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Heft 242: Max Adler zum 150. Geburtstag

Über Leben, Wirken und Aktualität des Linkssozialisten und Austromarxisten

Von: Michael Franzke

Heft 242: Max Adler zum 150. Geburtstag

Reihe "Pankower Vorträge, Nr. 242, 2023, 56 S.

Am 15. Januar 1873 wurde in Wien der spätere Austromarxist Max Adler geboren. Wir erinnerten in der „Hellen Panke“ am 20. Februar 2023 aus Anlass des 150. Geburtstages an Adlers Leben, Werk und Wirken. Es referierte Michael Franzke aus Leipzig, der seinen Vortrag zum vorliegenden Heft ausgearbeitet hat. Wir danken ihm herzlich für Vortrag und Text.

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Autor
Michael Franzke
Dr., studierte in 1980er Jahren Marxistisch-leninistische Philosophie an der Karl-Marx-Universität Leipzig und promovierte zum Austro-marxisten Max Adler. Nach seinem Aufbaustudium der Sozialpädagogik war er in der Kinder- und Jugendhilfe und als Dozent tätig. Zuletzt hatte er eine Professur für „Pädagogik und Management“ an der Fachhochschule des Mittelstands in Rostock inne. Zu seinen For-schungsgebieten gehören Historischer Materialismus, Linkssozialismus und Inklusionspädagogik. 2023 erschien sein Buch „Meine Zugänge zu Max Adler. Biographische, theoretische und gesellschafts-politische Reflexionen“.

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Inhalt

* Warum ist Max Adler für eine sozialistische Linke von Interesse?

* Über die Schwierigkeiten, sich das Erbe Max Adlers anzueignen

* Ausgewählte Lebensleistungen Max Adlers für die Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus

* Max Adler und der Austromarxismus – die „Austromarxismus-Modelle“

* Das Linkssozialismus-Konzept Max Adlers

Anhang
Verzeichnis ausgewählter Schriften Max Adlers

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LESEPROBE (S. 5-14)

Max Adler zum 150. Geburtstag

Es ist eine gute Tradition, herausragenden Persönlichkeiten zu ihren runden Geburtstagen zu gratulieren oder ihrer zu gedenken. Eine Gefahr, dass solche Ehrungen in einen Personenkult ausarten können, besteht bei Max Adler nicht. Er war selbst viel zu bescheiden, um sich als Person in den Vordergrund zu rücken. Über sein privates Leben ist recht wenig bekannt. Seine ganze Aufmerksamkeit, ja sein ganzes Leben, galt nur einer Idee, der Idee des Sozialismus, einer gerechten Gesellschaftsordnung in Freiheit, Frieden und Solidarität.       

Es sind drei Beweggründe, die mich veranlassen, Leben und Werk Max Adlers in Erinnerung zu rufen: sein unorthodoxer Marxismus, sein kreativer Sozialismus und das Unabgegoltene in seinem Erbe.   

Warum ist Max Adler für eine sozialistische Linke von Interesse?

Immer noch steht die Frage im Raum: Wer war eigentlich Max Adler? Zweifelsohne kann zunächst festgestellt werden: Er gehört zu den produktivsten, aber auch umstrittensten Sozialisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Walter Euchner hatte Max Adler 1991 völlig zu Recht in die von ihm herausgegebenen „Klassiker des Sozialismus“ aufgenommen und an die Seite von Karl Marx, Friedrich Engels, Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Wladimir Iljitsch Lenin, Georg Luckàcs, Herbert Marcuse und anderen gestellt. Eine angemessene Max-Adler-Rezeption steht allerdings bis heute aus, eine Gesamtausgabe seiner Werke liegt nicht vor. Wesentliche Verdienste zur Erschließung des Werkes von Max Adler haben sich bisher insbesondere Alfred Pfabigan und Christian Möckel erworben. Pfabigan legte 1982 eine politische Biographie Max Adlers vor,[1] und Möckel veröffentlichte 1993 seine Adler-Biographie „Sozial-Apriori: der Schlüssel zum Rätsel der Gesellschaft“[2]. Bereits 1981 hatten Alfred Pfabigan und Norbert Leser einen repräsentativen Band mit ausgewählten Schriften Max Adlers herausgegeben. In den letzten Jahren sind einige grundlegende Schriften Max Adlers erneut als Reprints aufgelegt worden und erleichtern so Interessent*innen den Zugang zu seinem theoretischen Erbe. Hervorzuheben wären an dieser Stelle: „Marx und Engels als Denker“, „Der Marxismus als proletarische Lebenslehre“, „Kant und der Marxismus“, „Der Sozialismus und die Intellektuellen“, „Wegweiser. Studien zur Geschichte des Sozialismus“, „Die Staatsauffassung des Marxismus“, „Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung“, „Politische oder soziale Demokratie“ und „Das Rätsel der Gesellschaft. Zur erkenntniskritischen Grundlegung der Sozialwissenschaft“.

