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Heft 197: Von Glanz und Elend deutscher Antikriegsliteratur zwischen zwei Weltkriegen

Von: Sigrid Bock

Heft 197: Von Glanz und Elend deutscher Antikriegsliteratur zwischen zwei Weltkriegen

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 197, 2015, 60 S.

Das vorliegende Heft enthält die wesentlich erweiterte Fassung des Vortrages der Autorin im Seniorenklub, einer Veranstaltungsreihe der „Hellen Panke“ e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, vom 28. Oktober 2014 im Karl-Liebknecht-Haus.

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Autorin:
Sigrid Bock, Prof. Dr., Literaturwissenschaftlerin, Berlin

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INHALT
Erster literarischer Widerstand
Massenhaft Bücher, massenhaft Leser
Neue Wirklichkeit – neue Schreibweisen
Der Triumph des Krieges dauert ...
Zwei Beispiele:
Ernst Jünger: „In Stahlgewittern“ und Ludwig Renn: „Krieg“
Ernst Jüngers Kriegserlebnisse und sein Buch „In Stahlgewittern“
Ludwig Renns Anliegen, die „Wahrheit über den Krieg zu schreiben“

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LESEPROBE

Bereits 1889 erschien in Dresden ein Roman mit dem programmatischen Titel „Die Waffen nieder!“ Die österreichische Schriftstellerin Bertha von Suttner rief ihre Leser auf, Kriege, das Morden von Menschen nicht länger zu dulden. Schafft der Welt endlich Frieden! forderte sie. Wilhelm Liebknecht – Chefredakteur des „Vorwärts“ – ließ ihren Roman in einer Fortsetzungsreihe vom 20. August bis 22. November 1892, drei lange Monate, im Zentralorgan der „Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“ veröffentlichen. Der „Vorwärts“, der „wohl von allen deutschen Zeitungen den größten Leserkreis“ habe, wie Liebknecht der Autorin schrieb, gab damit den Roman Lesern in die Hand, die sich zumeist noch immer scheuten, die Schwelle zu einer Buchhandlung zu überschreiten. Hatte Bertha von Suttner vor allem an Leser aus dem Adel und dem Bürgertum gedacht, so lasen jetzt auch Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Geschichte. Mitten im Streit um eine Erhöhung des Rüstungsetats im deutschen Kaiserreich, wogegen sich PazifistInnen und SozialdemokratInnen erbittert wehrten, wurden sie von einer Schriftstellerin unterstützt. Gemeinsam setzten sie sich mit der lebensentscheidenden Frage ihrer Zeit auseinander, konnten sie die Nähe im Verfolgen gemeinsamer Interessen spüren: Für sie lag Deutschlands Zukunft nicht im Krieg, einzig im Frieden mit seinen Nachbarn.

Der Roman wurde zum Bestseller. Übersetzungen in mehrere Sprachen trugen ihn weit über die österreichischen und deutschen Grenzen hinaus. Auch in den USA wurde er debattiert, und in Dänemark begannen 1913 Regisseure sogar damit, ihn in das neue Medium eines Films zu verwandeln. Dennoch galt damals die Haltung der Autorin, als Schriftstellerin teilhaben zu wollen an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen ihrer Zeit, als Ausnahme. „Der Friedensliga wollte ich einen Dienst leisten“, hatte sie geäußert, und dem entsprechend wurde die Botschaft des Romans, ab sofort Kriege als Mittel der Politik abzulehnen, als Tendenzmacherei und der Literatur abträglich kritisiert. Für Jahre blieb das Buch „Die Waffen nieder!“ eine Ausnahme. Die Uraufführung des Films war für den 17. September 1914 geplant. An diesem Tage sollte in Wien ein von der kleinen internationalen Friedensbewegung organisierter neuer Weltfriedenskongress beginnen, der Film ihn feierlich eröffnen. Es kam nicht dazu. Seit August sprachen die Waffen. Der erste Weltkrieg hatte begonnen.[1]

