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Heft 59: Die Linke neu leben - Thesen für einen linken Nietzsche heute

Eine Streitschrift

Von: Paul Stephan

Heft 59: Die Linke neu leben - Thesen für einen linken Nietzsche heute

Heft 59: Reihe "Philosophische Gespräche". 2019, 50 S.

 Zum Thema der vorliegenden Publikation referierte der Autor im vergangenen Jahr in einer Veranstaltung der „Hellen Panke“ und vertrat seine Auffassung auch in so mancher Veröffentlichung und Stellungnahme vor einer interessierten Öffentlichkeit. Die hier vorliegende Broschüre ist eine Art Extrakt aus seiner umfangreichen Studie Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung, die in diesem Jahr im Schmetterling-Verlag erscheint.

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Autor:

Paul Stephan

geb. 1988, studierte von 2008 bis 2015 Philosophie, Soziologie und Germanistik in Frankfurt a. M. und Dublin; seit 2014 Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Narthex. Heft für radikales Denken“ und Autor beim Blog der Halkyonischen Assoziation für radikale Philosophie, die diese Zeitschrift herausgibt und die er mitbegründete. In einschlägigen Publikationen widmete er sich insbesondere auch dem Verhältnis zwischen Marx und Nietzsche.

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INHALT

Vorrede      
I. Das Grundproblem der Linken 
II. Nietzsches Kritik an der Linken
III. Das Problem der Linken in der Geschichte des Nietzscheanismus
     a) Individualismus contra neoliberale Pseudobefreiung
     b) Der zweigesichtige Dionysos 
     c) Die „Treue zur Erde“ – Leib und Natur 
     d) Die Freiheit der Frauen
     e) Für einen linken Patriotismus 
     f) Wider Kunst und Wissenschaft
     g) Gegen die Moralisierung der Politik
     h) Die Post-Moderne überwinden
IV. Das Problem der Linken heute
V. Manifest für eine gegenwärtige „Partei des Lebens“

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LESEPROBE

Vorrede

Diese Broschüre ist eine Art Extrakt aus meiner umfangreichen Studie Links–Nietzscheanismus. Eine Einführung, die in diesem Jahr im Schmetterling-Verlag erscheint. Ein ‚Extrakt‘ nicht im Sinne einer bloßen Zusammenfassung, sondern in dem Sinne, dass hier die wesentlichen Ergebnisse meiner Studie festgehalten wurden, die für den linken Kampf der Gegenwart von Bedeutung sind. Es ist der Versuch einer Theorie der Praxis, der sich freilich nicht nur dem theoretischen Studium verdankt, sondern auch meine langjährige praktische Erfahrung als Aktivist und solidarischer Beobachter des wirklichen linken Kampfes reflektiert. Ich spreche so nicht als Philosoph zu den Praktikern, sondern als Praktiker zu anderen Praktikern.

Es würde dem Inhalt dieser Broschüre widersprechen, wenn sie selbst die Form eines der üblichen theoretischen Trakte haben würde. Wer an einer theoretisch-philosophischen Fundierung des hier Gesagten interessiert ist, der lese besagte Studie und meine sonstigen Publikationen, die alle in dem hier Gesagten kulminieren, das eine Art Summe meiner bisherigen politisch-theoretischen Bemühungen darstellt. Es war bisweilen ein einsamer Kampf, doch ich habe ihn nie allein geführt. Ich danke allen, die mich stets unterstützt haben.

Weitere Materialien zum Thema, eine Liste meiner Publikationen sowie ein Diskussionenforum sind unter links-nietzscheanismus.de abrufbar.

Diese Broschüre beansprucht nicht, auch nur einen einzigen neuen, ‚originellen‘ Gedanken vorzubringen. Sie beansprucht nur, an Vergessenes zu erinnern und es zu wiederholen. Es ist ein kleines und niedriges, ein minderwertiges Buch – doch es ist geschrieben mit klarem Sinn, mit feurigem Herzen, mit wütendem Bauch und beseelt von der Liebe. 

