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Heft 210: Keine Frage der Interpretation: Russland gehört zu Europa

Von: Armin Jähne

Heft 210: Keine Frage der Interpretation: Russland gehört zu Europa

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 210, 2017, 48 S.
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Das vorliegende Heft enthält eine Studie zur Wechselwirkung von Russland und (West)europa, zum Auf und Ab ihrer Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart, ebenso zum russischen Blick auf Europa, der sich vornehmlich in den Ansichten und Urteilen der Slawophilen widerspiegelt und im Gegensatz von "Wir" und "Sie" (den Anderen) fassbar wird. Der am 31. Mai 2017 im Rahmen einer Veranstaltung der Hellen Panke gehaltene Vortrag "Europa und Russland? Das Auf und Ab im Russland-Europa-Verhältnis in Vergangenheit und Gegenwart" fußt auf dem zweiten Teil dieser Studie.
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Autor: Armin Jähne

Prof. Dr. sc., Studium und Aspirantur an der Historischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität (1961–1970): Alte Geschichte, Geschichte Russlands und Südosteuropas, Kunstgeschichte. Wissenschaftshistoriker. 1970–1992 Leiter des Bereichs bzw. Seminars Alte Geschichte an der HUB. Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V.
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INHALT

Vorbemerkung

1. Der geographische Faktor

2. Der historische Aspekt

Von der Rus bis zu Nikolaus I.
Die Krim und die Meerengenfrage (1783–2014)
Vom Ersten Weltkrieg bis zu Wladimir W. Putin
Russland – Schutzwall und Befreier Europas

3. Der russische Blick auf Europa

Peter der Große
Slawophile und Westler
"Wir" und "Sie" (die Anderen)
Nikolai Karamsin
Apollon Grigor'ew
Konstantin Leont'ew
Iwan Gontscharow
Alexander Blok
Andrej Belyj
Iwan Il'in
Andrej Shdanov
Slawophile und Europa

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LESEPROBE

Vorbemerkung

Klemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich (1773–1859) äußerte einst gedankenschwer, dass Politiker, wenn sie über andere Länder urteilen, oft genug zwei Faktoren vergessen: ihre Geschichte und Geographie. Sie zu beachten ist geradezu unumgängliche Pflicht, will man sich mit einem so komplizierten und vielschichtigen Problem wie der Frage befassen, ob Russland zu Europa gehört. Manch einer wird Unverständnis äußern und sagen, dass diese Frage überflüssig sei und man sich deshalb mit ihr nicht beschäftigen müsse. Andererseits ist das "Problem Russland und Europa ... ein weltgeschichtliches Problem von solchem Rang, dass die Geschichtsschreibung als Ganzes sich mit ihm auseinandersetzen muss"[1].

Ich denke, dass diese Frage angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu Recht zu stellen ist und auch provozieren soll, um zu einem intensiveren Nachdenken über den Russland-Europa-Komplex oder, modern gesagt, den Russland-Code, anzuregen. Nolens volens vermitteln heute die Massenmedien den Eindruck, als würde zwischen Europa und Russland ein schwer überbrückbarer Gegensatz bestehen, wobei mir scheint, dass es grundsätzlich falsch ist, von einer gegenseitigen Ausschließlichkeit Russlands und Europas zu reden. Deshalb wende ich mich zuerst den geographischen und dann den historischen Gegebenheiten zu. Ganz bewusst werde ich die Beschreibung Europas von seiner Ostgrenze her beginnen. Schließlich wird dargelegt, wie die Russen selbst ihr Verhältnis zu Europa, d.h. Mittel- und Westeuropa, bewerten und definieren. Eine Erweiterung des Problems würde die jahrhundertelangen breiten und vielfältigen kulturellen Kontakte zwischen Russland und Westeuropa betreffen, jedoch den vorgegebenen Rahmen dieser Studie sprengen. Als historisch durchgehender Strang vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart wird das "Problem Krim" dargestellt, um zu zeigen, wie aus geopolitischen Sachzwängen machtpolitisch motivierte Geostrategien werden.

1. Der geographische Faktor

Europa beginnt, geographisch gesehen, im Osten am Ural, dem Gebirge und dem gleichnamigen Fluss. Im Südosten schließt die Kumo-Manytschesker-Senke (Кумо-Манычская Впадина) Europa gegen den Kaukasus ab. Alles, was jenseits dieser Grenzen liegt, Kasachstan, Georgien, Armenien, Tschetschenien oder Azerbaidzhan, gehört geographisch nicht mehr zu Europa, es sei denn, Europa expandiert über diese Grenzen hinaus, wenn, wie unlängst erlebbar, europäische Sportspiele in Baku stattfinden. Zum Vergleich: Im August 1920 fand an eben diesem Ort der "Erste Kongress der Völker des Ostens" statt – mit Delegierten aus dem Kaukasus, der Türkei, aus Mittelasien, Indien und anderen asiatischen Ländern.