Der bereits erreichte Umfang der Neuauflagen deutet auf ein wachsendes Interesse am Werk Max Adlers hin. Demgegenüber steht ein erhebliches Defizit an Hilfen zur Interpretation seiner Werke. Die Interessent*innen an den Beiträgen Max Adlers zur Weiterentwicklung des Marxismus und des wissenschaftlichen Sozialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind auf ältere Darstellungen verwiesen, in denen es vor allem um die Frage ging, ob und wie der Austromarxismus, zu dessen Exponenten Max Adler gehörte, aktualisiert werden könne. Nach 1945 begann in der westeuropäischen Sozialdemokratie der „lange Abschied“ vom Marxismus, für den der Austromarxist Karl Renner als Kronzeuge angesehen und rezipiert wurde. In den 1970er Jahren, nach der ersten großen Wirtschaftskrise des Kapitalismus seit Ende des Ersten Weltkrieges und durch Denk-Impulse der 1968er Bewegung, stieß auch in der Sozialdemokratie der Marxismus wieder auf Interesse. Marxist*innen in der SPD unternahmen den Versuch, die Geschichte des Sozialismus nach theoretisch hochwertigen Traditionsbeständen zu befragen und stießen dabei auf den Austromarxisten Otto Bauer,[3] dessen Hauptschriften in einer Werkausgabe wieder zugänglich gemacht wurden. Eurokommunisten schlossen sich dieser Rezeption an. Nach dem „langen Schweigen“ über Sozialismus und Marxismus nach dem Zusammenbruch des staatssozialistischen Weltsystems und der wieder offen zu Tage tretenden Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Gesellschaftssystems wurde der Faden der Austromarxismus-Rezeption Anfang der 2000er Jahre wieder aufgenommen. Noch immer schien der Austromarxist Otto Bauer eine ebenso ideale wie zeitgemäße Integrationsfigur der marxistischen Linken in der Sozialdemokratie zu sein. Richard Saage hob dementsprechend folgendes hervor: die Verteidigung des sozialdemokratischen Selbstverständnisses gegen den Kommunismus, der Kampf um die politisch-geistige Hegemonie über das Denken und Fühlen der Mehrheit der Bevölkerung, die Befürwortung der Koalition mit bürgerlichen Parteien in Zeiten des „Gleichgewichts der Klassenkräfte“, die Beschränkung der Vergesellschaftung der Produktionsmittel auf Ausnahmen und der „integrale Sozialismus“ als Konzept einer weltanschaulichen Pluralität der sozialdemokratischen Parteien.[4] Gegenüber Otto Bauer blieb Max Adler, genau wie Karl Renner, eine randständige Figur. Karl Renners Weg zum Sozialismus verlor mit der Absage an den Sozialismus einerseits und der Nähe zu Eduard Bernstein andererseits an Attraktivität, während Max Adler mit seiner „Buchstabentreue“ zur politischen Theorie von Karl Marx und Friedrich Engels weiterhin als zu radikal und nicht integrationsfähig erschien. Christoph Butterwegges Hinweis, dass Max Adlers Beitrag zur marxistischen Interpretation des Verhältnisses von Demokratie und Diktatur eine stärkere Aufmerksamkeit verdiene,[5] fand keinen Widerhall.  Weder in der marxistischen Staatsdiskussion noch in der sozialdemokratischen Diskussion über den Begriff „soziale Demokratie“ wird Max Adler gebührend berücksichtigt.

