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Heft 25: Marx und der Feudalismus (2)

Alain Guerreau: Marx und das Mittelalter. Zur Frage seiner Quellen / Ludolf Kuchenbuch: Postskript: Karl Marx und die Feudalismusdiskurse -- Veranstaltung am 16. Februar 2012

Von: Alain Guerreau und Ludolf Kuchenbuch

Heft 25: Marx und der Feudalismus (2)

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 25, 2012, 64 S., A5, 3 Euro plus Versand

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 25, 2012, 64 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Zur vorliegenden Thematik referierte Prof. Dr. Ludolf Kuchenbuch am 16. Februar 2012 im Verein "Helle Panke". Ihm und den Diskussionsteilnehmern lag eine Studie von Alain Guerreau zum Thema vor, die in das Heft 25 Eingang fand. Im Zusammenhang mit der Veranstaltung sind die Hefte 24 und 25 der Reihe "Philosophische Gespräche" entstanden, in die das Referat und zwei vorliegende Studien aufgenommen wurden.

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INHALT

Alain Guerreau
Marx und das Mittelalter. Zur Frage seiner Quellen
1. Marx' Studium und die Herausbildung des historischen Materialismus
2. Quellen und Verweise von 1843 bis 1867
3. Marx' Umgang mit historischen Arbeiten
Schlussfolgerungen

Ludolf Kuchenbuch
Postskript: Karl Marx und die Feudalismusdiskurse
1. Das Entstehungsmilieu
2. Unsere theoretischen Vorleistungen
3. Der auslösende Moment
4. Feudalismusforschungen vom späten 20. Jahrhundert bis heute
Schlussbemerkungen

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LESEPROBE

Alain Guerreau

Marx und das Mittelalter. Zur Frage seiner Quellen

Marx historisch zu begreifen ist doch wohl das Mindeste, was man von einem Historiker verlangen kann. Besser gesagt, es müsste dies sein: Denn bisher hat – wie Ludolf Kuchenbuch gezeigt hat – sich noch niemand wirklich die Mühe gemacht, unseren Gegenstand streng historisch zu behandeln. Den ent-scheidenden Schritt dahin hat erst Kuchenbuch getan, indem er die Entwicklung des Themas des Mittelalters im Denken und in den Schriften von Marx rekonstruiert hat. Jetzt kann daran anschließend geklärt werden, was Marx (positiv ebenso wie negativ) aus den Texten hat ziehen können, die ihm als Informationsgrundlage gedient haben. Denn so sehr es ganz klar ist, dass sich der Sinn der bei Marx über das gesamte Werk hinweg verstreut zu findenden Aussagen über den Feudalismus erst in der doppelten Perspektive erschließt, sie sowohl im Hinblick auf ihre Verknüpfung mit denjenigen Werken zu lesen, in welche sie jeweils eingebettet sind, als auch im Hinblick auf ihren Stellenwert im Gesamtwerk. Dabei ist es nicht weniger wahr, dass sich der wahrhafte Sinn seiner Texte bei Marx – nicht anders als bei allen anderen Autoren – allein historisch erfassen lässt, d.h. innerhalb einer Tradition und einer Umwelt, die hier eben der Geschichtsschreibung angehören.

Marx hat sich niemals mit einer historischen Forschung aus erster Hand befasst: Er hat eine beträchtliche Anzahl von Werken verfasst, darunter auch einige Editionen von Texten und von Materialien – aber niemals Archive durchsucht. Er hatte übrigens auch gar keinen Anlass dazu,[1] da er niemals vorgehabt hat, ein Geschichtswerk zu schreiben.

Wie können wir also die originellen Züge in der Vorgehensweise heraus-arbeiten, die von Marx angesichts dieses historischen Materials an den Tag gelegt worden ist? Wir können drei mögliche Herangehensweisen unter-scheiden, die sich teilweise auch ergänzen können:

1. Die Frage der Auswahl: In Bezug auf die verschiedenen Fragen, für die Marx sich interessiert hat, boten sich ganz unterschiedliche Untersu-chungen und Schlussfolgerungen an. Welche hat Marx festgehalten. Ge-nauer formuliert, geht es um den Versuch, die sozialen Formen zu bestimmen, denen Marx in seiner Suche nach bibliographischen Hin-weisen den Vorrang gegeben hat.