Am 4. Oktober 1914 ließen 93 deutsche Intellektuelle, darunter Schriftsteller von Weltrang wie Gerhart Hauptmann, einen Aufruf „An die Kulturwelt!“ veröffentlichen. Er charakterisierte die Haltung der meisten deutschen Autoren während der ersten Kriegsmonate. Die Forderung Bertha von Suttners war vergessen oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen worden. Der Krieg wurde zur Notwendigkeit erklärt, verteidigt als „Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe“. Die Unterzeichner des Aufrufs protestierten gegen angebliche „Lügen und Verleumdungen“, die der „eherne Mund der Ereignisse“ widerlegt hätte. Vor allem an die Adresse Frankreichs und Englands gerichtet, schrieben sie: „Es ist nicht wahr, dass unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit.“ „Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.“ Den deutschen Militarismus erhoben sie zum Kulturgut. „Es ist nicht wahr“, hieß es weiter, „daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutze ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei.“ Diese Intellektuellen wähnten sich im Vollbesitz allen Wissens. Ihre Stimme sollte die „Verkünderin der Wahrheit“ sein.[2] Kein anderer als Ernst Jünger hielt ihnen sechs Jahre später den Spiegel vor. Als Augenzeuge bewies er, dass sie der kaiserlichen Kriegspropaganda und Demagogie auf den Leim gegangen waren. In seinem Buch „In Stahlgewittern“ beschrieb er ausführlich, wie deutsche Soldaten auf Befehl ihrer Offiziere belgische und französische Städte und Dörfer, die sie verlassen mussten, zerstörten und verheerten: „Die Dörfer, die wir auf unserem Marsch nach vorn passierten, hatten das Aussehen großer Tollhäuser angenommen. Ganze Kompanien stießen und rissen Mauern um oder saßen oben auf den Dächern und zertrümmerten die Ziegel. Bäume wurden gefällt, Scheiben zerschlagen, rings stiegen von gewaltigen Schutthaufen Rauch und Staubwolken auf, kurz, es wurde eine Orgie der Vernichtung gefeiert.“[3]

Erster literarischer Widerstand
Einige wenige Schriftsteller nur widersetzten sich von Anfang an dem Kriegstaumel, behielten einen klaren Kopf. Schon im September 1914 hatte Hermann Hesse seinen Aufsatz „O Freunde, nicht diese Töne!“ veröffentlichen lassen. Er bemühte sich, „ein Stück Frieden zu erhalten, Brücken zu schlagen, Wege zu suchen“ zu einer Zukunft Europas, kritisierte diejenigen Autoren, die einen Kriegsausbruch rechtfertigten und halfen, „das Schlimme zu verschlimmern, das Häßliche und Beweinenswerte zu vermehren“. Mit der Anspielung auf Schillers Ode und Beethovens Symphonie der Menschheitsverbrüderung erinnerte er sie an das, was auch er als die Aufgabe eines Künstlers empfand, und er ermahnte sie, zu „Gerechtigkeit, Mäßigung, Anstand, Menschenliebe“ zurückzufinden.[4] Ein anderer Autor machte schon seit Januar 1914 von sich reden: Heinrich Mann. Sein Roman „Der Untertan“ erschien bereits seit Jahresbeginn in einer Fortsetzungsreihe der Zeitschrift „Zeit im Bild. Moderne Illustrierte Wochenzeitung“, obwohl Heinrich Mann ihn erst im Sommer 1914 vollenden konnte. Allerdings: Der beabsichtigte Untertitel „Geschichte der öffentlichen Seele unter Wilhelm II.“ musste bereits gestrichen werden, und mit Beginn des Krieges verschwand der Vorabdruck gänzlich. Auf die Buchausgabe mussten Autor und Leser bis zur Aufhebung der Zensur, bis Dezember 1918, warten. „Der Untertan“ ist das nachhaltigste Literaturdokument dieser Zeit. Seine satirische Abrechnung mit der militaristischen Gesellschaft unter Wilhelm II., die auf einen Krieg zusteuert, mit Diederich Heßling, dem Fabrikanten, der nach oben buckelt und nach unten tritt, als Hauptfigur, gelang Heinrich Mann ein Roman, der bis heute im Gedächtnis vieler Leser weiterlebt. (Es war ein Treppenwitz der Geschichte, dass der Roman, übersetzt ins Russische, in einem anderen Land vollständig gelesen werden konnte. Vom Januar bis Oktober 1914 – die Monate Juli und August ausgenommen – wurde er in Petersburg in einer Zeitschrift veröffentlicht, und wenige Monate später, 1915 schon, erschien dort auch die russischsprachige Buchausgabe – drei Jahre, bevor der deutsche Leser das Buch in seiner Heimatsprache in den Händen halten konnte.)

