Publikationen

Suchmaske
Suche schließen

Heft 199: Chruschtschows "Geheimrede" auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956

Mit Anmerkungen zu linkem Selbstverständnis, Stalinismus, Macht und den Anforderungen der Gegenwart von Stefan Bollinger

Von: Karl-Heinz Gräfe

Heft 199: Chruschtschows

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 199, 2016, 56 S.

--------------------------------------------------------------------------

Der vorliegende Text ist die erweiterte Fassung des Vortrags von

Prof. Dr. habil. Karl-Heinz Gräfe (Historiker, Freital)

in der Diskussionsveranstaltung der „Hellen Panke“ e.V. zum Thema „Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag 1956 – Chancen und Mankos. Ein Lehrbeispiel für Politiker und Parteien zur Überwindung politischer Krisen?“ am 26. Januar 2016, ergänzt um eine Ausarbeitung der Bemerkungen des Moderators dieser Veranstaltung, Dr. Stefan Bollinger (Politikwissenschaftler, Berlin), zu linkem Selbstverständnis, Stalinismus, Macht und den Anforderungen der Gegenwart.

---------------------------------------------------------------------------------------

INHALT

Karl-Heinz Gräfe
Chruščovs "Geheimrede" auf dem XX. Parteitag 1956
Chancen und Mankos

1. Historischer Rahmen und Aktualität
2. Krise und erster Reformschub durch Stalins Erben 1953–1955
3. Die "Geheimrede" – Bruch und Abrechnung mit dem Mythos Stalin?
3.1. Warum und wie kam der "Geheimbericht" zustande?
3.2. Personenkult – massenhafte Repressalien und Großer Terror
3.3. Zwangsdeportationen ganzer Völker und nationaler Minderheiten
3.4. Erklären sich die Massenrepressionen aus Stalins Charakter?
3.5. Welche Grundfragen des Stalinismus sind im "Geheimbericht" tabu?

4. Der XX. Parteitag und die veränderte innen- und außenpolitische Strategie
4.1. Vom Staatssozialismus stalinschen Typs zum Kommunismus
4.2. Von Weltrevolution und Weltkrieg zur Koexistenz der Systeme
4.3. Das Nationale in den Staaten und Staatengemeinschaften

Stefan Bollinger
Anmerkungen zu linkem Selbstverständnis, Stalinismus, Macht und den Anforderungen der Gegenwart

  • Probleme einer Neuorientierung
  • Antistalinismus ist immer konkret
  • Stalinismus-Kritik und der notwendige Blick auf die Macht
  • Entstalinisierung, Krisen, Neuanfänge
  • Neue Irrwege und Sackgassen?

--------------------------------------------------------------------------------

LESEPROBE

Karl-Heinz Gräfe
Chruščovs "Geheimrede" auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956
Chancen und Mankos

"Die Pharisäer der Bourgeoisie lieben den Ausspruch: de mortius aut bene aut nihil (über die Toten schweigt man, oder man spricht nur Gutes). Das Proletariat braucht die Wahrheit sowohl über die lebenden Persönlichkeiten als auch über die toten, denn die, die wirklich die Bezeichnung politische Persönlichkeit verdienen, sterben für die Politik nicht, wenn ihr physischer Tod eintritt."

V. I. Lenin: Über die Demonstration anlässlich des Todes Muromzews.

In: Ders. Werke. Bd. 16, S. 323

1. Historischer Rahmen und Aktualität

Die Jahre nach dem Tod Josef Stalins (1878–1953)[1] waren Jahre einer Weltkrise. Diese betraf sowohl die beiden gegensätzlichen Gesellschaftssysteme – den Staatssozialismus sowjetischen Typs in der Sowjetunion und in Osteuropa und die kapitalistische Hauptmacht USA und ihre westeuropäischen Verbündeten – als auch die bis an den Rand eines heißen Krieges zugespitzten Beziehungen der beiden gegensätzlichen Lager unter Führung der Supermächte. Die Krise erfasste darüber hinaus das Kolonialsystem der europäischen kapitalistischen Staaten (vor allem Großbritanniens und Frankreichs) in Asien und Afrika. Es zerfiel unter den Schlägen der antiimperialistischen nationalen Befreiungsbewegungen, die eine "Dritte Welt" hervorbrachten. Diese neue Staatengruppe lavierte zwischen den Blöcken, suchte aber auch eigene Wege. Die Volksrepublik China hatte sich schon mit ihrer Gründung 1949 für einen nichtkapitalistischen Weg sowjetischen Musters und eine Zusammenarbeit mit dem sozialistischen Staatensystem entschieden.

