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Heft 31: Säuberungen unter dem Banner des Marxismus

Zur Rezeption des Lebenswerkes der 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesenen Philosophen

Von: Wladislaw Hedeler

Heft 31: Säuberungen unter dem Banner des Marxismus

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 31, 2014, 40 S.

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Zum Thema Säuberungen unter dem Banner des Marxismus. Zur Rezeption des Lebenswerkes der 1922 aus Sowjetrussland ausgewiesenen Philosophen referierte Dr. Wladislaw Hedeler am 7. Januar 2014 in der Reihe "Philosophische Gespräche" der Hellen Panke e.V. Bei dem hier veröffentlichten Text handelt es sich um eine erweiterte Fassung des in der Festschrift für Peter Ruben (Potsdam 2013) veröffentlichten Beitrages.

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Autor: Wladislaw Hedeler

Dr. phil., Historiker und Publizist, lebt in Berlin

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INHALT

Zur Vorgeschichte der Säuberung

„Rote“ gegen „Alte“ Professur

Die „Philosophendampfer“

Berlin als Transitstation

Die Verhörprotokolle

Der Rückgriff auf das russische philosophische Erbe in der Programmatik russischer Parteien

Zur neuen russischen Rezeption von Leben und Werk russischer Philosophen im Exil

Lebensstationen russischer Philosophen in Deutschland als Forschungsfeld

Auswahlbibliografie

Zeittafel zur Ausweisungskampagne

Personenregister

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LESEPROBE

Zur Vorgeschichte der Säuberung

Am 19. Mai 1922 hatte sich Lenin, Vorsitzender der Revolutionsregierung, an den Chef der Geheimpolizei Feliks Dzer¸inskij gewandt, um das Vorgehen gegen die Vertreter der „alten Professur“ abzustimmen. Das Ziel der geplanten „Operation“ bestand darin, die im Zusammenhang mit der in der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) in Sowjetrussland entstandenen, partei- und regierungsunabhängigen Strukturen und Netzwerke innerhalb kürzester Zeit zu zerschlagen. Anderthalb Wochen zuvor hatte Lenin dem Volkskommissar für Justiz der RSFSR, Dmitrij Kurskij, vorgeschlagen, das Strafgesetzbuch um einen Paragrafen zu erweitern, der die Anwendung von Terror rechtfertigt.[1] Die Parteizeitung „Pravda“ veröffentlichte in ihrer Ausgabe vom 17.°Mai 1922 einen Leitartikel, der gegen die „Illusion der konterrevolutionären ‚Demokratie’“ gerichtet war.[2] „Die Hoffnungen der liberalen Demokraten sind auf Sand gebaut“, hieß es darin. „Aus der Diktatur der Arbeiter wird nie eine Demokratie gegen die Arbeiter.“ Diese Kampfansage ging mit der Planung der ersten „Massenoperation“ gegen politische Gegner der Bolschewiki einher.

Zuvor war diese Praxis gegen Mitglieder nichtbolschewistischer Parteien, in erster Linie der Menschewiki[3], der rechten und linken Sozialisten-Revolu-tionäre sowie der Anarchisten zur Anwendung gekommen.[4] Sozialistische Opposition war mit der Sowjetverfassung unvereinbar. Mitglieder der SDAPR wurden gezielt in Industriezentren verhaftet[5] und, um ihnen die Massenbasis zu entziehen und die Propagandamöglichkeit zu nehmen, in entlegene ländliche Gebiete verbannt. Gleichzeitig wurde das Verbot der SDAPR, der Partei der Menschewiki, vorbereitet. Unter Berufung auf Marx – was, wie Lev Kamenev, Vorsitzender der Moskauer Parteiorganisation, sarkastisch bemerkte, für Opportunisten typisch ist – hatten die Gegner der Bolschewiki Kurs auf eine Koalitionsregierung[6] genommen, ein politisches Programm – Rätemacht statt kommunistische Diktatur – vorgelegt und Forderungen zur konsequenten Weiterführung der Wirtschaftsreform erhoben.

Darauf antworteten die Bolschewiki mit Repressalien. Grigorij Zinov’ev stimmte die Petrograder Parteiorganisation auf die bevorstehenden Auseinandersetzungen ein.[7] Das ihnen angebotene Gebräu, ein Mix aus Eduard Bernstein und Lev Tolstoj, lehnten die Bolschewiki dankend ab. Für März 1922 war ein Prozess gegen die Menschewiki geplant, im Juni/August 1922 fand ein Prozess gegen Sozialrevolutionäre statt, im Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten wurde eine „Sonderberatung“ genannte Institution ins Leben gerufen, die das Recht hatte, Todesurteile in Verbannung oder Ausweisung abzuändern. Dies war eine Reaktion auf die nicht nur im Ausland zunehmenden Proteste gegen Verurteilungen zur Höchststrafe.

Bis in die Kominternführung hinein regte sich Widerspruch. Im Politbüro der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) [KPR(B)] standen sich Befürworter und Kritiker[8] des Roten Terrors gegenüber. Während die einen den Terror wörtlich nahmen, plädierten andere, es war die Minderheit in der Führung, für eine „politische Lösung“. Dritte wiederum traten als Bürgen für Verhaftete hervor, baten um die Entlassung ihrer Freunde aus vorrevolutionärer Zeit oder um die Umwandlung von Verbannung in Ausweisung.

