahren).

Diese hier vorgeschlagene Definition und Konzeptualisierung des Verständnisses von Transformation hebt sich von Überdehnungen ab. D. h. Transformation ist nicht auf alle Formen sozialen Wandels, gesellschaftlicher Veränderungen – z. B. demografischer Wandel, Wandel der Sozialstrukturen, Wandel der politischen Kultur oder die Digitalisierung – zu beziehen, sondern nur auf jene Prozesse des Übergangs, die zu neuen Pfaden und Modellen wirtschaftlicher, sozialer, politischer und kultureller Entwicklung führen.

Leider ist es heute auch in der Transformationsliteratur und -dis-kussion üblich geworden, strukturelle Wandlungen (wie Globalisierung, Ökologisierung, Digitalisierung) oder einzelne progressive Wandlungen im heute dominierenden (marktliberalen) Entwicklungspfad (z. B. Umweltschutz, Sozialpolitik, Minderheitenschutz) als „Transformation“ oder „Transformationsprozess“ zu bezeichnen. Damit kann aber der Transformationsbegriff schnell beliebig werden und seinen Sinn als markante Charakterisierung des Übergangs zu einem neuen Entwicklungspfad, zu einer neuen gesellschaftlichen Entwicklungslogik verlieren. Da Transformation als Übergangsprozess natürlich stets in vorausgehende Wandlungsprozesse eingebettet ist, sind diese auf jeden Fall in die Beobachtung und Analyse gesellschaftlicher Transformation einzubeziehen. Doch stellt sich dann die freilich nicht immer leicht zu beantwortende Frage, welche Prozesse dieser komplexen Wandlungen im gegebenen Entwicklungspfad und Ordnungssystem tendenziell bereits einen Richtungswandel anzeigen und einer neuen gesellschaftlichen Entwicklungslogik entsprechen. Denn Transformation ist – wie gesagt – ein Prozess, in dem das Neue auch bereits im Alten entsteht.

Und diese Definition, dieses Verständnis von Transformation grenzt sich zugleich von solchen Einengungen eines Transformationsbegriffs und -konzepts ab, wo Transformation vor allem als Prozess verstanden wird, der vor allem „imitative Merkmale“ aufweist (Kollmorgen/Mer-kel/Wagner 2015: 12).

Diesem hier vom mir charakterisierten neuen Transformationsverständnis liegt ein struktur- und handlungstheoretischer Ansatz zugrunde. Es geht hierbei um einen mehrdimensionalen, aber deutlich entwicklungs- und handlungstheoretisch fokussierten Erklärungsansatz, der – in Anlehnung auch an die Ansätze der Gesellschaftstheoretiker Marx, Weber, Schumpeter, Polanyi – die Entwicklung und Transformation moderner industriell-kapitalistischer Gesellschaften historisch und aktuell in den Blick nimmt. Das schließt zugleich institutionen- und akteurs-theoretische, regulations-, hegemonie- und kulturtheoretische Ansätze (vgl. auch Reißig 2009: 49–58) ein.

3. Historische Transformationsfälle und -wellen

Um den bisherigen historischen Transformationsfällen der Neuzeit auf die Spur zu kommen, bot sich an, mit dem letzten Drittel des 18. und dem ersten/zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zu beginnen. Denn hier vollzieht sich eine tiefgreifende historische Zäsur (Middell 2008: 196), die mit der Industriellen Revolution in England und der damit einhergehenden Herausbildung der industriell-kapitalistischen Produktionsweise sowie mit der Großen Französischen Revolution und dem damit beginnenden Projekt der Moderne und dessen Leitidee von Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit zusammenhängt. Es ist eine historische Zäsur, die den Boden bereitete für die nachfolgenden wissenschaftlich-technischen, ökonomischen, politischen, sozialen und ökologischen Entwicklungen, Krisen, Brüchen und Umwandlungen, die bis heute so oder so wirksam sind.