War der XX. Parteitag der KPdSU vor sechs Jahrzehnten im Februar 1956 tatsächlich ein Start- und Richtungspunkt zur Überwindung der existentiellen Krise des sozialistischen Gesellschaftssystem sowjetischen Typs (Stalinismus) in der UdSSR und in Osteuropa? Gab dieser erste Parteitag nach dem Ableben Stalins Antworten auf die Lösung der angespannten Beziehungen zwischen den Weltmächten USA und UdSSR? Dokumentieren das der Rechenschaftsbericht des Ersten Sekretärs Nikita Chruščov am 14. Februar[2], seine bald international öffentlich gewordene "Geheimrede" Über den Personenkult und seine Folgen am 25. Februar 1956[3] und die von Regierungschef Nikolai Bulganin vorgetragenen Richtlinien für den Fünfjahrplan 1956–1960 [4]?

Es war vor allem die "Geheimrede", die alle anderen Erklärungen des XX. Parteitages anfänglich in den Hintergrund der öffentlichen Debatten rückte:
– die ökonomische Hauptaufgabe der UdSSR und der ökonomische Wettbewerb zwischen beiden Systemen,
– die friedliche Koexistenz der Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen,
– der friedliche Übergang zum Sozialismus und die Vielfalt seiner Formen,
– die Neugestaltung der Beziehungen im sozialistischen Lager und in der kommunistischen Weltbewegung,
– der nichtkapitalistische Entwicklungsweg in der Dritten Welt.

Die "Geheimrede" verband erstmals die schon seit März 1953 eingeleitete Entstalinisierung mit der direkten Kritik an der Person Stalin. Sie "löste ein politisches Erdbeben aus".[5] Erinnert sei an die Unruhen und Aufstände in Stalins Heimatrepublik Georgien im März 1956, im Sommer und Herbst 1956 in Polen und Ungarn. Sie löste auch in der Sowjetunion bisher ungekannte ideologische und politische Debatten aus. Diese Aufbrüche destabilisierten zwar den sowjetischen Herrschaftsbereich ernsthaft, boten aber auch Chancen, den entstehenden Staatssozialismus sowjetischen Typs zu reformieren und die Beziehungen zwischen den sozialistischen Ländern auf eine neue Grundlage zu stellen. Es kam auch zu einer Annäherung der UdSSR und Osteuropas zum blockfreien sozialistischen Jugoslawien. Die Entscheidungen des XX. Parteitages zur Entstalinisierung führten allerdings auch zum Zerwürfnis innerhalb der kommunistischen Weltbewegung, besonders mit der KP Chinas und dem volkreichsten Land der Welt unter Mao. Zugleich entwickelte die KPdSU nach der Auflösung des unter Stalin im September 1947 geschaffenen Kommunistischen Informationsbüros (Kominform) im April 1956 neue Formen in den Beziehungen zu den kommunistischen und Arbeiterparteien. Der XX. Parteitag war auch "eine Wegscheide, eine Alternative für die Entwicklung des Sozialismus"[6] Die nach Stalins Tod ausgebrochene Macht- und Herrschaftskrise in den Ländern des sowjetischen Einflussbereichs wurde in der Chruščov-Ära (1953–1964) zeitweilig überwunden. Der XX. Parteitag der KPdSU gab zweifelsohne auch wesentliche Impulse für die einsetzende Entstalinisierung und Reformierung des Staatssozialismus sowjetischen Typs in der UdSSR und in ihrem osteuropäischen Herrschaftsbereich. Der Einfluss der Sowjetunion und der mit ihr im Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (1949) und im Militärbündnis Warschauer Vertrag (1955) zusammengeschlossenen Gruppe sozialistischer Länder auf die Weltentwicklung nahm erheblich zu und begrenzte den internationalen Aktionsradius des Weltkapitalismus.