Dutzende Eingaben, darunter von den Direktoren bzw. Arbeitskollektiven der Verhafteten, sind dokumentiert. Eine Haftentlassung war die Ausnahme. Der Ökonom Nikolaj Kondrat’ev wurde am 17. August 1922 verhaftet und am 12. Oktober auf Einspruch von Valerian Obolenskij, einem Mitglied des Zentralkomitees der KPR(B), aus der Haft entlassen. Bis zu seiner erneuten Verhaftung 1930 arbeitete er weiter in der Verwaltung Planung des Volkskommissariats für Landwirtschaft der RSFSR, leitete das Konjunkturinstitut in Moskau. Im Anschluss an die Kritik durch Stalin folgten 1932 die Verurteilung zu acht Jahren und 1937 das Todesurteil. Die Französische Akademie der Wissenschaften hatte sich für den verhafteten Akademiker Ignatij Kračkovskij[9], Lenins Frau Nade¸da Krupskaja für die Studentin an der Landwirtschaftlichen Fakultät Evgenija Dojarenko[10], Tochter des Agrophysikers Aleksej Dojarenko, eingesetzt, beide wurden daraufhin – unter Protest von Feliks Dzer¸inskij – aus der Haft entlassen. Aus England kamen Anfragen zur Verhaftung des Philosophen und Herausgebers Vladimir Čertkov.[11]

Lev Trockij hatte im ersten Doppelheft der Zeitschrift „Pod znamenem marksizma“ („Unter dem Banner des Marxismus“), das im Februar 1922 erschien, die ideologische Rechtfertigung der später vom „Eisernen Feliks“ praktizierten Maßnahme geliefert.[12] Im Brief an die Redaktion der Zeitschrift skizzierte er den Bruch mit der alten Welt und die Aufgaben der Erziehung der Jugend im Geiste des Materialismus. Lenin holte im März 1922 zum Schlag gegen die „philosophische Reaktion und gegen die philosophischen Vorurteile der so genannten ‚gebildeten’ Gesellschaft“, gegen die „diplomierten Lakaien der Pfafferei“[13] aus, von denen Anfang der 1920er Jahre viele unter dem Eindruck der NÖP bereit waren, die Wegzeichen zu ändern (Smena vech) und sich der neuen Macht gegenüber auch weiterhin loyal zu verhalten.

Lenin bestand im März 1922 in einem Schreiben an die Politbüromitglieder des Zentralkomitees der KPR(B) auf einem rücksichtslosen Vorgehen gegen jene Geistlichen, die eine Konfiskation der Kirchenschätze ablehnten.[14] „Je mehr Vertreter der reaktionären Geistlichkeit und Bourgeoisie wir aus diesem Anlass erschießen, desto besser. Wir müssen diesen Leuten eine solche Lehre erteilen, dass sie in den nächsten Jahrzehnten nicht einmal wagen, an Widerstand zu denken.“[15] Schließlich hatte der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche Tichon im Februar 1922 die Bereitschaft zur Unterstützung der Hungerhilfe durch Spenden erklärt. Die von der Sowjetführung initiierten Verhaftungen und Erschießungen sollten die Gläubigen einschüchtern und jeden religiös motivierten Widerstand im Keim ersticken. Vier von 86 angeklagten Geistlichen wurden zum Tode verurteilt und erschossen.

Es fällt auf, dass in diesem Zusammenhang immer wieder der Name Pitirim Sorokin auftaucht, der dem von der Regierung im Juni 1921 aufgelösten Gesamtrussischen Komitee zur Hilfe für die Hungernden angehörte. 74 Mitglieder des Komitees wurden bis zum 29. August verhaftet.[16] Ein Grund für die Auflösung war die Forderung des Komitees, selbständig über die Verwendung der aus dem Ausland eingehenden Spenden zu entscheiden.

[1] Očistim, S. 99.

[2] Očistim, S. 108–109.

[3] Vgl. hierzu: Vysylka, Abschnitt 1.

[4] Vgl. hierzu: Očistim, S. 19–107.

[5] Očistim, S. 279.

[6] Očistim, S. 140.

[7] Očistim, S. 229.

[8] Očistim, S. 266, 384.

[9] Očistim, S. 304–305. 1929 wurde der Arabist Kračkovskij der Spionage beschuldigt, 1944 für die Auszeichnung mit dem Lenin-Orden vorgeschlagen. Vgl. hierzu: Akademija Nauk v re¨enijach Politbjuro CK RKP(b)-VKP(b)-KPSS 1922–1991. T. 1, 1922–1952, S. 88–89, 298.

[10] Očistim, S. 328.

[11] Vysylka, Faksimile nach S. 128.

[12] http://www.komintern-online.com/trotl958.htm

[13] W. I. Lenin: Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus. In: W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, Berlin 1962, S. 214.

[14] Očistim, S. 70–73.

[15] Očistim, S. 72.

[16] Vysylka, S. 54–56.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2014