Was bleibt, ist ein sehr widersprüchliches Bild über Werk und Wirkung Max Adlers. Die einen würdigen Max Adler als Kantianer, die anderen als Marxisten, die einen sehen in ihm den eigentlichen (philosophischen) Begründer der „austromarxistischen Schule“, andere wiederum meinen, er habe sich durch seine linkssozialistischen Auffassungen nach 1914 selbst als Austromarxist disqualifiziert. Die einen rühmen, dass er dem Marxismus seinen Materialismus „ausgetrieben“ habe, die anderen stellen ihn an den Pranger, weil er in seinen politischen Überzeugungen dem Bolschewismus zu nahegekommen sei. Den einen war er als ewiger „Mahner und Prediger“ des Marxismus verhasst, den anderen – insbesondere der jungen Generation revolutionärer Sozialist*innen – ein willkommener und gefeierter Redner auf ihren politischen Schulungen. Die einen dankten ihm, dass er revolutionär gesinnte Sozialdemokrat*innen davon abgehalten hat, sich den Kommunisten anzuschließen, andere beschimpften ihn dafür als „Sozialfaschisten“. Neben dem Vorwurf, er habe durch seine originäre Verbindung von Marx und Kant eine der raffiniertesten Spielarten des Revisionismus hervorgebracht, finden sich bei anderen Interpreten seiner Philosophie Ansätze zu seiner Würdigung als Wegbereiter des „westlichen Marxismus“ bzw. der Praxisphilosophie. Für einige wenige gilt er als Visionär eines „Dritten Weges“ zwischen Reformismus und Linksradikalismus. Weit mehr halten seine politische Theorie jedoch für zu abstrakt, steril, dogmatisch und für die Tagespolitik völlig untauglich.

Um bildlich zu sprechen: Max Adler saß zwischen den Stühlen, beugte sich keinen Traditionen und Konventionen, wenn sie nicht dem aufstrebenden revolutionären Sozialismus verpflichtet waren. Was dem deutschen Linkssozialisten Paul Levi nachgesagt wird, ist auch für Max Adler zutreffend: Er war geistig frei und niemandes Knecht. Nur dem, der diese Haltung selbst lebte und schätzte, war Max Adler mit seinen Ideen und seinen Visionen auch wirklich willkommen.

