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Heft 69: Marx’ irreführende Utopie eines „Vereins freier Menschen“

Von: Frank Kuhne

Heft 69: Marx’ irreführende Utopie eines „Vereins freier Menschen“

Reihe "Philosophische Gespräche", 2024, Heft 69, 55 S.

Am 14. Dezember 2023 hielt Frank Kuhne im Rahmen der Veranstaltungsreihe Philosophische Gespräche einen Vortrag zum Thema Der "Verein freier Menschen" – zu Marx‘ irreführender Utopie in den Räumen der Hellen Panke im Prenzlauer Berg. Wir bedanken uns bei ihm für den Vortrag und für die Möglichkeit, diesen in verschriftlichter Form im vorliegenden Heft veröffentlichen zu dürfen.

Autor
PD. Dr. Frank Kuhne

Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie in Braunschweig und Hannover, promoviert mit einer Arbeit über Marx (Begriff und Zitat bei Marx. Die idealistische Struktur des Kapitals und ihre nicht-idealistische Darstellung), habilitiert mit einer Arbeit über Kant und Fichte (Selbstbewusstsein und Erfahrung bei Kant und Fichte. Über Möglichkeiten und Grenzen der Transzendentalphilosophie).

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Inhalt

Marx’ irreführende Utopie eines „Vereins freier Menschen“                           5
Der Sprung aus der Philosophie                                                                          9
Der Sprung zurück in die Philosophie                                                              22    
Zu Marx‘ defizientem Freiheits- und Politikbegriff                                         39
Die Errichtung des Vereins freier Menschen ist auf der
Grundlage der marxschen Bestimmungen keine reale Möglichkeit          47
Anhang                                                                                                                  59

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LESEPROBE

Marx’ irreführende Utopie eines „Vereins freierMenschen“[1]

Der Titel dieser Schrift lässt den marxistisch geschulten Verstand nichts Gutes erwarten. Er wird in der Regel davon ausgehen, dass hier wieder einmal typisch bürgerlicher Unsinn über die marxsche Theorie verbreitet werden soll. Der Titel scheint nämlich zu suggerieren, die marxsche Theorie kreise um eine zukünftige Gesellschaftsform, eine gesellschaftliche Utopie, während sie doch in Wahrheit die Analyse und Kritik der bestehenden bürgerlich-kapitalistischen Produktionsverhältnisse bezweckt und Marx Gesellschaftsutopien nur für die Frühzeit der sozialistischen Bewegung ein historisches Recht zugesprochen hat.[2] In der Tat wird jeder, der das Kapital gelesen hat, bestätigen, dass in ihm nur ganz am Rande von der anvisierten nachkapitalistischen Gesellschaftsform die Rede ist. Und Marx selbst hat in den Randglossen zu Adolph Wagners ‚Lehrbuch der politischen Ökonomie‘ zu Protokoll gegeben, er habe „niemals ein ‚sozialistisches System‘ aufgestellt“ (RAW 357) – „Rezepte für die Garküche der Zukunft zu verschreiben“, heißt es im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapitals (K I² 704/25), sei nicht seine Sache. Adorno hat den vermeintlichen Antiutopismus Marxens auf die bekannte griffige Formel vom „Bilderverbot“[3] gebracht. Allerdings hat er an anderer Stelle, im Gespräch mit Ernst Bloch, die Formel wieder zurückgenommen: „Wenn es wahr ist, daß ein Leben in Freiheit und Glück heute möglich wäre, dann wäre die eine der theoretischen Gestalten der Utopie […], daß man konkret sagen würde, was bei dem gegenwärtigen Stand der Produktivkräfte der Menschheit möglich wäre“.[4] Für diese theoretische Gestalt der Utopie sei er aber nicht zuständig.

Tatsächlich hat sich Marx kein Bilderverbot auferlegt. Wenn er von der anvisierten nachkapitalistischen Gesellschaft spricht, die er als „Verein freier Menschen“ (K I² 109/92), als „höhere Gesellschaftsform“ (K I² 543/618), „höhere[] Phase der kommunistischen Gesellschaft“ (KGP 15/21) bezeichnet oder als „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MKP 482), dann kommt er gar nicht umhin, deren Charakteristika zumindest anzudeuten. Seine Darstellung der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft ruft zwangsläufig das Gegenbild einer durch die vereinigten Produzenten geplanten gesellschaftlichen Produktion hervor. „Der Witz der bürgerlichen Gesellschaft“, so Marx 1868 an seinen Freund Ludwig Kugelmann in Hannover, „besteht ja eben darin, daß a priori keine bewußte gesellschaftliche Reglung der Produktion stattfindet.“ (MEW 32: 552 f.) Dagegen würden in der „höheren Gesellschaftsform“ laut dem ersten Band des Kapitals die Menschen „mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben“. (K I² 109/92) Allerdings hat Marx auch deutlich gemacht, dass die gemeinschaftliche Regelung der gesellschaftlichen Produktion durch die Produzenten die künftige Gesellschaftsform nicht schon zur „höheren“ qualifiziert. Was sie dazu qualifiziert, sei vielmehr ihr „Grundprinzip [der] volle[n] und freie[n] Entwicklung jedes Individuums“. (K I² 543/618)

Ich möchte in der gebotenen Kürze versuchen, die folgende These zu erhärten: Mit den Mitteln des ‚marxschen Denkens‘ lässt sich das Prinzip der höheren Gesellschaftsform nicht konsistent bestimmen und die reale Möglichkeit einer im emphatischen Sinne freien Gesellschaft nicht dartun. Um vielleicht naheliegende Missverständnisse auszuschließen, schicke ich zwei Bemerkungen voraus.