I. Das Grundproblem der Linken

Meine Grundthese ist eine einfache: Der linke Kampf ist immer dann erfolgreich, wenn er der emotionalen und erotischen Natur des Menschen gerecht wird – er verliert, sobald er zu einem rein moralischen und rationalen Kampf verkommt, der dann auch kein Kampf mehr ist, sondern ein beschauliches Studienobjekt der Moralisten und der Theoretiker. Das entscheidende Problem ist weder die Ökonomie noch die Politik noch die Moral noch die Theorie noch die militärische Strategie noch die Kunst, sondern die Ästhetik im vollen Sinne des Wortes – als triebhafte und als leidenschaftliche Ästhetik. Als wesentlichen Impulsgeber dieser Einsicht verstehe ich Nietzsche und seine Nachfolger – als Gegner dieser Einsicht verstehe ich Kant, Hegel, Marx, Schopenhauer und diejenigen, die meinen, den linken Kampf wesentlich auf ihren Theorien begründen zu können, weil es Gegner des wirklichen linken Kampfes sind.

Der linke Kampf ist seiner Natur nach ein hässlicher, ein kleinlicher, ein niedriger Kampf. Er wurzelt in der Lebensnot, in der Moral, in der Vernunft, in unfreien Emotionen wie Hass, Neid und Gier. Es ist unmöglich, den linken Kampf von all dem abzulösen. Der linke Kampf: Das ist ein Kampf all der ‚kleinen Leute‘, der „Verdammten dieser Erde“, die nicht zu den ‚Guten und Schönen‘ gehören. In seinem rohen Stadium gibt es nichts Erbärmlicheres, nichts Mühseligeres, nichts Bornierteres als den linken Kampf. Es ist der Kampf derjenigen, von denen einer der großartigsten proletarischen Künstler des vergangenen Jahrhunderts singt:

Die haben harte Hände und ein hartes Herz,
Die streiten ohne Ende und die sterben früh,
Die suchen ein Vergnügen,
Und finden nur den Schmerz,
Die können lügen,
Aber leben können die nie.

Es ist kein abstrakter, kein großer, sondern eben ein kleiner Kampf. Für die „Verdammten dieser Erde“ ist dieser Kampf mehr oder weniger ihr ganzes Leben. Der Kampf der Frau darum, dass ihr Mann dem Kind auch einmal die Windeln wechselt und seinen Lohn nicht in der Eckkneipe versäuft; der Kampf des Mannes mit seinem Chef und seinen Kollegen; der Kampf des Kindes gegen die Autorität der Lehrer und das Mobbing seiner Mitschüler. Und schlimmer noch: Die kleine Frau muss sogar beide Kämpfe führen: Den Kampf gegen ihren Mann, den Kampf gegen ihren Chef, den Kampf gegen ihre Kollegen, unter Umständen sogar den Kampf gegen ihre eigenen Kinder. Es geht um banale Dinge in diesem Kampf, er ist der unheroistischste Kampf von allen: Um das Brot, um die Wohnung, um ein klein wenig Anerkennung, um ein bisschen Liebe und Zärtlichkeit. Darum, wenigstens ein paar Stunden am Tag nicht kämpfen zu müssen, sondern leben zu dürfen. Im Kern kämpft der linke Kampf gegen sich selbst, es ist ein Kampf gegen den Kampf.

Der ‚Edelmensch‘ Nietzsche ist es, der all das so scharf beobachtet und kritisiert hat wie kein anderer. Er hat fast nur Verachtung für ihn übrig, er ist der schlimmste Konterrevolutionär, der je geschrieben hat. Ein bürgerliches Arschloch, ein ärmliches Würstchen ohne Ahnung vom wirklichen Leben der Massen seiner Zeit. Doch der erste Schritt der Heilung besteht genau darin, gerade den zutiefst reaktionären, aristokratischen Blick des Möchtegernaristokraten Nietzsches, dieses eingebildeten Schnösels, nicht empört abzuwehren, sondern anzuerkennen, dass er vollkommen Recht hat in seinem Urteil. Die Gutmenschen predigen von der ‚Schönheit der Armut‘ und dem ‚guten Charakter des kleinen Mannes‘. Sie loben die Redlichkeit eines Marx und die Tapferkeit einer Luxemburg, doch unterstützen politisch dennoch ihre Bismarcks und Noskes. Nietzsches Größe besteht gerade darin, dass er kein Gutmensch ist, sondern kleinlich. Er sagt, was ist, er zerstört jede Illusion.