Der Führer der österreichischen Sozialdemokratie, Otto Bauer, hatte anlässlich des 60. Geburtstages von Max Adler dessen Bedeutung wie folgt hervorgehoben: „Unsere Partei ist groß geworden. Mit ihrer Größe wächst notwendig die Arbeitsteilung in ihr. Die Teilaufgabe des Parlamentariers und des Organisators, des Gewerkschafters und des Genossenschaftlers, des Arbeiterbildners und des Erziehers nehmen uns in Anspruch. So droht uns allen in der Teilarbeit des Tages das geistige Band verloren zu gehen, das diese Teilarbeiten verknüpfen und ihren Sinn geben muss. Nichts wäre gefährlicher, als wenn wir in ödem, banausischen Praktizismus verfielen. Denn wenn die Klassenkämpfe immer bestimmt sind durch die ökonomischen Daseins- und Entwicklungsbedingungen der Klassen, so nehmen Kämpfe widerstreitender Klassen doch immer die Gestalt von Kämpfen widerstreitender Interessensysteme an; keine Klasse siegt, ohne dass sich ihre Idee den Ideen der zu besiegenden Klasse überlegen erweist. Darum soll uns Max Adlers Jubiläum eine Mahnung sein, über den praktischen Sorgen des Tages die Bedeutung des Kampfes an der Front der Ideen nicht zu unterschätzen.“[6] Diese Sinndeutung einer Max-Adler-Ehrung kann auch für die unsere ein Anknüpfungspunkt sein. Dennoch ist zu fragen, ob es nicht an der Zeit ist, die Bedeutung Max Adlers für die Geschichte des Sozialismus in einem weitergefassten Rahmen zu sehen, als es Otto Bauer und nach ihm viele andere Historiker getan haben. Otto Bauer hatte in seiner Festrede auch gesagt, das Max Adler bei allen seinen Verdiensten um den „geistigen Klassenkampf“ von der Tagespolitik nicht allzu viel verstanden habe. Hier stellt sich Bauer mit seiner indirekten Kritik an dessen Linkssozialismus an die Seite Karl Renners. In der Stunde der Gefahr der bürgerlichen Demokratie und eines Sieges des Faschismus gelte es, den „Klassengegner“ nicht zu provozieren, die Einheit der Partei um jeden Preis zu wahren, weil in der Einheit ihre Stärke liegt. So ehrenvoll der Linkssozialismus Adlers auch sein möge, er könne nichts zum Sieg des Sozialismus beitragen. Dieses Urteil wird bis heute tradiert. Wenn Linkssozialist*innen sich auf die Suche nach ihrer historischen Identität begeben, glauben sie, bei Otto Bauer fündig zu werden, Max Adler hingegen links liegen lassen zu können.

Es scheint die Zeit gekommen zu sein, das weit verbreitete Negativ-Urteil über Max Adler erneut auf den Prüfstand zu stellen und wieder an die konstruktive Rezeptionsline anzuknüpfen. 

Eine Antwort auf die Frage, warum Max Adler für die sozialistische Linke von Interesse ist, sollte mindestens drei Aspekte berücksichtigen:

Erstens: Innerhalb der sozialistischen Bewegung lassen sich Gruppierungen und Strömungen ausmachen, die sich selbst als linkssozialistisch verstehen oder als linkssozialistisch identifiziert werden. Ulrich (Uli) Schöler konstatierte 2021, dass in der SPD kein „diskursiv anspruchsvolles“ Angebot intellektuell-linkssozialistischer Strömungen auszumachen ist und in den Grünen keine „Restbestände“ ihrer linkssozialistischen Wurzeln mehr übriggeblieben sind, aber in der LINKEN neben linkslibertären, sozialdemokratischen und autoritär-kommunistischen Gruppen eine linkssozialistische Strömung beheimatet ist.[7] Mit der Rezeption des Erbes Max Adlers, insbesondere der Aufarbeitung seines Beitrages zum Linkssozialismus zwischen 1914 und 1939, der sogenannten „Zwischenkriegszeit“, können Linkssozialist*innen sich ihrer eigenen Geschichte vergewissern und ihr Profil mittels eines historischen Exkurses schärfen.

Zweitens: Die sozialistische Bewegung leidet an einem Theorie- und Strategiedefizit. Durch dieses doppelte Defizit leidet sie nicht nur an Glaubwürdigkeit bei den Sympathisant*innen, weil Nah- und Fernziele ebenso unvermittelt bleiben, wie das systematische Aufeinander-Beziehen ihrer praktischen Tätigkeiten in den einzelnen Politikfeldern, sondern auch, weil potenzielle Bündnispartner*innen nicht erkennen können, wo ein Zusammengehen möglich ist und wie eine Zusammenarbeit konkret gestaltet werden kann. Die Arbeit der Linkssozialist*innen in der Zwischenkriegszeit könnte hier als ein Lehrstück angesehen werden, das nicht nur den Denkhorizont weitet, sondern an dem auch die eigene Urteilsfähigkeit wachsen kann. 

