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Heft 161: Das Menetekel: Kronstadt 1921

Kriegskommunismus und Alternativen - Vorträge vom 24. März 2011 (K.-H. Gräfe) und 8. November 2011 (H. Bock)

Von: Helmut Bock, Karl-Heinz Gräfe, Wladislaw Hedeler

Heft 161: Das Menetekel: Kronstadt 1921

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 161, 2011, 55 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Inhalt

Helmut Bock
Das Menetekel: Kronstadt 1921
Wetterleuchten des "kommunistischen" Ein-Partei-Systems

Karl-Heinz Gräfe
Kriegskommunismus und Alternativen 1921. Demokratie in der Partei und im Staat Sowjetrusslands

Wladislaw Hedeler
Die Tragödie von Kronstadt
Ein Literaturbericht

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LESEPROBE aus dem Beitrag von Karl-Heinz Gräfe

3. Partei und Demokratie

Ungeachtet ihrer jahrelangen Untergrundarbeit entwickelte sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) seit der Februar-Revo-lution 1917 zu einer sehr einflussreichen demokratischen Massenpartei. Da diese Partei aus verschiedenen Fraktionen und politischen Strömungen bestand, ergaben sich auch unterschiedliche, nicht zu vermeidende Sichtweisen auf die zu lösenden strategischen und taktischen Aufgaben, deren Erfolg letztlich erst in der politischen Praxis gemessen werden konnte. Auch als es zur vollständigen Trennung von Bolschewiki und Menschewiki im Sommer 1917 kam, blieben Fraktionen und Strömungen in der Partei der Bolschewiki noch lange erhalten, sie waren letztlich nicht unbedeutend für die Erweiterung des Masseneinflusses, der bis Jahresende 1917 recht beachtlich war. In den ersten freien Parlamentswahlen erreichte die Partei der Bolschewiki unter Lenin in Petrograd und Moskau die Mehrheit und im vorwiegend agrarischen Sowjetrussland immerhin ein Viertel der Bevölkerung.

Fraktionen und Strömungen in einer linkssozialistischen Partei

Es war erklärlich, dass 1920/21 erneut unterschiedliche Strömungen innerhalb der inzwischen auf 700.000 Mitglieder angewachsenen Partei aufbrachen, um nach Lösungen aus der bisher tiefsten Gesellschaftskrise zu suchen und das Land aus der Sackgasse des Kriegskommunismus herauszuführen. Noch war Kritik innerhalb der Partei möglich. Es ging u.a. um die Sowjetdemokratie, um das diktatorische Regime der Kommissare und der Parteizentrale (Demokratische Zentralisten), die Rolle der Gewerkschaften in der Gesellschaft, die Arbeiterselbstverwaltung bzw. Produktionsdemokratie (Arbeiteropposition). Die Arbeiteroppositionum Alexander G. ¦lapnikov (1885–1937) und Alexandra M. Kollontai (1872–1952) forderte, die Interessen der Arbeiter stärker zu verteidigen und sie in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. In ihrem 1921 erschienenen Buch "Was bedeutet die 'Arbeiter-Opposition'"[1] kritisierte Kollontai den nunmehr entstandenen Gegensatz zwischen den leitenden Parteiinstanzen und den Arbeitermassen. Mehr noch: "mit keiner Agitation, mit keinen terroristischen Methoden wird aus dem Bewusstsein der breiten Massen hinweg geleugnet werden können, dass eine charakteristische neue 'soziale Schicht' in der sowjetischen Parteispitze entstanden ist"[2]. Kollontai forderte u.a.:

– die Verwaltung der Volkswirtschaft muss von dem allrussischen Kongress der Produzenten, die sich in Verbänden nach Berufen zusammenschließen, organisiert werden. Es geht also um die "Schaffung eines Organs zur Volkswirtschaftsverwaltung aus den produzierenden Arbeitern selbst". Es gehe nicht um die Verstaatlichung der Gewerkschaften (wie Trotzkij forderte), auch nicht um die erzieherische Rolle der Gewerkschaften als Schule des Kommunismus oder Vermittler zwischen Partei und parteiloser Masse (Lenin, Sinovjev, Bucharin). Aufgabe sei vielmehr der Übergang der Gewerkschaften von passiver Mitarbeit in den Organen der Volkswirtschaft zur aktiven Teilnahme zur Äußerung der schöpferischen Initiative der Arbeiter in ihnen."[3]