2. Die Frage der Reartikulation: Im 18. und 19. Jahrhundert hat sich die Geschichtsschreibung dadurch entwickelt, dass einzelne Geschichtsschreibungen zueinander in Bezug gesetzt wurden. Hat Marx in dieser Hinsicht originelle Zusammenhänge hergestellt bzw. bereits hergestellte Zusam-menhänge reartikuliert?

3. Die Frage der Einführung neuer Begriffe: Eine ernsthafte Untersuchung der von Marx benutzten Quellen sowie der Art und Weise, wie er sie benutzt hat, muss es dann möglich machen, dass Ort und Wirksamkeit der eigentlich marxistischen Begriffe bestimmt werden können.

Wir sagen es von vornherein: Bei einer derartigen Untersuchung handelt es sich um ein sehr umfassendes Forschungsprogramm. Im Folgenden wird man nur ein paar vorläufige Feststellungen, ein paar provisorische Befunde und eher erst noch zu betretende Untersuchungspfade als fertige Ergebnisse vorfinden. Wir haben es nicht für möglich gehalten, unsere Untersuchung im begrenzten Rahmen dieser Arbeit über das Jahr 1867[2] hinaus zu erstrecken. Ein derartiges Forschungsprogramm stößt darüber hinaus auf praktische Hindernisse, die nicht zu umgehen sind. Ich werde daher ganz kurz die wichtigsten Hindernisse anführen, auf die unsere Untersuchung gestoßen ist. In Bezug auf die direkten Quellen, d.h. derjenigen Arbeiten, aus denen Marx bestimmte Passagen ohne größere Modifikationen übernommen hat, ergeben sich sowohl aus dem Marx'schen Text als auch aus unserer mangelhaften Kenntnis der betreffenden Autoren einige Probleme. Was gewöhnlich als die "Werke" von Marx bezeich-net wird, besteht aus einer sehr disparaten Sammlung ganz unterschiedlicher Texte, deren Edition sich immer noch in einem bedauernswerten Zustand befindet.[3] Offensichtlich stehen uns die Texte im Original und in Neuauflagen zur Verfügung, die Marx selber publiziert hat; seine Korrespondenz liegt ebenfalls publiziert vor. Es gibt aber noch seine "Manuskripte", ein in sich äußerst unterschiedlicher Gesamtbestand, der in Einzelschritten und mit ganz unterschiedlichen Absichten und Methoden von Engels, Kautsky, Mehring, Adoratskij und Rjazanow (um nur die Bekanntesten anzuführen) publiziert worden ist. In den 1970er Jahren haben Lawrence Krader und Hans-Peter Harstick die Publikation der Notizen in Angriff genommen, die Marx in seinen letzten 15 Lebensjahren zum Thema der Ethnologie und der außer-europäischen Geschichte angefertigt hat. Es sind aber immer noch eine ganz beträchtliche Anzahl an Notizen und an Texten zu edieren, die Marx verfasst hat und die noch nicht veröffentlicht sind.[4] Und wenn auch Krader und Harstick sowie im gewissen Grade auch Rjazanow Ausgaben besorgt haben, die den üblichen Kriterien einer guten Edition gerecht werden,[5] trifft das auf ihre Vorgänger jedenfalls nicht zu.

Die Vorstellung, dass das Dritte Buch des Kapital, das doch für uns so wichtig ist, immer noch ausschließlich in der überarbeiteten Form bekannt ist, die ihm Engels gegeben hat, obwohl doch das Originalmanuskript als solches erhalten ist, macht einen doch ratlos. Insgesamt gesehen, stehen wir also vor zwei Schwierigkeiten:

a) Die Qualität der uns heute zur Verfügung stehenden Ausgaben ist derart schlecht, dass sich daraus nur sehr fragmentarische Vorstellungen über die benutzten Quellen gewinnen lassen;

b) In den – selbst noch sehr unvollständigen – Auskünften über die unver-öffentlichten Manuskripte sowie über die Bibliothek von Marx, über die wir verfügen, tauchen Titel auf, die man gar nicht dort vermutet hätte – aber was soll man mit derartigen rein bibliographischen Informationen anfangen, solange diese Notizen als solche nicht veröffentlicht sind?