Dem Roman folgte ein kleiner Essay, groß durch künstlerische Kraft und Gedankenreichtum. Bereits im November 1915 konnte er in der von Renė Schickele herausgegebenen Zeitschrift „Die weißen Blätter“ veröffentlicht werden. Mitten im Kriegstaumel – deutsche Soldaten wähnten, mit dem Schlachtruf „Jeder Stoß – ein Franzos“ gen Paris stürmen und Frankreich unterwerfen zu können – rühmte Heinrich Mann einen französischen Schriftsteller, rühmte er ihn als denjenigen Autor, „dem es bestimmt war, unter allen das größte Maß an Wirklichkeit zu umfassen“.[5] In dem Essay „Zola“ wechseln schlichter Bericht mit stürmischem Pathos in der Verallgemeinerung, die Sprache springt von der Vergangenheitsform und der 3. Person Einzahl in die Gegenwart und zum Wir, sogar das bekennende autobiographische Ich kommt vor. Für junge deutsche Schriftsteller ein: Seht her, einen solchen vorbildlichen Kerl hat es bei den Franzosen gegeben.
Schon das – ein Affront.
Aber der biographische Essay wagte mehr. Darstellung von Leben und Werk Ėmile Zolas, der in seinem zwanzigbändigen Romanzyklus „Les Rougon–Macquart, histoire naturelle et sociale d’une famille sous le second Empire“ (1871/1893)[6] die Schicksale von Menschen gestaltet, die Aufstieg und Untergang des Zweiten französischen Kaiserreiches durchstehen müssen, dient Heinrich Mann als Gleichnis für deutsche Verhältnisse und als Leitbild für das Verhalten deutscher Schriftsteller. Als er den vorletzten Band dieser Reihe, den Roman „La Dėbâcle“ (1892), vorstellt, in dem Zola vom Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und der Gefangennahme Napoleons III. durch die Preußen erzählt, fragt Heinrich Mann, von der Einzahl in den Plural übergehend und so das wilhelminische deutsche Kaiserreich mit in seine abschließende Betrachtung einbeziehend: „Was ist denn gestorben? Reiche, die Schranken aufrichten vor dem Glück ihrer Völker, Reiche, die unter Panzern das Gewissen ersticken, verderbte und gewalttätige Reiche, sie mögen hinsinken, sie geben den besten Dünger für die Saat einer verjüngten Menschheit.“ Doch damit nicht genug. Nicht allein der mit dem Weltkrieg eingeleitete Untergang des deutschen Kaiserreiches wird vorweggenommen. Eine neue Welt tritt hervor, ein verjüngtes Leben, „das Demokratie heißt“.[7]

Zola – ganz Bürger seines wissenschaftlichen Zeitalters – versteht Demokratie als Gestaltung einer Gesellschaft, die für alle Menschen beste Möglichkeiten „von Gleichheit und unbegrenzter Vervollkommnung“ schafft und auf dem Fundament von „Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit“ erbaut ist.[8] Trotz der gewaltsamen Niederschlagung der Pariser Kommune 1871 hatte in Frankreich die Demokratie Gestalt gewinnen können, wenn auch die Gestalt großbürgerlicher Machtausübung, die immer wieder durch nationalistische, militaristische und klerikale Angriffe gefährdet wurde. Als 1894 mit einem Hochverratsprozess gegen den jüdischen Hauptmann Dreyfus wiederum versucht wurde, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, griff Zola direkt ein in das politische Geschehen mit einer Tat, die Heinrich Mann als Krönung und zusammenfassenden „Abschluß seines Werkes“ feiert.[9] Zola erkennt: „Literatur und Politik hatten denselben Gegenstand, dasselbe Ziel und mußten einander durchdringen, um nicht beide zu entarten. Geist ist Tat, die für den Menschen geschieht; – und so sei der Politiker Geist, und der Geistige handle!“[10] Der Schriftsteller schreibt einen Brief, den er an den Präsidenten der Republik adressiert, lässt ihn am 13. Januar 1898 unter der Überschrift „J’accuse !“ in der Zeitung „L’Aurore“ veröffentlichen und löst so eine weittragende Welle nationalen Widerstandes gegen die Verbannung des Unschuldigen aus. Doch sein Ziel, die Zurücknahme des von einem Militärgericht ausgesprochenen Falschurteils, erreicht er nicht. Auch Zola wird verurteilt, muss der Gefängnishaft durch die Flucht ins Exil nach London entgehen.