– Schaffung eines "Systems der umfassenden Selbsttätigkeit der Arbeitermassen" gegen die bestehende Partei- und Staatsbürokratie. Das setzt grundlegende Freiheiten voraus wie die "Rückkehr der Partei zum Prinzip des Wahlsystems. Die Ernennung bestimmter Personen darf nur als Ausnahme zugelassen werden. Das System der Ernennung, dies für den Bürokratismus charakteristische Merkmal, ist zu einer allgemein anerkannten, gesetzlichen Erscheinung geworden. […] Das System der Ernennung ist die volle Verneinung der Kollegialität in der Arbeit und erzeugt geradezu Verantwortungslosigkeit. Es muss auf der ganzen Parteilinie durch das Wahlprinzip ersetzt werden."[4]

– "Öffentlichkeit innerhalb der Partei (sowohl bei der Entscheidung allgemeiner Fragen wie auch bei der Feststellung persönlicher Eigenschaften), größere Aufmerksamkeit den Stimmen der Massen gegenüber, Sicherstellung der Freiheit der Kritik und Meinungen."[5]

Aus der Sicht der Suche nach Alternativen wird man Helmut Steiner in seiner Betrachtung über Kollontai zustimmen müssen: "'Die Arbeiteropposition' war nicht nur tagespolitisch orientiert. Sie war eine von vielen Bestrebungen, Sozialismus und Demokratie in Sowjetrussland produktiv zusammenzuführen und autoritatives russisches Erbe zu überwinden. Von der gesellschaftspolitischen Innovation in der Revolution 1905, an der Basis Räte ('Sowjets') zu bilden, über die vielgestaltigen Formen von Sowjets unmittelbarerer Demokratie seit Februar 1917 verlief ein 'Für und Wider', ein Suchen nach demokratischen gesellschaftspolitischen Mechanismen für die neue Sowjetgesellschaft."[6]

Die zentralistische und geschlossene Partei neuen Typs

Der damals einflussreichste Parteiführer und Staatsmann Lenin, Verfechter der Auffassung von der in sich fast militärisch geschlossenen Partei neuen Typs, zog aus der Krise und dem massenhaften Widerstand von Arbeitern, Bauern, Soldaten und Matrosen gegen die kommunistische Einparteienherrschaft den Schluss, nun endlich die noch immer bestehende innerparteiliche Demokratie, wie die Bildung von Fraktionen, abzuschaffen. Er denunzierte deshalb die Kronstädter Bewegung als konterrevolutionär, die nun auch in der Partei der Bolschewiki ihren Platz gefunden habe und äußerst gefährlich sei: "Wir durchleben eine Zeit, in der eine ernste Gefahr vor uns heraufzieht: die kleinbürgerliche Konterrevolution. Das haben die Genossen nicht bestritten. Diese Konterrevolution ist umso eigenartiger, als sie eine kleinbürgerliche, anarchistische ist. Ich behaupte, dass zwischen den Ideen und Losungen dieser kleinbürgerlichen, anarchistischen Konterrevolution und den Losungen der 'Arbeiteropposition' ein Zusammenhang besteht." Das werde "durch die von Genossin Kollontai zum Parteitag herausgegebene Broschüre der 'Arbeiteropposition' (in einer Auflage von 250.000 Exemplaren, K.-H.G.) so anschaulich wie nur möglich bestätigt."[7] Er bezeichnet das Auftreten von Kollontai und ¦lapnikov als "Demagogie, auf der die anarchistischen Machnowschen und Kronstädter Elemente basieren"[8].