Die Beobachtung dieser weltgeschichtlichen Entwicklung geht nicht davon aus, „dass sich gewissermaßen ein Sinn der Weltgeschichte immer stärker durchsetzt und von daher die Welt entschlüsselt werden kann“ (Middell 2008: 199). Sie lässt sich vielmehr von der Kontingenz der Entwicklung, der Entfaltung unterschiedlicher Konfliktstrukturen, dem widerstreitigen Handeln vielfältiger Akteure leiten. Geschichte – nicht als Erwartung von „Endzuständen“, sondern als offener Prozess, in dem jedoch spezifische Triebkräfte, Mechanismen, Entwicklungsformen sichtbar werden. So vollzieht sich z. B. der evolutionäre soziale Wandel permanent, die Formen und Mechanismen dieses Wandels aber unterscheiden sich – in Gestalt von Reformschüben, von Revolutionen und von Transformationen (s. auch Eisenstadt 1982: 75 f.). Die Frage nach dem Warum und Wie dieser Entwicklung ist gerade für den Transformationsforscher von Interesse. Und hierbei besonders auch der Umstand, dass es vor allem Transformationen sind, die gerade in der „westlichen Moderne“ eine herausgehobene Rolle spielen (ebd.). Dabei geht auch diese Studie davon aus, dass es nicht die eine (westliche) Moderne gibt, sondern die globale Welt verschiedene Formen von Moderne kennt, die miteinander durch Wechselwirkung verbunden sind.

Eine solche Offenheit der Herangehensweise erfordert entsprechende theoretische Konzepte. Das bestimmt auch das Herangehen des Autors dieser Arbeit an das historische und aktuelle Transformationsgeschehen (Reißig 2009: 20–28, 45–66; 2019a: 15–26). Nur in der Einheit von Empirie und Theorie sind verlässliche Aussagen und Deutungen möglich.

Das betrifft auch die Aussagen zu den historischen Transformationsfällen und dass diese sich in Form historischer Wellen vollzogen und als solche gedeutet werden können. So kann seit Beginn dieser historischen Zäsur (18./19. Jahrhundert) bis zum Ende des 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts von zwei historischen Transformationswellen in der industriell-kapitalistischen Welt mit ihren Auswirkungen und Querverbindungen zu den anderen Teilen der Welt gesprochen werden (zu den Wellen der Transformation ausführlicher Reißig 2019a: 27–115).   

Eine solche Deutung historischer Transformationswellen folgt Polanyis Konzept der Transformation als „Doppelbewegung“ von konkret-historischer Entfaltung des Widerspruchs zwischen zunehmender Vermarktlichung im Kapitalismus und gesellschaftlicher Gegenbewegung (Polanyi 1944/1978) sowie den längerfristigen Zyklen und Rhythmen ökonomischer und sozio-politischer Entwicklung des Kapitalismus.

Die erste historische Welle wurde mit der „Doppel-Transformation“ als industriell-ökonomische Revolution in England (wobei sich die Marktwirtschaft und -gesellschaft bereits seit dem 14./15. Jahrhundert herausbildete) und politisch-soziale Revolution in Frankreich eingeleitet. Sie wird als „Große Transformation“ (erstmals durch Polanyi 1944) der Neuzeit bezeichnet und bestimmt, da sich mit ihr die industriell-kapitalistische Produktionsweise und die „bürgerliche Gesellschaft“ (Marx) durchsetzte und somit eine welthistorische Zäsur markierte. Diese erste Transformationswelle erstreckte sich dann vor allem von Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts über das gesamte 19. Jahrhundert („Hochzeit“) bis zum Ersten Weltkrieg und zur großen Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre.

Die zweite historische Transformationswelle – auf dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, der großen Depression und dem Zusammenbruch der liberalen Marktutopie in den 1920er/1930er Jahren – umfasste vor allem zwei unterschiedliche gesellschaftliche Transformationen mit ihren weitreichenden Folgewirkungen:

- die Staatssozialistische Transformation (von ihrem Ausgangspunkt Russland beginnend, führte sie zur Herausbildung eines staatssozialistischen Systems mit internationaler Dimension in Ost- und Südost-Europa, in Asien [u. a. in China, Vietnam, Nordkorea] und Lateinamerika [Kuba] und zeitweilig auch in Afrika);

- die New-Deal-Transformation mit der Herausbildung eines sozial-staatlich regulierten Kapitalismus (zuerst in den USA und Skandinavien erstreckte sie sich nach 1945/50 auf Westeuropa, Japan und weitere Teile Asiens).

Diese zweite historische Welle (New Deal- und Staatssozialistische Transformation) reichte zunächst von den 1920er/1930er Jahren bis Mitte der 1970er Jahre.