Drittens: Wenn stimmt, dass der Austromarxismus das wohl anspruchsvollste Theoriegebäude des Marxismus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellt und Max Adler zu den exponierten Austromarxisten gehörte, dann ist fraglich, warum gerade seine Beiträge zur politischen Theorie des Sozialismus nach 1914 hier eine Ausnahme darstellten und hohen theoretischen Ansprüchen plötzlich nicht mehr genügen sollten. Solche Einschätzungen erwachsen aus einer inhaltlichen Ablehnung, haben aber nichts mit ihrer wissenschaftlichen Qualität zu tun. Alle Versuche, Max Adlers Werk zu relativieren oder gar zu entstellen, können nichts an der Tatsache ändern, dass es zu den anspruchvollsten Beiträgen des wissenschaftlichen Sozialismus gehört.

Es sei mir dazu eine persönliche Anmerkung gestattet. Auf Max Adler wurde ich bereits Anfang der 1980er Jahre rein zufällig aufmerksam. Während meines Studiums der Marxistisch-leninistischen Philosophie an der Karl-Marx-Universität Leipzig, das ich 1979 aufgenommen hatte, suchte ich im dritten Studienjahr nach einem Forschungsthema, zu dem ich eine Hausarbeit und eventuell meine Diplomarbeit schreiben könnte. Ich machte mich mit Prof. Dieter Uhlig bekannt, der das Forschungsprojekt „Geschichte und Theorie des Historischen Materialismus“ leitete, und er brachte mich auf Max Adler. Nachdem ich bei Adler von einer „Ineinandersetzung von Marx und Kant“ las, von einer „Vergeistigung der ökonomischen Grundbegriffe“ des Marxismus und vom „Sozial-Apriori“, war ich zunächst davon überzeugt, dass ich einen „klassischen Revisionisten“ vor mir habe, der ganz in das Lenin´sche Revisionismus-Schema passte. Diese Überzeugung schwand jedoch relativ schnell, als ich die politischen Schriften Max Adlers las und bis zu den Hintergründen seiner Marx-Rezeption vordrang. Wie Franz Mehring Anfang des 20. Jahrhunderts schwankte auch ich nun hin und her. Mehring sah Adlers Kantianismus als ein gefährliches Zugeständnis an die Marx-Revision Eduard Bernsteins. Gleichzeitig bescheinigte er Adler nach der Lektüre seiner Schrift „Marx als Denker“ (1908), einer der besten Marx-Kenner seiner Zeit zu sein.[8] Aus dem „lupenreinen Revisionisten“ Max Adler, wie ich ihn in meiner ersten Hausarbeit als Student präsentiert hatte, wollte ich aber nun nicht gleich einen „lupenreinen Marxisten“ machen, also die Vorzeichen der Interpretation einfach nur umkehren. Die Herausforderung war, Max Adler – wie es so schön heißt – dialektisch zu denken. Ich sah meine Aufgabe zunächst darin, ihn aus der Ecke des Revisionismus leninistischer bzw. stalinistischer Lesart herauszuholen. Dieses Ziel verfolgte ich dann in meiner Promotionsschrift, die ich 1988 verteidigen konnte. Der Begriff „Linkssozialismus“ schien mir dazu ein tauglicher Begriff zu sein. In der Charakterisierung Max Adlers als Linkssozialisten sah ich eine Möglichkeit, das metaphysische Schema „Marxismus oder Revisionismus“ zumindest im Ansatz aufzubrechen und Adler einer „Zwischenströmung“ – namentlich dem Linkssozialismus – zuzuordnen, um auf diesem Weg ein dialogisches Verhältnis zum Werk Max Adlers aufzubauen. Dieser Weg blieb mir nach 1990 allerdings mit dem Ausscheiden aus dem universitären Forschungsbetrieb versperrt.