Die europäische Ostgrenze als solche ist zwar erst im 18. Jahrhundert festgelegt worden – im Zusammenhang mit der geographischen Bilanzierung des sich weit nach dem Osten ausdehnenden russischen Reiches. Für den Russen, der in Sibirien geboren wurde, dort aufwuchs und sesshaft blieb, lagen in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts Europa, das europäische Russland – exakt gesprochen – "hinter dem Gebirge" oder "auf der anderen Seite des Gebirges", also westwärts und jenseits des Ural-Gebirges.[2] Noch in der Antike ließ man Europa am Tanais, dem Don, enden, während man – vom damaligen Kenntnisstand ausgehend – über die Begrenzung im Norden, von woher der Gott Boreas die eiskalten Winde schickte, nichts Genaueres wusste. Bemerkenswert dabei ist, dass Boreas die Tochter des mythischen athenischen Königs Erechtheus entführte und zur Frau nahm. Peter Paul Rubens (1577–1640) hat den Raub in einem Bild rezipiert. Michail M. Schtscherbatow (1733–1790), der eine mehrbändige "Russische Geschichte von den ältesten Zeiten" an (bis 1610) verfasste, sprach von Sarmatien und Skythien als europäischen Ländern.[3] Skythen und Sarmaten im späteren ukrainischen und russischen Süden waren also europäische Völker ganz im Sinne antiker Vorstellungen. So nannte sich der Historiker Nikolaj M. Karamzin (Karamsin, 1766–1826) im Mai 1790 in Paris einen "jungen Skythen".4] Mit Bedacht hat auch der Dichter Johannes Bobrowski (1917–1965), der unermüdliche geistige Mittler zwischen Ost und West, für seinen ersten Gedichtband den Titel "Sarmatische Zeit" (1961) gewählt.[5]

Im Westen endet Europa am Atlantik, einige vorgelagerte Inselgruppen mitgerechnet, und reicht im Norden bis Island und Spitzbergen. Europa in seiner Gesamtausdehnung von 10,5 Mio. km² entspricht in der Fläche etwa der Größe Australiens (mit Ozeanien) von 8,5 Mio. km²,[6] und die Hälfte davon ist russisches Territorium. Angesichts seiner Ausdehnung fragt man sich, was dann das ständige Gerede von Europa als einem Appendix, oder, auf die Spitze getrieben, eines "Wurmfortsatzes" der asiatischen Landmasse soll. Genauso gut ließe sich Europa mit seinem sich so abendländisch gebenden, vielverzweigten Christentum als kulturelles Erbstück Asiens denken. Das zu behaupten, ist in gewisser Weise sogar berechtigt.

Die geographische Zuordnung Russlands zu Europa ist auf jeden Fall gesichert. Sie war eine "rein physische, sozusagen geographische Tatsache", so der Publizist und Religionsphilosoph Petr Ja. Tschaadaev (1794–1856).[7] Mehr noch, ohne das russische europäische Territorium wäre das restliche Europa tatsächlich nur die nordwestlichste Spitze des asiatischen Kontinents.

[1] Erwin Hölzle: Russland und Europa. In: Die Welt als Geschichte. Jg. 14, 1954, H. 3/4, S. 165, Anm. 1. Im Moment ist viel vom "Verstehen Russlands" die Rede. Vor dem Hintergrund des Russland-Ukraine-Konflikts beispielgebend Gabriele Krone-Schmalz: Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. München 2015.

[2] Iwan A. Gontscharow (1812–1891) in seinem Bericht "Durch Ostsibirien". In: ders.: Ein Monat Mai in Petersburg. Erzählungen. Leipzig-Weimar 1988, S. 199, 201, 208, 216, 224. Der Amerikaner George Kennan (1845–1924), der Sibirien dreimal bereist bzw. dort gearbeitet hatte (1865–67, 1870, 1885), unterschied eine russisch-europäische und eine sibirisch-asiatische Seite (oder Hang) des Ural-Gebirges, wobei die russisch-sibirische Grenze noch etwas weiter östlich verlief. Ders.: ... und der Zar ist weit. Sibirien 1885. Berlin 1981, S. 41, 51, 53, 55.

[3] Michail O. Kojalovič: Istorija russkogo samosoznanija po istoričeskim pamjatnikam i naučnym sočinenijam (= Die Geschichte des russischen Selbstbewußtsein nach den historischen Denkmälern und wissenschaftlichen Werken). St. Petersburg 1893, S. 120.

[4] Nikolai M. Karamsin: Briefe eines russischen Reisenden. Berlin 1977, S. 465.

[5] Johannes Bobrowski: Sarmatische Zeit. Gedichte. Berlin 1961; Gerhard Wolf: Beschreibung eines Zimmers. 15 Kapitel über Johannes Bobrowski. Berlin 1981, S. 8, 54–72, 80–84.

[6] Zum Vergleich Nord- und Mittelamerika – 24,2 Mio km², Südamerika – 17,8 Mio km².

[7] Peter Tschaadajew: Schriften und Briefe, München 1921. Zit. nach Erwin Hölzle: Russland und Europa. A.a.O., S. 168. Der Osteuropa-Historiker Erwin Hölzle (1901–1976) war Anhänger des deutschen Nationalsozialismus, Mitgied der NSDAP und stand nach 1945 politisch rechts.

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