Erstens: Wenn hier vom ‚marxschen Denken‘ die Rede ist, dann meint der Ausdruck die Denkmotive, Thesen und Lehrstücke, die sich in den marxschen Schriften finden. Die überwiegende Mehrheit der Interpreten bezieht sich darauf in geistes- oder ideengeschichtlicher, sprachkritischer oder methodologischer Weise. Nun hat Marx in den über 40 Jahren theoretischer Tätigkeit bekanntlich verschiedene Thesen und Lehren vertreten, deren Verträglichkeit nicht schon dadurch gesichert ist, dass er sie vertreten hat. Es sollte klar sein, dass die Betrachtung seiner Denkentwicklung zu unterscheiden ist von der Frage nach dem sachlichen Gehalt seiner Theorie. Die Einheit der Denkentwicklung ist zuletzt biografischer Natur, die Einheit der Theorie ist selbst theoretischer Natur. Zwischen dem Denken eines Theoretikers und dem sachlichen Gehalt der Theorie, in die dieses Denken mündete, ist in dem Moment zu unterscheiden, in dem an die Theorie die Wahrheitsfrage gestellt wird. Das heißt natürlich nicht, dass damit die Denkentwicklung ignoriert werden könnte. Ihre Untersuchung ist im Gegenteil unerlässlich, wird doch erst durch sie der Problemhorizont sichtbar, dem sich Marx gegenüber sah und werden die theoretischen Mittel deutlich, die ihm zur Verfügung standen.

Zweitens sei betont: Meine Ausführungen zielen nicht auf die ‚Auspinselung‘ der marxschen Utopie auch nicht auf einen exakten Plan ihrer Realisierung, sondern auf den Begriff und die reale Möglichkeit des Vereins freier Menschen. Meine These beweist nicht, dass ich den Charakter der Kapitaltheorie als Analyse und Kritik der bürgerlichen Produktionsweise nicht ernst nehme. Ich behaupte im Gegenteil: Wer diesen Charakter ernst nimmt, möchte wissen, was das so genannte Grundprinzip der ‚höheren Gesellschaftsform‘ näher besagt und inwiefern die Verwirklichung dieser Gesellschaftsform, wie von Marx behauptet, prinzipiell möglich ist. Meine Kritik will auch nicht die Möglichkeit einer nachkapitalistischen und im emphatischen Sinne freien Gesellschaft widerlegen, wohl aber die marxsche Vorstellung davon.

So viel vorab zur Vorstellung und Verteidigung meines Vorhabens. Der Text gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil thematisiert die Problematik der dem Kapital immanenten Utopie. Mit dem „Grundprincip“ der höheren Gesellschaftsform nimmt Marx ein normativ ausgezeichnetes Prinzip in Anspruch, das er auf der Grundlage der von ihm (und Engels) proklamierten „positiven materialistischen Wissenschaft“ nicht in Anspruch nehmen kann. Diese Wissenschaft fordert den Sprung aus der Philosophie, das Grundprinzip verweist aber auf philosophische, näher feuerbachsche Voraussetzungen. Seine Einführung impliziert den Sprung zurück in die Philosophie (1). Der zweite Teil handelt von den beiden Varianten, in denen Marx den Sprung zurück in die Philosophie zwar nicht als solchen thematisiert, aber faktisch vollzieht, und damit von den beiden Varianten, in denen er die Utopie der höheren Gesellschaftsform skizziert (2). Der dritte Teil handelt von seinem defizienten Freiheits- und Politikbegriff. Marx’ von Feuerbach geborgter Begriff der Freiheit des Menschen und sein ideologiekritisch verkürzter Politikbegriff lassen ihn verkennen, dass auch die nachkapitalistische höhere Gesellschaftsform notwendig eine politische Dimension besäße. (3) Der vierte Teil handelt von Marx’ inkonsistenten Vorstellungen hinsichtlich der realen Möglichkeit dieser Utopie. Der Übergang in die entwickelte kommunistische Gesellschaft ist Marx zufolge nur dann möglich, wenn den Individuen die Arbeit selbst zu ihrem „ersten Lebensbedürfnis geworden“ ist. Diese Bedingung widerspricht der von Marx skizzierten zweiten Utopie-Variante und ist obendrein prinzipiell nicht zu erfüllen. (4)

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[1] Ausführlich beschäftige ich mich mit dem Thema in: Marx und Kant. Die normativen Grundlagen des ‚Kapitals‘, Weilerswist 2022.

[2] „Die Bedeutung des kritisch-utopischen Sozialismus und Kommunismus steht im umgekehrten Verhältnis zur geschichtlichen Entwicklung.“ MKP 491.

[3] Theodor W. Adorno: „Fortschritt“, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von R. Tiedemann, Bd. 10.2, Frankfurt am Main 1970 ff., 627. Vgl. 2. Mose 20,4: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen.“

[4] „Etwas fehlt…Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht“, in: Gespräche mit Ernst Bloch, hrsg. von R. Traub und H. Wieser, Frankfurt am Main 1980, 70 f.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2024