Wie schon 1956 ist auch gegenwärtig die Rolle des XX. Parteitages noch immer heftig umstritten: Boten die erstmalige Enthüllung über die ungeheuerlichen Fehlentscheidungen und Verbrechen Stalins sowie die innen- und außenpolitische Strategie des XX. Parteitages Chancen für eine Reformierung oder Erneuerung des Staatssozialismus in der UdSSR und Osteuropa? Bestanden dafür überhaupt die erforderlichen ökonomischen, politischen und geistig-kulturellen Voraussetzungen? Blieb Chruščov (wie auch seine Nachfolger) doch nur ein Arzt am Krankenbett des unheilbaren Stalinismus, des Staatssozialismus sowjetischen Typs? War die erste, nur teilweise und halbherzige Abrechnung mit dem Stalinismus (im engeren Sinn als extremes diktatorisches Herrschaftssystem 1929–1953), die erst auf dem XXII. Parteitag der KPdSU (1961)[7] ihren eigentlichen Höhepunkt fand, noch immer ein existentielles Risiko für das sowjetische Herrschaftssystem? Brachten diese Enthüllungen den Erben Stalins nicht zwangsläufig einen enormen Vertrauensverlust, da sie selbst für diese Verbrechen – wenn auch in unterschiedlichem Maße – mitverantwortlich waren? Würde die Kritik am bisher "unfehlbaren" Führer nicht zu Irritationen und politischen Konflikten in der sowjetischen Gesellschaft sowie zu Machtkämpfen unter den Nachfolgern Stalins führen? Brachten die allerersten Teilenthüllungen über das sowjetische Herrschaftssystem unter Stalin für das Land mehr Schaden als Nutzen, trugen sie nicht eher zur Schwächung und zum Prestigeverlust der kommunistischen Parteien in der UdSSR, in der gerade entstehenden sozialistischen Staatengemeinschaft und in der weltweiten kommunistischen Bewegung bei? Benutzte Chruščov seinen generellen Angriff auf Stalin nicht vorrangig im Machtkampf mit anderen einflussreichen Führungsgruppen und zur eigenen Herrschaftssicherung?

Zum 50. Jubiläum des XX. Parteitages brachte der Berliner Historiker Horst Schützler den kontroversen Diskussionsstand über die Chruščov-Ära auf den Punkt: "War es ein Jahrzehnt der Destalinisierung, der 'Zähmung des Stalinismus', wie Manfred Hildermeier es darstellt, oder seiner Überwindung … oder die Umwandlung des politischen Systems vom totalitären zum autoritären, wie Jurij Aksjonov es sieht. Eindeutige Antworten fallen schwer."[8] Bezüglich der Hauptrichtungen der Reformen Chruščovs kommt der Autor zum Schluss, dass ihr Ziel in der "Vervollkommnung des existierenden Systems, aber nicht seiner grundsätzlichen Veränderung lag. Die Erben Stalins wollten sich nicht an den grundlegenden Prinzipien des Systems, wie es in der Sowjetunion existierte, vergreifen (Hervorhebung, K.-H.G.). Doch sie unternahmen den Versuch, es zu modernisieren." Eine Veränderung der Grundstruktur der sowjetischen Gesellschaft war damals kein Thema; es ging vorrangig um die Beseitigung der extremen Auswüchse der diktatorischen Einzelherrschaft. "Infolgedessen konnte kein neues Konzept eines vom Stalinismus befreiten Sozialismus diskutiert und erarbeitet werden. Chruschtschow setzte sich zwar mit seinen Enthüllungen und Reformen von der 'Stalinschen Garde' ab. Ihm ging es aber nur um maßvolle Destalinisierung. Ein 'demokratischer Sozialismus' lag ihm fern, der Kommunismus nahe."[9] Auch die von deutschen Linken anlässlich der Jubiläen über die Krisenjahre 1953, 1956 oder 1968 geführten politischen und wissenschaftlichen Debatten kommen zu ähnlichen Erkenntnissen und Kontroversen.[10]