Der Zusammenfassung allen Geschehens um die „Dreyfus-Affaire“, die auch in Deutschland bekannt war und diskutiert wurde[11], gab Heinrich Mann die Form eines Zitats, das jedoch offen lässt, ob es die Meinung Zolas oder seine eigene wiedergibt und 1915 den deutschen Lesern Hoffnung und Anregung vermittelt, auch ihre aktuellen Zeitereignisse kritisch zu durchdenken: „Derart sind nach und nach zwei Parteien aneinander geraten: einerseits die ganze Reaktion, alle Widersacher der wahrhaften Republik, die wir haben sollten (Hervorhebung: S.B.), alle Geister, die, ihnen selbst vielleicht unbewußt, für die Autorität sind, sei sie religiös, militärisch, politisch. Drüben aber sammelt sich der ganze Zukunftsdrang, alle durch die Wissenschaft befreiten Gehirne, alle, die nach Wahrheit und Gerechtigkeit streben, die glauben an den immerwährenden Fortschritt und gewiß sind, daß seine Eroberungen eines Tages endlich verwirklichen werden, was irgend möglich ist an Glück.“[12]

Auf den letzten Seiten seines Essay lässt Heinrich Mann den Schriftsteller selbst auftreten: Zola ist alt geworden, sitzt in seinem Garten in der Abendsonne, „das ideale Gesicht eines alten Lehrers, sanft, trotz seiner Weisheit voll Zuversicht, ein Lehrer der Demokratie“.[13] Mit „seinen letzten Blicken“ sieht er „den ersten Schimmer heraufsteigen des Tages, den er mitgeschaffen hat“.[14] Wie zwei Göttinnen treten „Weisheit“ und „Zuversicht“ neben ihn, sprechen mit ihm: „Die Weisheit sagt: ‚Dein Werk ist getan, aber es ist umstritten und gefährdet.’ Die Zuversicht sagt: ‚Es ist da.’“[15] An aller Augen zieht noch einmal vorüber, was erlebt, geschrieben, getan wurde. Sie prüfen alles, stellen Frühwerk und Alterswerk gegenüber, wägen Wirkung und Nachwirkung ab, Huldigung und Verteufelung durch Zeitgenossen und Nachgeborene, und die Zuversicht fasst zusammen: „In deinem kleinen Dasein war also Raum für die ganze Tragödie des Menschen. Er muß das Leben wollen, und doch auch etwas, das mehr ist und sich kaum jemals bindet mit ihm: dem Geist. Kurzer Zielpunkt, wo beide sich binden, sich ganz durchdringen. [...] Liebe es so, denn so soll es sein.“ Das letzte Wort aber hat Heinrich Mann. Er schließt seinen Essay über den Dichter Ėmile Zola mit den Worten: „Hier ist die kurze Verklärung des guten Arbeiters, der anhält und atmend auf seiner erhobenen Stirn den letzten Strahl empfängt. Schon stürzt er hin, nicht unter der gehabten Mühsal, sondern weil sie beendet ist. Wir wollen ihn aufheben, das Pantheon steht offen.“[16]

