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Heft 40: Wie der Sozialismus praktisch wurde

Robert Owen – Reformer, Visionär, Experimentator

Von: Michael Brie

Heft 40: Wie der Sozialismus praktisch wurde

Die vorliegende Publikation enthält eine erweiterte Fassung des Vortrages von Prof. Dr. Michael Brie, den er in der Reihe „Vielfalt sozialistischen Denkens“ der „Hellen Panke“ e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin am 16. Oktober 2014 gehalten hat.

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Autor: Prof. Dr. Michael Brie

Philosoph, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit den Arbeitsschwerpunkten Theorie und Geschichte des Sozialismus und Kommunismus sowie sozialökologische Transformation der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften und strategische Probleme der Linken; Berlin

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INHALT

1. New Lanark und der umstürzende Charakter der kapitalistischen Moderne

2. Management einer neuen Welt

3. Owens „Entdeckung“: Die beliebige Formbarkeit des Menschen und der Gesellschaft

4. Die kommunistischen Grundlagen der kapitalistischen Moderne

5. Die harten Grenzen sozialer Reformen

6. Die Perspektive des Überflusses und die Wende zum Kommunismus

7. Die kommunistischen Experimente Robert Owens zwischen 1825 und 1845

8. Im Rück- und Ausblick

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LESEPROBE

1. New Lanark und der umstürzende Charakter der kapitalistischen Moderne[1]

Im Januar 1800 fährt der 29-jährige Unternehmer Robert Owen von Manchester nach New Lanark in den schottischen Lowlands, um das Management der dortigen Fabrik zu übernehmen. Er handelt im Auftrag der von ihm mit einer Reihe von Partnern gegründeten New Lanark Twist Company. Sie hatten die Fabrik im Sommer 1799 von David Dale gekauft. David Dale ist Robert Owens Schwiegervater und einer der führenden Kapitalisten und Philanthropen Manchesters. Zu dieser Zeit hatte sich Owen schon als einer der erfolgreichsten Manager der Baumwollindustrie bewährt. Mit 18 Jahren ist er selbständiger Unternehmer, mit 21 Jahren leitender Fabrikdirektor eines Großbetriebes von 500 Arbeiterinnen und Arbeitern gewesen. Ihm glückt die Verarbeitung nordamerikanischer Baumwolle für Feingarne. Die Produkte tragen seinen Namen als Werbung auf der Verpackung. Mit 22 Jahren wird er Mitglied der angesehenen Manchester Literary and Philosophical Society und hält dort Vorträge. Nun übernimmt er also die Leitung der schottischen Fabriksiedlung von New Lanark, eine der größten Fabrik überhaupt weltweit, und wird damit endgültig zu einer öffentlichen Persönlichkeit.

Der Ort New Lanark liegt am Flüsschen Clyde, unweit der Wasserfälle, die für ihre Schönheit berühmt waren. New Lanark war von David Dale 1783 gemeinsam mit Richard Arkwright als eine der frühesten und größten Fabrikansiedlungen und erste mechanische Baumwollspinnerei Schottlands erbaut worden. Über fast zwei Jahrhunderte – bis 1968 – wurde hier kontinuierlich Baumwollgarn erzeugt. In solchen Siedlungen erhielt der Kapitalismus zuerst sein modernes industrielles Gesicht. Und hier in New Lanark entstand eine Experimentierstube des Sozialreformismus, die zugleich zu einem Ausgangspunkt des Kommunismus wurde. Hier wurde die Moderne neu gegründet, hier wurde eine Welt neu vermessen. Heute ist der Ort Weltkulturerbe.

Neu im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts waren weder Kapitalismus noch Lohnarbeit, weder Kredit noch Steuerstaat. Neu war, dass kapitalistische Unternehmer wie Arkwright mit der Einführung der Maschinerie und des Fabriksystems die technologische Grundlage für das Lohnarbeitsverhältnis und die Profitorientierung schufen. Das Sozial-Unendlich des Kreditsystems erhielt im Industriesystem seine stofflich-energetische Entsprechung. 1799 wird erstmalig von „industrieller Revolution“[2] – in Analogie zu den politischen Umwälzungen in Frankreich – gesprochen. Was Rousseau und Kant für die intellektuelle Revolution der Aufklärung, was Danton und Robespierre im Bereich des Politischen, was Napoleon mit seiner neuen Kriegsführung, das sind Watt und Arkwright für die technologisch-ökonomische Revolution. Owen aber wird zum Vorreiter einer sozialen Revolution.

