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Heft 240: Beiträge zum Austromarxismus

Über Max Adler, Otto Bauer, Wanda Lanzer und das Rote Wien

Von: Barbara Kintaert, Wolfgang Maderthaner, Richard Saage

Heft 240: Beiträge zum  Austromarxismus

Reihe "Pankower Vorträge, Nr. 240, 2023, 56 S.

Am 30. November 2018 führte die „Helle Panke“ eine Konferenz zum Thema
„100 Jahre Austromarxismus an der Macht. Der österreichische Weg zwischen Realpolitik und Revolution“ durch. Manchmal dauert es einige Zeit – in diesem Fall sogar Jahre – bis die Publikation zur Veranstaltung erscheint. Wir danken in diesem Falle für die Geduld.

Autor*innen:

Barbara Kintaert
Mag.a, bis zur Pensionierung 2020 als Dokumentarin der Sowidok in der
Bibliothek der Arbeiterkammer Wien tätig; priv. Engagement im Bereich
Holocaust-Forschung

Wolfgang Maderthaner
Senatsrat Doz. Dr. phil, Historiker, 1983–2012 wissenschaftlicher Leiter und Geschäftsführer des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung in Wien, von 2012 bis zur Pensionierung 2019 Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs

Richard Saage
Prof. Dr., 1992–2006 Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Autor u.a. „Der erste Präsident. Karl Renner, eine politische Biografie.“ (2016) und „Otto Bauer: ein Grenzgänger zwischen Reform und Revolution“ (2021)

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Inhalt

Richard Saage
Otto Bauer und die Österreichische Revolution 1918/19                           4

Wolfgang Maderthaner
Die bauliche Signatur des Roten Wien                                                         16

Barbara Kintaert
Wanda Lanzer: Staatswissenschaftlerin, Erwachsenenbildnerin
par excellence, Bibliothekarin, Dokumentarin, Archivarin                        26

Richard Saage
Zwischen Marx und Kant. Max Adlers neukantianischer Marxismus.      34

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LESEPROBE

Richard Saage
Otto Bauer und die Österreichische Revolution 1918/19[1]

I.

Im Jahr 2008, also 90 Jahre nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und der Gründung der Ersten Österreichischen Republik, hat Wolfgang Maderthaner[2] auf ein Dokument aufmerksam gemacht, das in der österreichischen Historiografie im Allgemeinen und in der Geschichte der deutschsprachigen Arbeiterbewegung einen einzigartigen Rang einnimmt: Otto Bauers 1923 erschienene Die Österreichische Revolution. [3] Tatsächlich legt Bauer mit dieser Schrift nicht nur einen transnationalen Ansatz, sondern auch ein gesellschaftshistorisches Lehrstück zu einem Zeitpunkt vor, als es unter der Hegemonie der positivistischen Wiener Schule diese Begriffe noch gar nicht gab. Es handelt sich nicht nur um die mehr oder weniger standortbezogene Bilanzierung der Erfolge und der Niederlagen der österreichischen Revolution in der Umbruchphase nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Diese Schrift ist vor allem, wie Maderthaner zu Recht hervorhebt, „ein distanziert angelegtes, gleichsam ‚verobjektiviertes’ wissenschaftliches Narrativ über das Ende der alten Welt“ .[4]

Dieses Narrativ legte Bauer freilich als eine Fallstudie im Schatten des großen Krieges an, die von dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarns ihren Ausgang nahm. Welche Entwicklung liegt der Tatsache zugrunde, so fragte Bauer, dass die ehemals „geschichtslosen Nationen“ der Tschechen, Polen und Südslawen „erwachten“ und gegen den „übernationalen Staat“ der Habsburger antraten? Welche Kräfte bewirkten es, dass die Kulturgemeinschaft der fremden Herrenklassen in diesen Nationen ihre Exklusivität in dem Maße aufgeben mussten, wie die Volksmassen ihre kulturelle Teilhabe erzwangen? Bauer beantwortet diese Fragen durch den Aufweis eines nationalen Integrationsprozesses, der in der kapitalistischen Vergesellschaftung seine Wurzeln hat. Der Erste Weltkrieg löste diese Entwicklung nicht aus, sondern beendete sie durch die militärische Niederlage der Mittelmächte. Sie schuf die politische Grundlage für die Herausbildung von souveränen Nationalstaaten, die die Auflösung des Habsburger Reiches beschleunigten und besiegelten.