Wenn ich heute wieder auf den Linkssozialismus Max Adlers zu sprechen komme, dann hat sich die Intention etwas gewandelt. Nach 1989 schien es kaum noch sinnvoll zu sein, über Marxismus und Sozialismus ernsthaft zu diskutieren. Für diejenigen, die sich in der bürgerlichen Welt eine neue Existenz aufbauen mussten, verloren diese Themen an Bedeutung. Inzwischen sind Marxismus und Sozialismus jedoch wieder sagbar und diskussionswürdig geworden, denn in allen Sphären der Gesellschaft wachsen Widersprüche und Konflikte zu Krisen aus, die regelrecht nach Lösungen schreien. Die „Logik des Profits“ führt uns weiter in eine Sackgasse hinein, mit ihr lässt sich kein Frieden schließen, weder mit der Natur noch mit anderen Völkern und Nationen, noch mit unseren Mitmenschen und auch nicht mit uns selbst. Es wird immer wieder behauptet, dass der Kapitalismus so anpassungsfähig an seine sich verändernden Existenzbedingungen sei, dass es zu ihm keine wirkliche Alternative geben könne und es ja auch wegen seiner Anpassungsfähigkeit keine Alternative zu geben brauche. Doch ist diese neue große Erzählung nicht bereits brüchig geworden? Die Frage „Sozialismus oder Barbarei“ drängt sich mit den neuen Kämpfen um Rohstoff- und Absatzmärkte wieder auf.

Was allerdings fehlt ist das Subjekt, das in der Lage ist, eine nachhaltige Systemtransformation auf den Weg zu bringen und zu gestalten. Die „Mächtigen und Reichen“ vor sich her zu treiben, sich um die Armen, Benachteiligten, Beeinträchtigten, an den Rand der Gesellschaft Gedrängten und Ausgestoßenen zu kümmern und die Daseinsfürsorge Stückchen für Stückchen gerechter zu machen, all das ist so ehrenhaft wie notwendig, es ist aber nicht mehr hinreichend. Wir brauchen eine ausgefeilte Transformationsstrategie für den notwendigen Systemwechsel. Mag der moderne Sozialismus auch mit neuen Attributen wie ökologisch, feministisch oder pazifistisch versehen werden, es verbindet sich mit ihm immer noch die marxistische Vision einer gerechten Gesellschaft und die Erkenntnis, dass diese im Kapitalismus nicht zu haben ist. Aus dieser Perspektive wird nun die Beschäftigung mit Max Adler erneut interessant, weil er mit Gleichgesinnten an einer Erneuerung der sozialistischen Transformationsstrategie gearbeitet hat, die die Fehler des Sozialreformismus ebenso wie die Fehler des Linksradikalismus zu überwinden suchte und die Synthese von Klassenkampf und Humanität, Solidarität und Selbstbestimmung, Sozialismus und Demokratie in den Mittelpunkt der Erneuerung stellte.  

Die zentrale Frage ist, ob von einem dialektischen Aufheben des verwaisten linkssozialistischen Erbes kreative Impulse für eine vertiefte Theorie- und Strategiediskussion innerhalb der sozialistischen Bewegung ausgehen könnte. Diese Frage zu stellen und ernsthaft zu diskutieren würdigt Max Adler mehr, als ihn für wenige Augenblicke auf einen Sockel zu heben, sich ehrfurchtsvoll vor ihm zu verneigen, um sich dann folgenlos wieder den Alltagsgeschäften zuzuwenden. Sein Leben war es, Wahrheit und Wahrhaftigkeit ans Licht zu bringen, als Jurist im Gerichtssaal, als Wissenschaftler in der Universität und als „Lehrer des Proletariats“ − wie er sich selbst nannte – während seiner Vortragtätigkeit, zu der er in zahlreichen Ländern Europas willkommen war.

Eine erste Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Studiums der Werke Max Adlers führt über die Kenntnisnahme seiner Grundpositionen. In folgenden acht Punkten möchte ich versuchen, sie in der gebotenen Kürze zu umreißen:

Erstens: Nachdem das Bürgertum seine eigenen Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Revolution von 1848 verraten hatte, ist es Aufgabe des Proletariats geworden, sie fortzutragen, sie zu verwirklichen. Das Proletariat kann zum Träger des gesellschaftlichen Fortschritts werden, weil seine eigenen Interessen mit denen der Menschheit zusammenfallen, mit Frieden, sozialer Sicherheit, Solidarität und Emanzipation. 