Die erste Stufe der Heilung besteht darin, sich bis zum Exzess in die Selbstverachtung und Selbstqual zu steigern, dem ‚Herren Nietzsche‘ vollkommen Recht zu geben und anzuerkennen, dass man ein Sklave ist, der sich in einem Sklavenaufstand und im Ressentiment befindet. Doch natürlich würde es eine völlige Lähmung, einen hoffnungslosen Irrweg bedeuten, es bei dieser ersten Stufe zu belassen. Die zweite Stufe besteht darin, den ‚anderen Nietzsche‘ zu entdecken und sich von ihm lehren zu lassen, was es heißt, zu leben. Was das Leben ist, wie das Leben sein könnte, wie man dorthin kommt. Es geht darum, Größe zu lernen, Güte zu lernen, Freiheit und Liebe zu lernen – all das, was einem durch das Sklavendasein entzogen wird, ohne aus ihm je gänzlich verschwunden zu sein, weil es das Menschliche und vor allem das Übermenschliche ist. Natürlich muss man und sollte man sich nicht auf Nietzsche beschränken, um all das zu lernen. Das Leben selbst ist es und alle Zeugnisse des Lebens zeugen davon. Sobald die Sklaven während der Arbeit zu singen anfangen, werden sie lebendig.

Die dritte Stufe, darin besteht kein Zweifel, geht über alles von Nietzsche Gesagte hinaus und befindet sich im tiefen Widerspruch zu seiner Philosophie und seinem bürgerlichen Wesen. Sie besteht darin, nicht mehr nur bei der Arbeit, sondern beim Kampf zu singen. Nietzsche sieht die Arbeiter, die – angeblich – den Louvre plündern und empört sich über sie. Doch er verschließt die Augen – und vor allem: die Ohren – vor den Arbeitern, die die Marseillaise und die Internationale singen. Er sieht den Fürstenknecht Luther, doch er verschweigt den Propheten Müntzer. Er schwärmt von der attischen Tragödie und der Größe der attischen und römischen Republik: Doch er versteht nicht, dass eine solche Größe nur aus dem Feuer eines revolutionären Kampfes geschmiedet werden konnte. Er sieht nicht, dass seinem Ideal des ‚Übermenschen‘ niemand mehr entspricht als die revolutionären Volksmassen und ihre Führer, denen es gelingt, die wesentliche (und unvermeidliche) Kleinheit ihres Kampfes mit einer pathetischen und erotischen Größe in dieser Kleinheit zu vereinen. Wenn sich der Kampf ums Brot mit Heldenmut und mit Liebe verbindet: Dann entsteht eine solche Lebensenergie, dass aller Glanz der reaktionären Blendwerke, alle Perfektion der technischen Geräte, die im Besitze der Herren sind, alle Klugheit der von ihnen bezahlten Intellektuellen und alle ‚Schönheit‘ ihrer Hauskünstler verblasst und hinweggefegt wird. Dann tanzt das Volk auf der Straße, dann laufen die Söldner, Intellektuellen und Künstler scharenweise zum Volk über, dann schließen sich sogar die Herrschenden selbst dem Volk an.

Wenn ich hier vom ‚Volk‘ spreche, dann meine ich damit keinerlei reaktionäre Fiktion. Das ‚Volk‘ ist nichts weiter als die Masse derjenigen, die sich im linken Kampf befinden. Das Volk der Faschisten ist eine bloße Phantasie; blonde und blauäugige Edelmenschen, die nicht einmal etwas mit der Wirklichkeit ihrer Führer zu tun haben. Das wirkliche Volk sind all die hässlichen, unreinen Kreaturen, die von den Faschisten als ‚entartet‘ bezeichnet und in die Lager gesteckt werden – eine Menge, der die Faschisten in Wahrheit auch selbst angehören.

Der Faschismus ist genau der erotische und pathetische Kampf, der sich vom linken Kampf abgespalten hat. Der lächerliche Kampf der Bürgersöhne, die sich für die neuen Römer halten – und der noch viel lächerlichere Kampf der Fabrikarbeiter, die denken, dass sie Germanen wären. Ein veritabler Kampf gegen Windränder. Nietzsche hat die Lächerlichkeit dieses Kampfes nicht minder klar erkannt als die Armseligkeit des linken, der seine Kraftquelle vergessen hat.