Lenin beharrte weiterhin auf dem Standpunkt, dass die Diktatur des Proletariats nicht anders als durch die kommunistische Partei möglich sei. Das aber setze die Überwindung oppositioneller und fraktioneller Gruppierungen voraus. Wenn es solche "ungesunde(n) Gruppen, ungesunde(n) Strömungen gibt – lasst uns ihnen dreifache Aufmerksamkeit zuwenden. Gibt es in dieser Opposition nur etwas Gesundes, so muss man alle Kräfte einsetzen, um das Gesunde vom Ungesunden zu scheiden. […] Und diese Siebung wird jetzt auf dem Parteitag erleichtert."[9] Er erklärte: "Warum stellt man ¦lapnikov nicht vor Gericht? Was meinen Sie, sprechen wir ernsthaft über Disziplin und Einheit in einer organisierten Partei oder befinden wir uns in einer Versammlung Kronstädter Art? Das ist eine Kronstädter Phrase im Geiste der Anarchie, eine Phrase, auf die man mit dem Gewehr antwortet."[10] Die dominierende Führungsgruppe um Lenin (Plattform der Zehn – F. A. Sergejev, G. J. Sinovev, M. I. Kalinin, L. B. Kamenev, G. I. Petrovskij, J. E. Rudsutak, J. W. Stalin, M. P. Tomskij, S. A. Losovskij) setzte auf dem X. Parteitag 1921 den Beschluss über die Einheit der Partei durch, in dem es u.a. heißt:

"Der Parteitag lenkt die Aufmerksamkeit aller Mitglieder der Partei darauf, dass die Einheit und Geschlossenheit ihrer Reihen, die Sicherung des vollen Vertrauens unter den Parteimitgliedern und einer wirklich einmütigen Arbeit, die tatsächlich die Einheit des Willens der Avantgarde des Proletariats verkörpert, im gegenwärtigen Moment […] besonders notwendig sind. […] Es ist notwendig, dass alle klassenbewussten Arbeiter die Schädlichkeit und Unzulässigkeit jeder wie immer gearteten Fraktionsbildung klar erkennen, die selbst dann, wenn die Vertreter der einzelnen Gruppen den besten Willen haben, die Parteieinheit zu wahren, in der Praxis unweigerlich dazu führt, dass die einmütige Arbeit geschwächt wird und dass die Feinde, die sich an die Regierungspartei heranmachen, erneut verstärkte Versuche unternehmen, die Zerklüftung zu vertiefen und sie für den Zweck der Konterrevolution auszunutzen. Die Ausnutzung jeder Art der Abweichung von der strengkonsequenten kommunistischen Linie durch die Feinde des Proletariats hat sich mit größter Anschaulichkeit an dem Beispiel der Kronstädter Meuterei gezeigt."[11] In keiner Parteiorganisation dürften fraktionelle Vorstöße geduldet werden. Er schränkte die Kritik ein: "Jeder der Kritik übt, muss außerdem, was die Form der Kritik betrifft, Rücksicht nehmen auf die Lage der Partei, die von Feinden umgeben, und in Bezug auf den Inhalt der Kritik durch seine eigene unmittelbare Teilnahme an der Sowjet- und Parteiarbeit prüfen, wie die Fehler der Partei oder einzelner Mitglieder in der Partei korrigiert werden. Jedwede Analyse der allgemeinen Linie der Partei oder die Auswertung ihrer praktischen Erfahrung, die Kontrolle der Durchführung ihrer Beschlüsse, das Studium der Methoden zur Berichtigung von Fehlern usw. dürfen auf keinen Fall vorher in Gruppen erörtert werden, die sich auf Grund einer 'Plattform' u.ä. bilden. […]" Lenin forderte, dass "ausnahmslos alle Gruppen, die sich auf der einen oder anderen Plattform gebildet haben" aufgelöst werden.[12]