Das kapitalistische System der Reproduktion verwandelt alles in bloße Mittel der unendlichen Steigerung des Werts. Die industrielle Revolution ihrerseits reduziert Mensch und Natur auf bloße Instrumente der ebenso unendlichen Steigerung der Güterproduktion. Alles, was in den Orbit von Kapital und Industrie gerät, wird auf Rechengröße für Profit und bloße Naturkraft für gesteigerten Output reduziert. Nun kann alles hergestellt werden, was den Naturgesetzen nicht widerspricht und Erfindergeist ermöglicht. Das universalisierte kapitalistische Kreditsystem löst die Bindungen an vorgefundene Gemeinschaften und verinnerlichte Werte. Die Industrie zerreißt die Fesseln, die menschliche physische wie psychische Kräfte der Güterproduktion bis dato auferlegt hatten. Dazu wird Energie genutzt, die über viele hundert Millionen Jahren aufgespeichert wurde in Kohle, Erdöl, Erdgas, nuklearem Material – anfangs ein scheinbar unbegrenztes Reservoir unendlicher Produktionssteigerung.

Es sind jedoch nicht nur die erste industrielle Revolution und der Kapitalismus, die sich entsprechen. Das ausgehende 18. Jahrhundert war auch durch politische Revolutionen geprägt, die ebenso umstürzend wie befreiend waren. Wie Owen und alle anderen Zeitgenossen der amerikanischen Befreiungskriege und der Großen Französischen Revolution erfuhren, ist die Moderne eine Gesellschaft, in der die weltliche Autorität im Namen der Bürger und ihrer Natur- und Menschenrechte immer wieder enthauptet, abgewählt, hinweg-demonstriert oder bekriegt werden kann. Die Moderne steht ständig unter dem Druck von Reform und Revolution, Konterreform und Konterrevolution. Die gesellschaftliche Welt wird wie die der Natur zum Gegenstand bewusster Gestaltung, um deren Alternativen gerungen wird. Die modernen Disziplinierungsregime entstehen.[3] Dies verweist auf den völlig neuen Charakter politischer Autorität. Sie ist auf Zeit und sie ist nicht absolut; ihre Macht ist ihr zudelegiert worden mit Berufung auf ein „Volk“, das selbst nur in der Delegation auf Abruf oder in der zivilgesellschaftlichen Gestalt von ständigem Infragestellen, Diskutieren, Wählen, Protestieren oder als Bürgerkriegspartei erscheint. Es sind deshalb Gesellschaften, in denen alles als bindender Wille des Gemeinwesens möglich werden kann, was gedacht wird. Zwischen dem Gedanken und der Tat liegt nur ein Schritt – die Macht. Mit den global einsetzbaren Flotten und den Massenarmeen wird der genauso globale wie totale Krieg möglich. Es gibt keine natürlichen Hindernisse, keine Entfernungen, keine Mauern, die noch Schutz versprechen können. Die Umwälzungen in der Kriegsführung bilden eine weitere Revolution dieser Zeit.

Und das „Denk-Mögliche“ emanzipiert sich zeitgleich von jeder Bindung an heilige Texte und Offenbarungen. Die Aufklärung ist die fünfte Revolution, die genannt werden muss. Gott starb am 12. Juni 1776, als die Delegiertenversammlung von Virginia ihre Bill of Rights verabschiedete und anstelle göttlich verbürgerter Vorrechte der Obrigkeit die in freier Diskussion vereinbarten Rechte des Menschen, die Macht des Volkes zum Ausgangspunkt jeder legitimen Autorität erklärte. Es entstand eine Gesellschaft, in der es keine Werte gibt, die nicht infrage gestellt werden können, keine Idee, die nicht für sich beanspruchen kann, Wirklichkeit zu werden. Zwar ist nicht zu jedem Zeitpunkt alles gestattet, aber alles Verbotene kann irgendwann erlaubt werden.