Nach dieser Rekonstruktion der Genesis der sogenannten Nachfolgestaaten verengt sich Bauers Fokus auf Restösterreich, das von der nationalen, demokratischen und sozialen Revolution erst erfasst wurde, als die Auflösung des Vielvölkerstaats bereits irreversible Tatsache war. Aber dann kam es unter dem Druck revoltierender Massen in Wien und in den Industriezentren doch zum Bruch mit der Monarchie und zur Konstituierung der deutschösterreichischen Republik. Diese sich in nationalen, demokratischen und teilweise sozialen Formen vollziehende Transformation übertraf an Nachhaltigkeit, wie Bauer zeigt, sogar die der Tschechen, Südslawen und der Polen, die die von ihrer nationalen bzw. ihrer demokratischen Revolution gesetzten roten Linie niemals überschritten.

Ganz anders in Österreich. Hier wurden die beiden genannten Umbruchphasen mit ihrer Basis in der Arbeiterschaft sowie in großen Teilen des Bürgertums und der bäuerlichen Bevölkerung von einer sozialradikalen Periode abgelöst, deren Träger vor allem Arbeiter, Soldaten, Invaliden und Arbeitslose waren.[5] Bemerkenswert ist ferner, dass Bauer diese Engführung auf Deutsch-Österreich durchgehend korreliert mit den Ereignissen in der Frühphase der Weimarer Republik und den außenpolitischen Interessen der Entente einerseits und denen der jetzt souveränen Nationen des ehemaligen Vielvölkerstaats andererseits. Diese transnationale Dimension ergänzt er durch seinen bereits genannten gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz, der auf Strukturen und kollektive Akteure und nicht primär auf Personen fokussiert ist.

Gewiss, Bauers Werk ist auch Agitations- und Rechtfertigungsschrift eines aktiven Politikers und führenden Theoretikers des Austromarxismus. Aber es ist zugleich ein historiografisches Dokument, dessen literarische Brillanz und analytische Qualitäten niemand bestreiten kann. Man wird sogar behaupten können, dass Bauers Buch selbst eine zeitgeschichtliche Quelle ersten Ranges ist, weil seine Darlegungen aus der Feder eines Mannes stammen, der seine Einsichten aus einem Immediatverhältnis zu den historischen Ereignissen bezog, die eine konventionelle Geschichtsschreibung nur selten erreichen kann. Daher ist der Aussage des österreichischen Historikers Ernst Hanisch zuzustimmen: „Niemand, der sich mit der Entstehung der Ersten Republik beschäftigt, kann auch heute noch auf diese Darstellung verzichten“.[6] Diese Aussage trifft nicht trotz, sondern vor allem wegen Bauers Offenlegung seiner normativen Prämissen zu, die erkenntnisleitend für sein Interpretationsraster sind: Es ist ohne Abstriche ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse, das die unzähligen Fakten bündelt, um für die österreichische Arbeiterbewegung aus der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und des aus ihm folgenden Zusammenbruchs der Habsburgermonarchie eine Perspektive nach vorn aufzuzeigen.

Das Resultat liegt auf der Hand: In keinem historischen Werk widerspiegelt sich das Profil des „Austromarxismus an der Macht“ so prägnant wie in dieser Schrift. Sie ist ein Paradigma für das, was radikale sozialdemokratische Reformpolitik vermag, aber auch worin ihre Grenzen und die Möglichkeit ihres Scheiterns liegen. Im Folgenden wird in Anlehnung an Bauers Schrift die These vertreten, dass die Stärke der SDAP als führende Kraft in der Revolution auf die Wahrung ihrer Einheit ganz wesentlich zurückzuführen ist. Diese innere Geschlossenheit, so die zweite These, war ihrerseits in der Argumentation Bauers die Voraussetzung dafür, dass es der SDAP gelang, das Heer auf einen republikkonformen Kurs zu bringen und die kommunistischen Angriffe auf die Republik aus eigener Kraft abzuwehren.

II.