Selbst nachdem Autoren und Titel erfasst werden konnten, stößt man auf ein neues Hindernis: Außer dem Umstand, dass viele dieser Titel in Paris nicht zu finden sind, wird die Mehrzahl der zitierten Autoren einfach nicht in den hauptsächlichen Darstellungen der Geschichte der Geschichtsschreibung des 18. und 19. Jahrhunderts behandelt. Zwar lassen sich zu den meisten unter ihnen in den großen bibliographischen Verzeichnissen biographische Notizen auffinden, aber der Übergang von einer Sammlung derartiger Notizen zu einer homogenen Gesamtansicht, durch die diese Autoren in eine Perspektive gebracht werden, auf deren Grundlage es erst möglich wird, ihre Originalität und ihre Bedeutung zu beurteilen, bleibt noch zu vollziehen.[6]

In Bezug auf das, was wir als indirekte Quellen bezeichnen können, das heißt alle diejenigen Autoren, aus denen Marx seine Rahmenvorstellung aus allgemeinen Gedanken über das Mittelalter und den Feudalismus hat beziehen können, sind die Schwierigkeiten keineswegs geringer. Denn es geht hier darum bei den betreffenden Autoren, in all dem, was zu Marx' intellektuellem Bildungsprozess und zur Synthese des historischen Materialismus beigetragen hat, eben diejenigen Gedankenentwicklungen und Ausdrücke zu erfassen, die sich auf das Mittelalter und den Feudalismus beziehen.

1. Marx' Studium und die Herausbildung des historischen Materialismus

Marx war vom Wintersemester 1836/37 bis zum Wintersemester 1840/41 an der Universität Berlin[7] als Student immatrikuliert; man weiß zumindest, für welche Lehrveranstaltungen er eingeschrieben gewesen ist. Er hat Rechts-wissenschaften studiert, und dies ist in der Tat auch im Wesentlichen der Inhalt seines Studiums gewesen. Man neigt allzu sehr dazu, zu vergessen, dass Marx eine solide juristische Ausbildung genossen hat und auf diese Weise zunächst über Fragen des Eigentums, des Erbrechts und des Prozessrechts nachzudenken hatte. Dazu kommt aber noch der Umstand, dass in den 1830er Jahren in Berlin die Juristenausbildung der Austragungsort einer der wichtigsten ideologischen Kontroversen dieser Zeit gewesen ist. In dieser Kontroverse standen sich die Schüler Hegels und die Parteigänger der "historischen Schule" gegenüber, wobei dieser Gegensatz ganz grob dem von Liberalen und Konservativen entsprach. Während seiner ersten fünf Studiensemester hat Marx die Lehr-veranstaltungen der Vertreter beider Gruppen belegt, indem er sich gleich nach seiner Ankunft in Berlin bei den beiden "Wortführern" einschrieb, bei Friedrich Carl von Savigny (dem Chef der historischen Rechtsschule) und bei Eduard Gans, einem der wichtigsten Hegelschüler (der, woran zu erinnern ist, schon 1831 verstorben ist). Nun war aber beiden Gruppen gemeinsam, dass für sie das Interesse für die Rechtsgeschichte eine wesentliche Bedeutung gehabt hat. Ihr Gegensatz beruhte im Grunde auf einem unterschiedlichen Verhältnis zur Geschichte – einem unterschiedlichen Verhältnis, das auch in vergleichbarer Weise bei den eigentlichen Historikern zu finden war, wie man dies in der Kontroverse zwischen Ranke und Leo[8] nachvollziehen kann. Man müsste herausfinden, worin genau der Einfluss bestanden hat, den nicht nur die Hauptwerke dieser Autoren, wie die Entwicklung des Erbrechts von Gans[9] und die Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter von Savigny[10], sondern auch ihre anderen Schriften sowie diejenigen anderer Mitglieder beider "Schulen", auf Marx ausgeübt haben. Wir wollen auch darauf hinweisen, dass bekannt ist, dass Marx 1836/37 Winckelmann, Luden und Savigny[11] gelesen hat, aber auch die Pandekten, das Dekret Gratians, die Kapitularien der fränkischen Könige und eine Sammlung der Briefe der Päpste.[12] Vom Sommersemester 1838 an waren die von Marx belegten Lehrveranstaltungen breiter angelegt: Logik bei Prof. Georg Andreas Gabler, allgemeine Geographie bei Karl Ritter, Jesaja-Auslegung bei Bruno Bauer, Euripides bei Geppert.