Der Streit um den historischen Platz des XX. Parteitages wie über das unter Stalin geschaffene und persönlich geprägte Herrschafts- und Gesellschaftssystem (1929–1953) ist bis heute nicht abgeschlossen. Das betrifft auch die Debatten in Russland in den letzten Jahrzehnten. Die dort erschienenen umfangreichen Quelleneditionen und Monographien beförderten wesentlich die wissenschaftliche Aufarbeitung des Stalinismus. Zugleich wird in einer Flut von Buchpublikationen, Massenmedien und Filmen Stalin als der erfolgreiche Gründer und Führer der einstigen Weltmacht wieder glorifiziert,[11] Chruščov hingegen als "Revisionist", "Abweichler", "Nestbeschmutzer" und Mitverantwortlicher an der systematischen Zerstörung der UdSSR denunziert. Die gegenwärtige politische Führung Russlands geht noch weiter. Stalin – so Präsident Vladimir Putin auf einem Forum der Gesamtrussischen Volksfront im Januar 2016 – sei für den Zusammenschluss autonomer Republiken gewesen, doch der erste Partei- und Regierungschef Vladimir Lenin habe den Staatenbund durchgesetzt, in dem die Republiken weitgehend selbständig sein sollten, bis hin zum Recht auf Austritt aus der UdSSR. Dadurch sei der Zerfall der UdSSR 1991 vom Staatsgründer Lenin vorprogrammiert worden. Auch dessen Idee von der Weltrevolution oder die Übergabe des Donbass an die Ukraine seien weitere Fehler gewesen, die letztlich zu der Misere führten, in der sich Russland heute befände.[12]

An diesen gegenwärtigen Debatten beteiligen sich auch Intellektuelle außerhalb Russlands wie der US-amerikanische Spezialist für mittelalterliche englische Literatur Grover Furr (*1944).[13] Sein schon 2007 in Moskau veröffentlichtes Buch Antistalinistische Gemeinheit erschien in überarbeiteter Auflage 2014 im Verlag Das Neue Berlin unter dem Titel Chruschtschows Lügen. Aufgrund seiner Erfahrungen mit der russischen Buchausgabe befürchtete der Autor: "Wenn ich behaupte, jede der von Chruschtschow gemachten Enthüllungen sei falsch, würde mir niemand Glauben schenken." Deshalb auch der spitzfindige Untertitel in der deutschen Ausgabe: "Die Beweise, dass alle Enthüllungen über Stalins (und Berijas) 'Verbrechen' in Nikita Chruschtschows berüchtigter 'Geheimrede' auf dem 20. Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1956 nachweislich falsch* sind (*außer einer, die ich weder belegen noch widerlegen kann)". Er kommt zum Schluss: Chruščov habe nicht nur über Stalin und Berija gelogen – "er machte praktisch nichts anderes als Lügen. Die gesamte 'Geheimrede' ist aus Fälschungen zusammengestellt."[14] Der US-Literaturwissenschaftler sieht in Stalin den ehrlichen Nachfolger Lenins, in Chruščov den unehrlichen Nachfolger Stalins und "politischen Gangster", der "in Wirklichkeit der Verbrechen schuldig (war), die er in seiner Geheimrede wissentlich und fälschlich Stalin unterschob". Das einzig Positive des XX. Parteitages sei die "Kritik und partielle Abschaffung des 'widerwärtigen Kults der Persönlichkeit' gewesen, den seine damaligen Mitstreiter selbst um Stalin aufgebaut hätten, "an dem sich Stalin selbst schließlich gewöhnt, ohne ihn zu irgendeiner Zeit gefördert oder anders als mit tiefen Widerwillen betrachtet zu haben"[15]. Der italienische Forscher Domenico Losurdo begrüßt im Vorwort des Buches diese "neuen Enthüllungen", denn die um Stalin gestrickte "schwarze Legende", sei "hervorragend geeignet, das Land, das er für drei Jahrzehnte regierte, in Gänze zu diskreditieren". Mit der gleichen Zielstellung werde dieser gegenwärtig noch "die schwarze Legende über Mao Zedong hinzugefügt!"[16]