Wie Bauers zahlreiche Bezüge auf die deutsche Revolution und den Kapp-Putsch in der Weimarer Republik nahelegen, war er sich sehr wohl darüber im Klaren, dass bei allen Gemeinsamkeiten die entscheidende Differenz zwischen dem Systemwechsel in Deutschland und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg darin bestand, dass die beiden Hauptakteure und Träger der jungen Republik, SPD und SDAP, unterschiedlich aufgestellt waren: der eine gespalten, der andere geeint. Dass sich der Einheitsimperativ in der SDAP durchhalten konnte, hat den Verlauf des Umsturzes nachhaltig geprägt. Wenn ich richtig sehe, gibt es keinen Zeitzeugen, der diesen Tatbestand genauer analysiert hätte als Otto Bauer in seiner Die österreichische Revolution. Er beschreibt nicht nur die Situation, in der eine Spaltung drohte: die innerparteiliche Konfrontation zwischen Karl Renner und Friedrich Adler im Ersten Weltkrieg. Darüber hinaus untersucht er auch, warum die mögliche Spaltung nicht eingetreten ist und welche Resultate ihre Vermeidung generierte, die man so in der deutschen Revolution vergeblich sucht.

Allerdings war auf den ersten Blick die Ausgangssituation der SDAP und der SPD am Vorabend und zu Beginn des Ersten Weltkriegs durchaus vergleichbar. Zwar sah sich die sozialdemokratische Fraktion im Reichsrat nicht mit dem Problem der Abstimmung über Kriegskredite konfrontiert wie die SPD-Abgeordneten im Berliner Reichstag, weil das Parlament in Wien aufgrund der Nationalitätenstreitigkeiten noch vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges aufgelöst worden war. Doch angesichts der Bedrohung durch die Heere des zaristischen Russlands entschied sich die SDAP unter der Führung Victor Adlers und Karl Seitz’, unterstützt von der vorherrschenden Massenstimmung der eigenen Basis, mit Beginn des großen Krieges für eine ähnliche Burgfriedenspolitik wie die SPD unter Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann.

Bauer beschreibt sehr genau, mit welchen Argumenten Karl Renner auf dem rechten Flügel der Partei diese zunächst mit überwältigender Mehrheit gestützte Option der SDAP begründete. Spätestens seit Gelingen der militärischen Mobilisierung aller zehn Nationen der Monarchie sei für Renner die Kooperation mit den alten Eliten das Gebot der Stunde gewesen: Die SDAP müsse deren Kriegspolitik unterstützen, weil der Staatsgedanke über das Nationalitätenprinzip gesiegt habe. Die Neubildung kleiner Nationen auf den Trümmern der Monarchie sei eine „reaktionäre Utopie“. Die Zukunft gehöre den großen Wirtschaftsräumen des übernationalen Staates.

Solange die Furcht vor den Heeren des Zaren vorherrschte, so Bauer, brachte Renners Argumentation die Stimmung der Massen und der Partei auf den ideologischen Begriff. Aber in dem Maße, wie nach der Schlacht bei Gorlice die russische Gefahr gebannt schien, sich die Blockade der Entente auf die Lebensmittelnot in Österreich noch stärker auswirkte als in Deutschland, immer mehr Musterungen stattfanden, die Fabriken militarisiert und die Arbeiter unter Standrecht gestellt wurden, schlug Bauer zufolge die Stimmung der Massen um. Der Mann, der diesem Umschwung ein Gesicht und eine Stimme verlieh, war in Bauers Szenario Friedrich Adler. Nach seinem Attentat auf den Ministerpräsident Stürgk am 24. Oktober 1916 stieg er zum Idol der kriegsmüden Massen auf. Seine Gegenposition zu Renner wurde nun zu einem politischen Faktor, der durchaus das Potenzial einer Parteispaltung in Analogie zur deutschen Sozialdemokratie enthielt, in der die Differenzen zwischen MSPD und USPD, zwischen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht auf der einen sowie Gustav Noske und Friedrich Ebert auf der anderen Seite die Einheit der Partei sprengten.