Es kann nicht darum gehen, den linken Kampf durch ‚faschistische Elemente‘ zu ergänzen. Vielmehr handelt es sich bei der faschistischen Erotik und der faschistischen Leidenschaft, wie Nietzsche erkannt hat, um dekadente und perverse Verfallsformen. Die faschistische Ästhetik ist eine grundsätzlich entartete, kranke Ästhetik. Gesund ist einzig die Ästhetik des linken Kampfes. Das Horst-Wessel-Lied ist peinlich, es zeugt nur von scheinbarer Größe und Anmaßung – die Internationale ist das Lied, das die revolutionären Kämpfe seit seiner Entstehung stets begleitete und der Hoffnung von Millionen wirklichen Ausdruck verleiht. Das Horst-Wessel-Lied singen die Dämonen der untersten Hölle – die Internationale stimmen die Engel zu Ehren des ewigen Gottes in den höchsten Sphären des Himmels an. Es kann zwischen beiden Gesängen im Grunde keinen Vergleich geben.

Das eigentliche Problem besteht darin, dass die faschistische Perversion gerade in ihrer Perversität ungeheuer verlockend ist. Schafft es die linke Bewegung nicht, eine ihr entsprechende gesunde Ästhetik, eine authentische Leidenschaft zu entwickeln – und sie versagt darin regelmäßig –, wird es immer der Faschismus sein, der diese Lücke füllt. Denn die Volksmassen wollen stets nicht nur Brot und Obdach – im Gegenteil sind sie sogar bereit, Brot und Obdach hintenanzustellen, wenn es einer Bewegung gelingt, ihrem Kampf den Anschein von Größe zu geben. Die blasse, bucklige Hilfssekretärin fühlt sich dann als Walküre, der auf Krücken laufende Kriegsheimkehrer als Veteran einer zweiten Varus-Schlacht, der mediokre Schmierenjournalist als neuer Goethe. Wie gesagt: Lächerliche Phantasien, doch wer von uns ist gänzlich frei von ihnen?  Im Gegenteil ist der Faschismus, als ‚Links-Faschismus‘, auch die zweite große Gefahr der linken Bewegung selbst: Vor der Kleinheit des linken Kampfes auszuweichen und die Komödie Don Quichottes zu wiederholen. Das Problem: Da er die ursprüngliche Kleinheit des linken Kampfes nie wird abstreifen können, wird der Links-Faschismus, sofern er sich nicht in einen eigentlichen Faschismus verwandelt, sich dem eigentlichen Faschismus und seinen verlockenden Trugbildern immer als unterlegen erweisen. Man kann aus den Symbolen des linken Kampfes nur um den Preis der völligen Aufgabe ihres Gehalts faschistische Chimären formen, die letztendlich satanische Versuchungen sind.

Ich bediene mich der religiösen Sprache, weil auch sie zu eben jener Symbolik des linken Kampfes gehört. Der Verzicht auf diesen besten Teil unserer Tradition bedeutet eine völlige Selbstaufgabe. Sogar Marx und Engels und sogar Lenin haben das noch klar gesehen. In den religiösen und spirituellen Traditionen ist stets ein Moment der schändlichen Moralisierung und Verjenseitigung enthalten, doch die wirkliche, lebendige Religion ist ebenso ein authentischer Ausdruck der Hoffnung der Millionen wie die Gesänge, Bilder und Texte der modernen Arbeiter- oder Frauenbewegung. Im verzweifelten Gebet einer vergewaltigten Frau steckt mehr revolutionäres Potential als in einem atheistischen Aufklärungspamphlet eines kleingeistigen Biologisten. Es gibt stets die Religiosität der Volks- (der ‚Ketzer‘) und diejenige der Hofprediger (der ‚frommen Schriftgelehrten‘ – zu denen heute genau jene ‚Atheisten‘ zählen). Eine der wichtigsten progressiven Fraktionen der Französischen Revolution waren die kleinen Kleriker, die nicht genug Gelehrsamkeit aufbringen konnten, um ihre Nächstenliebe auf den Adel zu beschränken. Die Aufklärerclique um Voltaire, das war die geistige Konterrevolution – unser aller Stammvater ist der ‚unaufgeklärte‘ Rousseau, der größte Philosoph des 18. Jahrhunderts. Nietzsche hat auch mit Bezug auf ihn vollkommen Recht: Er war ein hässlicher Mensch, ein Wichtigtuer und Großmaul. Voltaire war geistreich, ironisch, weltgewandt. Wir linken Intellektuellen sollten uns nicht schämen, mehr Rousseau als Voltaire zu gleichen, sondern sollten es in aller Konsequenz bejahen, uns in seinen Bekenntnissen vollkommen wiederzuerkennen. Wir sind diejenigen, die heimatlos sind, von den Pfaffen geschmäht, vom aufgehetzten Pöbel gejagt, von den Mächtigen vertrieben, von den ‚Aufklärern‘ verunglimpft. Der Hass des ‚Freigeistes‘ Voltaires auf Rousseau ging so weit, dass er sich über dessen Tod freute. Doch wir sind die wirklichen Freigeister, insofern für uns die wahre geistige Freiheit nicht in der eleganten Gesprächskultur des Salons zu finden ist, sondern im hitzigen Wortgefecht der Volksversammlung.