Die Jahre 1841 bis 1845 werden allgemein als die entscheidenden Jahre betrachtet, in denen sich bei Marx der historische Materialismus herausgebildet hat, der oft[13] als die Synthese aus deutscher Philosophie, englischer politischer Ökonomie und französischem politischen Denken dargestellt wird. Hier ist nicht der Ort, diese Darstellung zu diskutieren; es geht eher darum, herauszu-finden, was in diesen drei Strömungen oder besser bei den dazu gehörigen Autoren, durch die Marx diese Strömungen zur Kenntnis genommen hat, sich auf das Mittelalter und den Feudalismus bezogen hat.

Die deutsche Philosophie – das waren selbstverständlich G.W.F. Hegel und seine Nachfolger. Wenn gesagt wird, dass das Denken Hegels von Grund auf historisch war, so ist das ein Gemeinplatz. Da aber dieser Autor unglücklicher-weise in den Händen der "Philosophen" verblieben ist und die Historiker nie dazu bereit waren, ihn auch nur im Mindesten interessant zu finden, steht keine bequeme Zusammenfassung der historischen Sichtweise zur Verfügung, die Hegel in Bezug auf unseren Gegenstand an den Tag gelegt hat. Umso schwieriger wird es, sich klar zu machen, dass der größte Teil von Hegels Werken die Geschichte zum Gegenstand hat – mit Ausnahme vielleicht der Logik. Man muss hier in erster Linie die Phänomenologie des Geistes in Betracht ziehen, aber auch zumindest vier Vorlesungsreihen, die über die Philosophie der Geschichte, über die Ästhetik, über die Geschichte der Philosophie und über die Philosophie der Religion. Alle diese Texte waren Marx wohlbekannt und er hat sie auch mehrmals zitiert und kommentiert.

Die Phänomenologie des Geistes betreffend sind zumindest drei Passagen für unseren Gegenstand relevant: zwei Ausführungen über das Christentum, aber vor allem der Abschnitt B des 6. Kapitels, der nach Kojève "der Analyse der christlichen Gesellschaft gewidmet ist. In der Tat geht es aber um eine phänomenologische Untersuchung der Geschichte Frankreichs, von der Feudalität bis zu Napoleon. Die christliche Welt endet in der Verwirklichung der zunächst abstrakten Idee der Freiheit (die im Selbstbewusstsein des Sklaven entstanden ist), welche sich durch die Französische Revolution und durch Napoleon vollzieht."[14] In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte findet man allerdings die ausdrücklichste Entfaltung der großen Gliederungen der Universalgeschichte nach Hegel. Die Geschichte untergliedert sich für ihn in vier "Welten": die orientalische Welt, die griechische Welt, die römische Welt und die germanische Welt. Diese letztere, die auch "christlich-germanische" genannt wird, beginnt mit der Völkerwanderung und dauert noch an, als Hegel spricht. Sie wird in drei große Phasen unterteilt: 1. bis zu Karl dem Großen, 2. nach Karl dem Großen, bis zu Karl V., 3. seit der Reformation. Allein die zweite Periode wird als "Mittelalter" bezeichnet, das mehr oder minder zusammenfällt mit der "Feudalität" (der "säkularen Barbarei").

Hegels interessanteste Sichtweisen sind allerdings, wie Marx das in seinen Manuskripten von 1844 übrigens auch angemerkt hat,[15] in der Phänomenologie des Geistes zu finden, wo die antike Polis (Sittlichkeit, Gewohnheitsmoral), die christliche Welt (Bildung) und der napoleonische Staat (Moralität als vernünf-tige Moral) einander entgegengesetzt werden. Dabei geht er insbesondere auf zwei Zäsuren ein: auf die Etablierung des Christentums als Religion und als Lebensform und auf die Revolution von 1789, die als ein Abschluss dargestellt wurde, der sich notwendig aus dieser ersten Zäsur ergeben hat.