Ähnlich scharf waren die ideologischen Differenzen zwischen Karl Renner und Friedrich Adler ausgeprägt.[7] Wenn Renner forderte, das Eigeninteresse des Proletariats verlange es, sich auf die Seite des Imperialismus der Mittelmächte zu stellen, der Annexionen in Osteuropa miteinschloss, dann mahnte Adler die unversöhnliche Opposition gegen den Imperialismus an sich an, „vor allem aber überall gegen den Imperialismus des eigenen Staates“ (II 562). Wenn Renner die Durchhalteparolen der Mittelmächte unterstützte, dann setzte sich Adler für die Beendigung des Krieges sowie für einen Frieden ohne Annexionen und ohne Kontributionen ein. Renners Ziel war es, mit Hilfe des Kriegsabsolutismus Österreich in einen demokratischen Bundesstaat der Völker zu verwandeln. „Adler dagegen rief zum Kampf gegen den Kriegsabsolutismus auf“ (II 662): Gegen ihn sei zunächst die bürgerliche Revolution und nicht mit ihm der Sozialismus durchzusetzen. Und nicht zuletzt verband Renner das Schicksal des übernationalen Staates der Monarchie mit der Zukunft der Sozialdemokratie, während Friedrich Adler den Standpunkt strikter Neutralität gegenüber dem österreichischen Staatsproblem einnahm: Ein Immediatverhältnis zum Staat kompromittiere die Sache des Sozialismus. Vorrangig sei vielmehr der Kampf gegen den Kriegsabsolutismus in den Betrieben und im Staat sowie für den Frieden und die Demokratie (II 563).

Wir wissen heute, dass das Spaltungspotenzial, für das die Positionen Karl Renners und Friedrich Adlers standen, in der SDAP neutralisiert wurde: Die „Erklärung der Linken“ sowie deren Nationalitätenprogramm, der Parteitag von 1917 und die Januarstreiks 1918 waren Stufen auf dem Weg der SDAP zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen und zum Übergang von der Monarchie zur parlamentarischen Demokratie, der in der Sicht Bauers  und der Linken nur in der Tradition der 1848er Revolution jenseits der Dynastien durchzusetzen war. Entscheidend für Bauers Interpretation dieses die Spaltung vermeidenden Prozesses ist, dass er dem „Eintritt der Massen in die Geschichte“ (Maderthaner) eine überragende Bedeutung beimaß. Wie selbstverständlich gab ihre Stimmung dem Kurs der Partei die Richtung vor. Der Wille sowohl des linken als auch des rechten Flügels der SDAP, nur mit und niemals gegen die Massen ihre Politik auszurichten, ist für Bauer der Schlüssel zur Erklärung der Einheit der Partei.

So konnten sich in den ersten Jahren des großen Krieges Renner und seit 1917 Friedrich Adler auf die Massen berufen und eine hegemoniale Aura für ihre Positionen reklamieren. Zwar sei die Linke die treibende Kraft der beschriebenen inneren Entwicklung der Partei gewesen, die ihr die zu lösenden Aufgaben der Revolution vor Augen geführt habe. Doch beide Richtungen hätten gleiches Verdienst daran, daß die Gegensätze innerhalb der Partei nicht durch die Spaltung der Partei versteinert, sondern durch die innere Entwicklung des Parteiganzen überwunden wurden.“ (II 581).

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[1] Eine längere Fassung dieses Textes erschien zuerst in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 66. Jg. (2018), S. 587-601. Dem Metropol-Verlag danke ich für die Abdruckerlaubnis.

[2] Wolfgang Maderthaner, Editorial, in: Otto Bauer. Die österreichische Revolution. Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung Wien. Dokumentation 2/2008, S 3f.

[3] Otto Bauer, Die österreichische Revolution, in: ders., Werkausgabe, Bd. 2, Wien 1976, S. 489-866. Die römischen Ziffern geben den Band, die arabischen Zahlen in den runden Klammern die Seitenzahlen im Text an.

[4] Maderthaner, Editorial, S. 4.

[5] Ernst Hanisch, Der große Illusionist Otto Bauer (1881-1938). Wien 2011, S. 147.

[6] Ebd., S. 188. Zum Stand der Forschung über die österreichische Revolution vgl. Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hrsg.), ... der Rest ist Österreich, Bd. 1 u. Bd. II, Wien 2008.

[7] Vgl. Richard Saage, Der erste Präsident. Karl Renner – eine politische Biografie, Wien 2016, S. 106-114.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2023