Auch frühere Gesellschaften kannten Grenzüberschreitungen, aber die Moderne kennt keine Grenzen, sondern nur noch Schranken, die auf Zeit errichtet sind. Nicht die Ruhe und das Gebet, sondern der Aufbruch und die Unternehmung, kein „Genug“, sondern ein „Mehr“ und auch kein „Verweile doch, du bist so schön“, sondern nur das „Noch Schönere, noch Bessere, noch Reichere, noch Machtvollere“ verdient in einer solchen Gesellschaft Respekt. Ihr gilt kein göttlich verbürgtes „Du sollst nicht!“, sondern die Aufforderung, der selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entkommen und das eigene Wollen an eigenen Maßstäben selbst zu prüfen. Keine Heimat, die nicht Lager werden, kein Engel, der nicht schrecklich sein, keine Freiheit, die nicht auf Völkermord beruhen kann.

Die kapitalistische Moderne revolutionierte alle fünf Elemente sozialer Evolution – das Verhältnis zur Natur, das Verhältnis der Menschen zueinander, die Konstitution von Gesellschaft als politische Gemeinwesen, deren Verhältnis zueinander und die Art und Weise, in der Menschen sich als sittliche Wesen verstehen.[4] Industrie ist der Stoff, Kredit die Triebkraft, Politik der Wille, global agierende Armeen der bewaffnete Arm, Kritik der Geist, die gemeinsam, nur auf sich selbst gegründet, eine neue Welt ohne feste Fundamente erzeugen. Immer mehr zu schaffen, immer mehr zu haben, immer mehr zu wollen und auf nichts zu bauen als auf das eigene Wort und dies mit Mitteln absoluter Zerstörung durchzusetzen, sind die Grundzüge dieser neuen Gesellschaft, die so faszinierend wie erschreckend in die Welt trat. Sie hat als Juggernaut alle vorgefundenen, alle traditionellen Welten niedergewalzt, in den „Teufelsmühlen“ von Fabriken zermahlen, durch die Guillotine zerhackt, durch „reine Kritik“ zersetzt, durch Völkerkriege eingeäschert.

Selten ist der umstürzende Charakter dieser Moderne so deutlich geworden wie in den vier Jahrzehnten zwischen dem Ausbruch des nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieges 1775 und der endgültigen Niederlage Napoleons bei Waterloo 1815. In diesen vier Jahrzehnten, in denen Robert Owen heranwuchs und sein Werk begann, brach die ganze westeuropäische Welt um. Und in dem kleinen schottischen Ort New Lanark bot sich dem 28-jährigen Unternehmer Robert Owen die Möglichkeit, in diesem Umbruch eine Welt nach seinen eigenen Vorstellungen zu schaffen. Er weiß um diese Chance und er nutzt sie. Wie er in seinen Erinnerungen mehr als ein halbes Jahrhundert später schrieb, habe er zu jenem Freund gesagt, der ihn bei dem ersten Anblick von New Lanark begleitete: „Von all den Plätzen, die ich gesehen habe, würde ich es bevorzugen, hier ein Experiment zu versuchen, über das ich nachgedacht habe und von dem ich gehofft habe, die Möglichkeit zu bekommen, es in die Praxis umzusetzen.“[5]


[1] Soweit die Quellen englisch waren, wurden die Zitate von mir übersetzt – M.B.

[2] Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts (München: Beck, 2011), 909.

[3] Michel Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, übers. von Hans-Joachim Metzger (Berlin: Merve, 1977).

[4] Stuart Hall u.a., Hrsg., Modernity. An Introduction to Modern Societies (Cambridge, UK: Polity Press, 1995).

[5] Robert Owen, Selected Works. Volume 4: The Life of Robert Owen (London: William Pickering, 1993), 99.

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