Unbestritten ist, dass nicht wenige der Opfer Stalins zugleich selbst Täter waren und als führende Partei- und Staatsfunktionäre Mitverantwortung für Massenrepressalien trugen. Das trifft vor allem für die unmittelbaren Erben Stalins zu, die im März 1953 die Macht übernahmen. Aus der Kenntnis des heutigen Forschungsstandes ist ebenfalls unbestritten, dass der sog. "Geheimbericht" nicht die ganze Wahrheit über Stalin und den Stalinismus vermittelt. Das war von der damaligen Führung weder beabsichtigt, noch wäre das zu diesem Zeitpunkt auch möglich gewesen. In dem historischen Dokument vom 25. Februar 1956 finden sich Teilwahrheiten, Wahrheiten, Unwahrheiten, Ungenauigkeiten, Weglassungen und Vertuschungen. Daraus den Schluss zu ziehen, Chruščov sei der große Lügner und selbst all der Verbrechen schuldig, die er Stalin unterschob, ist absurd und ahistorisch. Diese Behauptung – und das scheint ihr eigentliches Ziel zu sein – nimmt von Stalin die Hauptverantwortung für die Verbrechen und Fehlentscheidungen und verschweigt die historische Wirkung und Bedeutung der "Geheimrede".

Der russische Archivar und Historiker Oleg Chlevnjuk misst in seiner kürzlich erschienenen Stalin-Biografie den massiven geschichtsrevisionistischen Aktionen über die Herrschaftszeit Stalins mehr als nur akademische Bedeutung bei: "Wir erleben eine Zeit, in der der Verstand vernebelt wird von Mythen eines 'alternativen' Stalin, dessen effiziente Führung als nachahmenswertes Beispiel gepriesen wird. Stalins Apologeten versuchen heute nicht mehr wie einst, die Verbrechen seines Regimes zu leugnen. … In ihrer Version der Ereignisse waren Regierungsbeamte unterer Ebenen, Führer der Geheimpolizei oder Sekretäre regionaler Parteikomitees verantwortlich für die Massenrepressionen und verbargen ihr Handeln vor Stalin. Der Zynismus einiger gipfelt gar in der Auffassung, der Terror sei berechtigt gewesen, da es sich bei den auf Stalins Befehl vernichteten Millionen Menschen um 'Volksfeinde' gehandelt habe."[17] Der Autor erklärt auch, warum das Bild über den Diktator, das während seiner Herrschaft wirkungsvoll verbreitet wurde, "überlebt und im heutigen Russland seine Anziehungskraft nicht verloren hat. Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Belastungen der Transformationszeit (sprich der Übergang vom Staatssozialismus zum Kapitalismus, K.-H.G), Korruption, Armut und eklatante soziale Ungerechtigkeit tragen allesamt dazu bei, die Sehnsucht nach einem sozialen Utopia zu verstärken. Ein beträchtlicher Teil der russischen Gesellschaft sucht in der stalinistischen Vergangenheit Lösungen für die Gegenwart. Populäre Vorstellungen von der Größe des stalinistischen Imperiums, von sozialer Gleichheit und dem Kampf gegen die Korruption … werden von skrupellosen Meinungsmachern und Politikern ausgenutzt." Chlevnjuk stellt deshalb die Frage: "Wie groß ist die Gefahr, dass sich eine Mischung von historischer Unwissenheit, Bitterkeit und sozialer Unzufriedenheit als fruchtbarer Nährboden für prostalinistische Lügen erweist? ... Kann es sein, dass Russland im 21. Jahrhundert in Gefahr schwebt, die Fehler des 20. Jahrhunderts zu wiederholen?" [18]