Die Bekenntnisse sind noch aus einem tieferen Grund für uns heute eine genauso essentielle Pflichtlektüre wie das Kapital, die Genealogie der Moral und der Zarathustra: Die prärevolutionäre Gesellschaft, die Rousseau in diesem genuin linken Buch bis ins kleinste Detail beschreibt, ist die Gesellschaft der Gegenwart. Ich gebrauche das Wort ‚Revolution‘ nicht in dem Sinne, dass sich in einem bewaffneten Aufstand in der heutigen Zeit eine echte Option für den linken Kampf sehen würde. Heute geht es zunächst darum, die Errungenschaften der vergangenen Revolutionen zu verteidigen und das kann und sollte im Rahmen der Institutionen erfolgen, die von ihnen – gewaltsam und illegitim – geschaffen wurden. Das Grundgesetz ist ein Boden, auf dem wir mit Fug und Recht felsenfest stehen können, für das genug Blut geflossen ist. Der erste Paragraph dieses wundervollen Textes ist der vielleicht schönste Satz, der in deutscher Sprache nach dem Nationalsozialismus geschrieben wurde und in dem sich das Beste der progressiven deutschen Tradition vom Rousseau-Verehrer Kant bis zum Widerstand gegen Hitler verdichtet. Mit ‚Revolution‘ meine ich genau die kontinuierliche Bewegung des linken Kampfes, der immer wieder andere Gestalten annehmen wird. Zu meinen, man könnte und sollte die Französische Revolution heute wiederholen ist ein linksfaschistisches Trugbild, das nicht zuletzt von den kleinen, hässlichen Seiten dieses Ereignisses abstrahiert.

Trotzdem haben wir es gegenwärtig mit einer ungeheuren Refeudal-isierung zu tun. Überall entstehen dieselben Strukturen wieder, die das 18. Jahrhundert bestimmten: Kleine Eliten ohne demokratische Legitimation, an Arroganz kaum zu überbieten, unterstützt von gut bezahlten ‚kosmopo-litanen‘ ‚Aufklärern‘, deren wesentliche Mission es ist, das authentische linke Denken totzuschwatzen. Das ist kein Problem des saudischen Adels oder der russischen Oligarchen – dieselben Strukturen bestimmen auch mehr und mehr das Leben im Westen. Der Mittelstand zerfällt, das Proletariat wird erniedrigt. Die ‚Welt‘, in der die ‚Kosmopoliten‘, die „guten Europäer“ (Nietzsche) von heute hausen, ist nicht die Welt des Volkes, sondern die Welt der überall gleichen Hotels, Tagungsstätten, Flughäfen, Appartements. Der bessere Teil von ihnen weiß bereits darum, dass diese ‚Welt‘ über kurz oder lang kollabieren wird, doch dieser Zusammenbruch nicht zu einer neuen Revolution, sondern einer barbarischen Konterrevolution ungeheuren Ausmaßes führen wird. Mit ihnen müssen wir uns zusammentun – doch wir müssen stets klar und deutlich machen, dass wir mehr wollen als die Erhaltung dieser ‚Welt‘. Die Konterrevolution wird nur abzuwenden sein, wenn die wirkliche Welt in wesentlichen Zügen geändert wird. Voltaire und Rousseau können so am Ende vielleicht doch zu Freunden werden. Nietzsche, Rousseau ähnlicher als ihm lieb ist, kann vielleicht den Kuppler spielen.

Die wirkliche Aufklärung kann nur eine Aufklärung der ‚Aufklärung‘ selbst sein.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2019