Diese zweite historische Welle der Transformation umfasste jedoch noch zwei sich daran anschließende Transformationen, die auf den ersten Blick scheinbar weder zeitlich noch räumlich und schon gar nicht inhaltlich-strukturell etwas miteinander zu tun haben: die Marktliberale Transformation in den westlichen kapitalistischen Gesellschaften und die Postsozialistische Transformation in den staatssozialistischen Ländern des Ostens. Doch dieser erste Blick täuscht und die gängige These, mit der postsozialistischen Transformation sei eine neue Epoche eingeleitet worden, geht fehl. Mitte der 1970er Jahre setzte die Krise des Sozialstaatskapitalismus wie auch die Krise des Staatssozialismus ein. Es war die Krise, Erosion und Demontage eines spezifischen Regulations- und Entwicklungsmodells, das als fordistisch-industrielles Modell den sozioökonomischen Entwicklungspfad in West und Ost mit unterschiedlichen Vorzeichen und Akzentuierungen lange Zeit prägte. Was Anfang/Mitte der 1970er Jahre immer deutlicher wurde, war eine „systemübergreifende Krise europäischer Industriegesellschaften“ (Steiner 2006) und eine beginnende „strukturelle Transformation“ (Jarausch 2006).

Der bisherige Entwicklungspfad stieß an systemimmanente Grenzen und ließ sich so nicht fortsetzen, oder nur um den Preis zunehmender Funktionsstörungen. Diese Krisensituation betraf nicht nur die Wirtschaft, sondern ebenso den Konsum, die Bildung, die Kultur, die gesamte Produktions- und Lebensweise (s. auch Busch/Land 2013). Die Wirtschaft stagnierte. Die zunehmende Kommodifizierung nun vor allem der Natur mit ihren Folgen verschärfte die ökologische Krise und erforderte ein neues gesellschaftliches Naturverhältnis, eine ökologische Transformation. Und die Krise des alten westlichen Klassen- und Sozialstaatskompromisses (Demontage der Sozialleistungen, Freisetzung von Arbeit, Aufhebung des Teilhabemodus) verlangte eine neue soziale Progression. West und Ost standen damals – bei allen Unterschieden – vor ähnlichen Strukturproblemen. An Stelle einer nachhaltigen, einer sozial-ökolo-gischen Transformation vollzog sich in den westlichen Industriegesellschaften jedoch eine marktliberale Transformation.

 Die marktliberale Transformation – zumeist als „Neoliberalismus“ bezeichnet – hat sich geographisch-räumlich und zeitlich (zuerst in den USA, Chile, Großbritannien, später auch in Westdeutschland) ungleich herausgebildet und vollzogen, eben wellenförmig und in globaler Dimension. Diese Transformation umfasst den Zeitraum von ihrem Beginn Mitte der 1970er Jahre, über ihre Entwicklung und Ausprägung in den 1980er/1990er Jahren, die tiefgreifende Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 bis zur zunehmenden Erosion dieses Regulations- und Entwicklungsmodells in den Jahren danach – und reicht bis in die Gegenwart.

Die staatssozialistischen Länder erwiesen sich als „schwächste Glieder“ innerhalb des fordistischen sozioökonomischen Entwicklungsmodells. Sie waren letztlich unfähig, sich erfolgreich auf die neuen Herausforderungen eines nachhaltigen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungstyps und die damit verbundene gesellschaftliche Umbruchsituation einzustellen. Die folgende postsozialistische Transformation in 31 Ländern vollzog sich unter globaler Hegemonie des Neoliberalismus jedoch weitgehend als marktliberale Adaptions-Transformation (s. Reißig 2019a: 84–100; Ther 2020).

Diese globale marktliberale Transformation wird, wie wir aus heutiger Perspektive sehen können, zum eigentlichen Wendepunkt im „kurzen 20. Jahrhundert“. Die 1970er/1980er Jahre werden insofern zum Ausgangspunkt tiefgreifender, eben marktliberaler/-radikaler Umwälzungen, die die Welt des 21. Jahrhunderts, die Welt, in der wir heute leben, hervorgebracht haben. Die mit diesen Transformationen eingeleitete Epoche des Marktliberalismus (Neoliberalismus) scheint Anfang des 21. Jahrhunderts an ihr Ende zu geraten. Eine neue, dritte Transformationswelle scheint möglich.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2021