[1] Josef Visarionovič Stalin (Džugašvili), 6. Dezember 1878 als Sohn eines Schuhmachers im georgischen Gori geboren, 1894–1899 Studium am Geistlichen Seminar in Tiflis, 1898 Mitglied der SDAPR, Berufsrevolutionär, 1912 Mitglied des ZK der SDAPR(B), 1917 Volkskommissar für Nationalitätenfragen, seit April 1922 Generalsekretär der Partei, seit 1929 als unumschränkter Diktator hauptverantwortlich für die gewaltsame Entku-lakisierung und Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, forcierte Industrialisierung und für die Massenrepressalien gegen Partei- und Staatsfunktionäre, große Teil der Bevölkerung und Dutzende Völker (Gulag, Sondersiedlungen), Mai 1941 Regierungschef der UdSSR, August 1941 Oberkommandierender der Roten Armee, 1945 Generalissimus, nach seinem Tod am 5. März 1953 wurde sein einbalsamierter Leichnam neben dem Lenins im Mausoleum beigesetzt, aber am 1. November 1961 an die Kremlmauer umgebettet.
[2] Vgl. Nikita S. Chruschtschow: Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Parteitag. Berlin 1956.
[3] Die Geheimrede Chruschtschows. Über den Personenkult. Berlin 1990.
[4] Nikolai A. Bulganin: Richtlinien des XX. Parteitages der KPdSU für den sechsten Fünfjahrplan zur Entwicklung der Volkswirtschaft in der UdSSR in den Jahren 1956–1960. Berlin 1956.
[5] Erklärung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der Linkspartei PDS (Ernst Wurl unter Mitwirkung von Jochen Černy): Stalinismus-Debatte 50 Jahre nach dem XX. Parteitag der KPdSU. Text nach Pressedienst Nr. 07 vom 17. Februar 2006, S. 11–15, hier S. 11.
[6] Ebenda, S. 11.
[7] Vgl. N. S. Chruschtschow: Der Triumph des Kommunismus ist gewiss. Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU. Über das Parteiprogramm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Oktober 1961. Berlin 1961.
[8] Horst Schützler: Der XX. Parteitag der KPdSU und die Konfliktsituation im Land. In: Siegfried Prokop (Hrsg.): Zwischen Aufbruch und Abbruch. Die DDR im Jahre 1956. Berlin 2006, S. 115–156, hier S. 154; vgl. auch Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. München 1998, S. 757 ff.; Jurij Aksjonov: Chruščovskaja 'ottepel'‚ občšestvennye nastroenija v SSR 1953–1964. Moskva 2004, S. 484.
[9] Horst Schützler: Der XX. Parteitag der KPdSU. A.a.O., S. 155 f.
[10] Vgl. u.a. Wladislaw Hedeler/Mario Keßler (Hrsg.): Reformen und Reformer im Kommunismus. Hamburg 2015; 1968 – zwischen NÖS, Prager Frühling und neuer Eiszeit. Pankower Vorträge, Heft 150. Berlin 2010; Das Krisenjahr 1956. Hrsg. von Klaus Kinner und Ernst Wurl. Leipzig 2006; Wladislaw Hedeler (Hrsg.): Stalins Tod. Hoffnungen und Enttäuschungen. Berlin 2003; Menetekel 17. Juni 1953. Hrsg. von Klaus Kinner. Leipzig 2003; Karl-Heinz Gräfe: Die Krise des sowjetischen Imperiums und der "Neue Kurs" in Osteuropa. In: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte. H. 1. Dinklage 2003, S. 5–18; Karl-Heinz Gräfe/Bernd Rump/Horst Kreschnak/Peter Gärtner/Frank Tschimmel (Hrsg.): Das Jahr 68. Weichenstellung oder Betriebsunfall? Zwischen Prager Frühling und Pariser Mai, Dresden 1998. Donald Filtzer: Die Chruschtschow-Ära. Mainz 1995.
[11] Vgl. Nikoljaj Koposov: Pamjat' strogogo režima. Istorija i politika Rossii. Moskva 2011; Anna Becker: Mythos Stalin. Berlin 2016.
[12] Vgl. ND vom 28. Januar 2016, S. 8.
[13] Vgl. G. Furr: Antistalinistskaja podlost'. Moskva 2007; ders: Teni XX. S-ezda, Moskva 2010; Juri Muchin/Grover Furr/Aleksej Goležov: Obolžannyj Stalin, Moskva 2010; G. Furr: Stalin ve Demokrasi – Trotzki ve Naziller. Istanbul 2013.
[14] Grover Furr: Chruschtschows Lügen. Berlin 2014, S. 17 f.
[15] Ebenda, S. 255 f.
[16] Ebenda, S. 12.
[17] Oleg Chlevnjuk: Stalin. Eine Biographie. München 2015, S. 9 und 11; vgl. ders.: Chozjain. Stalin i udverždenie stalinskoj diktatury. Moskva 2010; ders.: Politbjuro. Mechanizmy politicečskoj vlasti v 1930e gody, Moskva 1996.; deutsche Übersetzung: ders.: Das Politbüro. Mechanismen der politischen Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Hamburg 2002.
[18]Oleg Chlevnjuk: Stalin. A.a.O., S. 516.

  • Preis: 4.00 €