Lenin setzte auf dem Parteitag eine außerordentliche Maßnahme durch, die die Weichen dafür stellte, dass die Parteispitze in die Lage versetzt werde, das damals noch bestehende demokratische Regelwerk innerhalb der Partei gänzlich auszuschalten. Der Parteitag ermächtigte das Zentralkomitee, "in Fällen von Disziplinbruch oder von Aufleben oder Duldung der Fraktionsbildung alle Parteistrafen bis zum Ausschluss aus der Partei und gegenüber Mitgliedern des ZK deren Überführung in den Stand von Kandidaten des ZK, ja als äußereste Maßnahme sogar den Ausschluss aus der Partei, in Anwendung zu bringen."[13] Dieser Punkt 7 der Resolution wurde nicht veröffentlicht und zunächst als Geheimdokument behandelt, "denn wir hoffen – so Lenin – dass sich seine Anwendung erübrigen wird – das ist eine Maßnahme für den äußersten Fall. Ich hoffe, wir werden sie nicht anwenden."[14] Bis Ende 1921 wurden 159.355 Mitglieder (24%) aus der Partei ausgeschlossen. Auf der XII. Parteikonferenz (16.–18. Januar 1924) erfolgte die Veröffentlichung des bisher geheim gehaltenen Punktes 7 der Resolution des X. Parteitages "Über die Parteieinheit". Unter Generalsekretär Stalin war das Ende der innerparteilichen Demokratie endgültig besiegelt.[15]

Die Umwandlung der demokratischen und pluralistischen Massenpartei SDAPR in eine straff organisierte und disziplinierte Partei mit einem relativ kleinen Personenkreis an der obersten Spitze ging einher mit der schrittweisen Entstehung der Parteinomenklatura, einer Institution zur Leitung der Gesellschaft, einer mehr oder weniger elitären sozialen und politischen Gruppe, die zunehmend eigene Interessen vertrat. Da die wichtigsten Machtpositionen in allen gesellschaftlichen Bereichen in ihren Händen lagen, verfügte diese neue soziale Gruppe über eine gewaltige materielle, geistige, wirtschaftliche, politische und militärische Macht. Diese "neue Klasse", ob in Form einer kollektiven Leitung oder eines Diktators an der Spitze entschied seitdem letztlich über die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion. Die Nomenklatura entstand allmählich, formierte sich nach dem X. Parteitag 1921 und nicht zuletzt durch die Wahl Josef W. Stalins zum Generalsekretär im April 1922 zügig. Der ZK-Beschluss vom 8. November 1923 über Aufgaben zur Auswahl und Verteilung der Kader auf verantwortliche Posten bildete die Grundlage für die Etablierung der "neuen Klasse". Ihr Umfang betrug 1924 über 13.000 Personen, ihr direkter Führungskern bestand aus 3.500 hochrangigen Parteifunktionären.[16]

 

[1] Alexandra Kollontai: Was bedeutet die "Arbeiter-Opposition", Hamburg 1922, zitiert nach http://www.marxists.org/deutsch/archiv//kollontai/1921/Opposition/a.

 

[2] Ebenda, S. 4.

[3] Ebenda, S. 36.

[4] Ebenda, S. 37 und S. 43 f.

[5] Ebenda, S. 46.

[6] Helmut Steiner: Alexandra M. Kollontai (1872–1952) über Theorie und Praxis des Sozialismus. Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages vor der Klasse für Sozial- und Geisteswissenschaften der Leibniz-Sozietät am 21. Dezember 2000, in: Leibniz-Sozietät/Sitzungsberichte, 63(2004), S. 83–122, hier S. 109.

[7] W. I. Lenin: Schlusswort zum Bericht des ZK der KPR(B) am 8. März 1921, in: Werke, Bd. 32, S. 194.

[8] Ebenda, S. 208.

[9] Ebenda, S. 196.

[10] Ebenda, S. 207 f.

[11] W. I. Lenin: Ursprünglicher Entwurf der Resolution des X. Parteitages der KPR(B) über die Einheit der Partei, in: Werke, Bd. 32, S. 245 f.

[12] Ebenda, S. 247 f.

[13] Ebenda, S. 248.

[14] W. I. Lenin: Schlusswort zum Referat "Über die Einheit der Partei und die anarcho-syndikalistische Abweichung". 16. März 1921, in: Werke, Bd. 32, S. 263.

[15] Vgl J. W. Stalin: Referat über die nächsten Aufgaben des Parteiaufbaus auf der XIII. Konferenz der KPR(B). 16.–18. Januar 1924, Werke, Bd. 6, Berlin 1952, S. 1 ff.

[16] Vgl. Istorija Rossii, Moskva 1998, S. 241–259, hier S. 244 f.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2011