Zweitens: Der Sozialismus erschöpft sich nicht im Kampf um die Linderung sozialen Elends und sozialer Not sowie der Herstellung einer Verteilungsgerechtigkeit. Der Sozialismus ist der Weg zum Pazifismus, zum solidarischen Zusammenleben und zur vollen Entfaltung individuell geprägter menschlicher Wesenskräfte. Der Sozialismus ist eine Kulturaufgabe, die nur durch eine Kulturrevolution möglich ist.

Drittens: Die sozialistische Bewegung kann nur siegreich sein, wenn sie ihre Theorie und Praxis auf eine wissenschaftliche Soziologie stützt, den historischen Materialismus. Ihren Grundstein haben Karl Marx und Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“ gelegt. Ihre „Kritik der politischen Ökonomie“ ist eine geniale Anwendung ihrer soziologischen Methode. Ohne die Aneignung des Marxismus ist kein revolutionäres Klassenbewusstsein möglich und ohne revolutionäres Klassenbewusstsein keine sozialistische Revolution.

Viertens: Die Maximierung von Profit ist das Grundprinzip des Kapitalismus, das in alle Poren der Gesellschaft eindringt und sie in antagonistische Klassengegensätze spaltet. Der Kapitalismus ist ebenso aggressiv nach innen wie imperialistisch nach außen, er breitet sich weltweit aus und dominiert letztlich alle zwischenmenschlichen Beziehungen bis ins Private hinein. Soziale Gerechtigkeit, solidarisches und friedliches Miteinander wird es letztlich nur geben können, wenn die Macht der herrschenden Bourgeoisie gebrochen wird, die im Privateigentum an den Produktionsmitteln gründet.

Fünftens: Sozialismus bedeutet notwendig Klassenkampf, da die herrschende Klasse ihre Macht und ihre Privilegien nie freiwillig aufgeben wird und sie auch nicht davor zurückschreckt, Menschenleben für sie zu opfern. Dass die herrschende Klasse zur Sicherung ihrer Macht auch bereit ist die Demokratie zu opfern, beweisen die Tolerierung und Unterstützung des Faschismus hinlänglich. Die Demokratisierungstendenzen im Staat und der Parlamentarismus entspringen nicht den Entwicklungsgesetzen des „reinen Kapitalismus“, sondern sind Ergebnisse von Klassenkämpfen und Ausdruck eines latenten „Gleichgewichts“ der politischen Klassen.    

Sechstens: Die proletarische Bewegung ist stets daran gescheitert, dass das Klassenbewusstsein hinter den objektiven Lebensbedingungen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten zurückgeblieben ist. Sozialistische Parteiarbeit ist daher vorrangig Bildungsarbeit deren Inhalt darin besteht, dass die kapitalistische Gesellschaft von den Sozialist*innen geistig und moralisch überwunden wird und sie zur solidarischen Denk- und Handlungsweise befähigt werden. Die sozialistische Revolution ist immer auch eine Revolution des Bewusstseins. Dem bürgerlichen Bildungswesen und den bürgerlichen Massenmedien ist eine proletarische Öffentlichkeit entgegenzusetzen.

Siebtens: Demokratie lässt sich ohne Sozialismus nicht vollenden und Sozialismus ist ohne Demokratie nicht möglich. Die Unterdrückung von Demokratie, ob international, national oder innerparteilich, sind Fallstricke der sozialistischen Bewegung und damit nicht zu akzeptieren. Die Förderung und das Erleben von Mit- und Selbstbestimmung ist das sicherste Fundament der sozialistischen Bewegung.  

Achtens: Die sozialistische Bewegung hat sich klar und eindeutig vom linken Radikalismus wie vom rechten Reformismus abzugrenzen und einen Weg zum Sozialismus zu konzipieren, der die verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung und emanzipatorischen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft zu einer Einheit zusammenführt und den epochalen Transformationsprozess mit all seinen notwendigen Etappen glaubwürdig, weil situationsbezogen und als machbar vermitteln kann.