Die Werke Hermann Hesses und Heinrich Manns machten deutlich, dass damals schon nicht Buchverlage, sondern Zeitschriften den Autoren zu Hilfe kamen. Ihre Redakteure, oft selbst Schriftsteller und gebrannte Kinder der kaiserlichen Zensoren, lehnten sich gegen den Irrweg Deutschlands auf. Wilhelm Herzog z.B., der in seiner Zeitschrift „Forum“ die schärfste Kriegskritik zu Wort kommen ließ, musste das Verbot seines Blattes schon 1915 hinnehmen. Renė Schickele, der für „Die weißen Blätter“ verantwortlich zeichnete, rettete seine Monatsschrift 1916 durch die Flucht in die Schweiz. Auch Franz Pfemfert, Herausgeber der „Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst“, führte Kriegskritiker der ersten Stunde zusammen. Aber sie alle blieben einzelne, wenige. Bis die Wirklichkeit nachhalf. Bis das Erschrecken über die wirkliche Wirklichkeit den Nebel der Euphorie verfliegen ließ. Das Erlebnis der Front, der Materialschlachten, von Tod und Verstümmelung senkte sich tief ein in Gedächtnis und Gewissen zahlreicher Schriftsteller. „Ich bin ausgelaugt, fast verzweifelt und nach 28 Monaten, in denen ich ganze 14 Tage Urlaub hatte, am Ende meiner Kraft. So ist es. Ich habe keinen Grund, es zu leugnen. Ich will Ihnen nur sagen, daß das ganze Heer, von der hintersten Etappe bis zum vordersten Graben von den giftigsten und niedrigsten moralischen Fäulnisstoffen durchseucht ist, und daß ich eines Tages mit einem vielleicht ruchlosen und unerhörten Buche die Wahrheit gestalten werde. Als Rache, das leugne ich nicht – als Rache dafür, das man mein bis dahin reines und zurückgezogenes Leben in diese Kloake gezerrt hat“, schrieb Arnold Zweig am 23. August 1917 in einem Brief, noch nicht wissend, dass das heftige Verlangen, die Wahrheit über diesen Krieg herauszufinden und zu verbreiten, sein gesamtes Leben bestimmen werde.[17]Die Leser jedoch, die erste literarische Versuche einer Abrechnung mit dem jüngsten historischen Geschehen in die Hand bekamen, etwa 1918 Andreas Latzkos „Menschen im Kriege“ oder Armin T. Wegners „Weg ohne Heimkehr. Ein Martyrium in Briefen“ (1919), konnten ahnen, dass hier die Auseinandersetzung mit einer Thematik begann, die noch Jahrzehnte hindurch die Menschen aufwühlte. Nicht allein die Schriftsteller. Auch die Leser.

[1] Vgl. dazu die Wiederveröffentlichung des Romans von Bertha v. Suttner, Die Waffen nieder! Eine Lebensgeschichte. Hrsg. und mit einem Nachwort von Sigrid und Helmut Bock, Verlag der Nation, Berlin 1990.
[2] Der Aufruf ist wiederveröffentlicht in: Kurt Pätzold, 1914. Das Ereignis und sein Nachleben, verlag am park, Berlin 2014, S. 157 ff.
[3] Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Helmuth Kiesel, Klett-Cotta, Stuttg. 2013, S. 292.
[4] Vgl. dazu: Geschichte der deutschen Literatur. Vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis 1917. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Hans Kaufmann unter Mitarbeit von Silvia Schlenstedt, Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin 1974, S. 351.
[5] Heinrich Mann, Zola, in: H. Mann, Geist und Tat, Franzosen 1780–1930, Essays. Fischer Taschenb. Verl. Frankf. am Main 1997, S. 119, Textgrundl.: H. Mann, Geist und Tat, Berlin: Kiepenheuer Verlag 1931.
[6] Dt. unter dem Titel „Die Rougon-Marcquart, Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem zweiten Kaiserreich, 1892/1899.
[7] Heinrich Mann, Zola, a.a.O., S. 162 f.
[8] Ebenda, S. 183 u. 164.
[9] Ebenda, S. 174.
[10] Ebenda, S. 176.
[11] Bereits 1903 wurde die deutsche Ausgabe des Buches, in dem alle Dokumente der Affäre zusammengefasst waren, in 4. Auflage veröffentlicht.
[12] Heinrich Mann, Zola, a.a.O., S. 181 f.
[13] Ebenda, S. 199.
[14] Ebenda, S. 197.
[15] Ebenda, S. 199.
[16] Ebenda, S. 203.
[17] Arnold Zweig am 23. 8. 1917 an Agnes Hesse. Abgedr. in: Arnold Zweig 1887–1968. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern, Berlin und Weimar 1978, S. 78.

  • Preis: 4.00 €