Diese acht Punkte stellen die konzeptionelle Grundlage dar, auf denen der Linkssozialismus Max Adlers aufbaut, und können gleichsam als Vorschlag für eine noch zu leistendes Forschungsarbeit angesehen werden, die den gesamten Facettenreichtum seines Wirkens in den Blick nimmt, die interdisziplinär angelegt sein sollte und die anerkennt, dass neue Erkenntnisse gerade an den Nahtstellen wissenschaftlicher Disziplinen, im Ineinandergreifen unterschiedlicher Praxisformen und an den Reibungspunkten der verschiedenen sozialen Bewegungen reifen.

Bevor ich den Linkssozialismus Max Adlers etwas näher charakterisiere, möchte ich drei Fragen erörtern: Was macht es heute immer noch so schwierig, sich das Erbe Max Adlers anzueignen? Worin besteht die Lebensleistung Max Adlers für die Entwicklung des wissenschaftlichen Sozialismus? Und: Wie lässt sich das Verhältnis von Austromarxismus und Linkssozialismus zueinander bestimmen? 

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[1] Alfred Pfabigan: Max Adler. Eine politische Biographie. Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York 1982.

[2] Christian Möckel: Sozial-Apriori: der Schlüssel zum Rätsel der Gesellschaft. Leben, Werk und Wirkung Max Adlers. Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Man 1993. Dieser Biographie liegt seine Habilitationsschrift zugrunde, die er am 1.2.1990 an der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel „Max Adler. Engagiertes Leben, theoretisches Werk und geistige Wirkung eines österreichischen Sozialisten“ in 2 Bänden vorgelegt hatte und erfolgreich verteidigen konnte.

[3] Siehe hierzu: Detlev Albers, Josef Hindels, Lucio Lombardo Radice u.a.: Otto Bauer und der „dritte Weg“. Die Wiederentdeckung des Austromarxismus durch Linkssozialisten und Eurokommunisten. Campus Verlag, Frankfurt am Main und New York 1978; Detlev Albers: Versuch über Otto Bauer und Antonio Gramsci. Zur politischen Theorie des Marxismus. Argument Verlag Berlin 1983; Otto Bauer: Theorie und Politik. Herausgegeben von Detlev Albers, Horst Heimann und Richard Saage. Argument Verlag Berlin 1985.

[4] Siehe ausführlich: Richard Saage: Zur Rezeption und Aktualität des Austromarxismus. Das Beispiel Otto Bauer. In: Pavlina Amon und Stephan-Immanuel Teichgräber (Hrsg.): Otto Bauer. Zur Aktualität des Austromarxismus. Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Frankfurt am Main 2010. S. 9ff.

[5] Siehe: Christoph Butterwegge: Austromarxismus und Staat. Politiktheorie und Praxis der österreichischen Sozialdemokratie zwischen den beiden Weltkriegen. Mit einem Geleitwort von Bruno Kreisky. Verlag Arbeit & Gesellschaft, Marburg 1991. S. 346.

[6] Otto Bauer: Max Adlers Leistung. In: Arbeiter-Zeitung. Wien. Zentralorgan der Sozialdemokratie Deutschösterreichs, 15. Januar 1933. S. 4.

[7] Uli Schöler: Linkssozialismus – historisch-essayistische Betrachtungen zum Gedenken des 70. Geburtstages von Detlev Albers (†). In: Michael R. Krätke, Max Reinhardt, Thilo Scholle und Stefan Stache (Hrsg.): SPD-Linke zwischen Revolution, linken Bewegungen und radikalem Reformismus. Linker Aufbruch in Geschichte und Biographien. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2021. S. 48.

[8] Siehe: Franz Mehring: Philosophische Aufsätze. Franz Mehring Gesammelte Schriften, Bd. 13, Herausgegeben von Thomas Höhle, Hans Koch und Josef Schleifstein, Dietz Verlag, Berlin 1977. S. 183ff.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2023