Offensichtlich ist es erforderlich, die Gedankenentwicklungen, in denen sich Marx in seiner Kritik des Hegelschen Staatsrechts auf das Mittelalter bezieht, in diese Perspektive einzubetten, denn nur auf diese Weise kann man die Originalität und die Tragweite der von Hegel vorgenommenen Entgegensetzung von Staat*[16] und bürgerlicher Gesellschaft* wahrheitsgemäß erfassen, deren Wahrhaftigkeit Marx bestreitet, auch wenn er – in diesem Punkt in Über-einstimmung mit Hegel – durchaus einräumt, dass dieser Gegensatz im Mittel-alter noch nicht existiert habe: der Feudalherr als Grundeigentümer, die auf dem Gegensatz von Adel und Gemeinen aufgebaute europäische Gesellschaft des Mittelalters und die Aneignung aller Sphären der mittelalterlichen Zivilgesell-schaft [société civile] durch die Stände sind durchaus hegelianische Themen. Es bleibt festzuhalten, dass Hegel der Antithese von Kirche und Laien eine entscheidende Bedeutung zuschrieb, einer Vorstellung, die Marx dann in der Deutschen Ideologie energisch bestritten hat.[17]

Die politische Ökonomie bestand für Marx von Anfang an, übrigens durch die Vermittlung von Engels, aus Smith, Ricardo, Say und J.S. Mill. In Bezug auf unseren Gegenstand ist allein Adam Smith für uns von Interesse und von ihm fast ausschließlich die Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (London 1776). Bei Smith stellt der Begriff des Austausches (zugleich mit dem des höchsten [suprême] Wertes) den zentralen Begriff dar: die Entwicklung des Austausches führt zur Teilung der Arbeit, durch die vermittelt es möglich wird, dass der Reichtum endlos akkumuliert werden kann. Man muss nur das 3. Buch zur Gänze lesen, in dem es um "[d]ie unterschiedliche Zunahme des Wohlstandes in einzelnen Ländern"[18] geht. Dort wird eine klare, stark durchdachte und aufgegliederte Zusammenfassung der Wirtschaftsge-schichte Europas seit der Völkerwanderung geboten. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Entwicklung der Landwirtschaft, die von Grund auf durch die Behinderungen blockiert war, welche für den Handel mit Grund und Boden galten (lebhafte Kritik am Majoratssystem des "entail"). Smith arbeitet die Überlegenheit des kleinen Eigentums im Hinblick auf die Fähigkeit zur Ent-wicklung [développement] heraus und verfolgt die Entwicklung der Produk-tionsverhältnisse von der Leibeigenschaft [vilainage, tenants at will] über die Halbpächterschaft [métayage] bis zu den verselbstständigten freien Pächtern (freeholders, yeomen). Das dritte Kapitel bezieht sich auf die Entwicklung der Städte, ihre wichtigen Fortschritte hinsichtlich des persönlichen Rechtsstatus ihrer Bewohner (Freiheit und Unabhängigkeit) sowie auf die Tatsache, dass der Adel die Stadtbürger als freigelassene Sklaven betrachtete, was sie in der Tat oft auch gewesen sind, aufgrund der Flucht aller unternehmungslustiger Bauern in die Städte, und es beschreibt den doppelten Ursprung der Manufakturen, die zunächst und vor allem aus dem Handel entsprungen sind und dann erst sekundär aus der landwirtschaftlichen Akkumulation. Das vierte Kapitel beschreibt, Wie der Handel der Städte zur (produktiven) Verbesserung der ländlichen Räume beigetragen hat: Wirkungen des Marktes, Ankauf von Grund und Boden durch die Bürger, Entwicklung der guten Ordnung, der Freiheit und der Sicherheit unter dem Einfluss des Handels und der Manufakturen. Hier zeigt Adam Smith durchaus überzeugend, dass die vollständige Beherrschung der Gesellschaft durch den Adel in keinem Zusammenhang steht mit den "Feudalgesetzen", die nur eine ganz beschränkte Rolle spielen, und er schließt damit, dass er zeigt, wie die Wirkungen des Handels dazu geführt haben, dass die Interessen des Adels, der freien Pächter und der Kaufleute miteinander zusammenfielen.

Es unterliegt keinerlei Zweifel, dass Marx seine Sichtweise der Ökonomie des feudalen Europas im Wesentlichen von hier bezogen hat. Aber man muss dem unbedingt noch den zweiten Teil des 10. Kapitels des Ersten Buches hinzu-fügen: Löhne und Profit. II Ungleichheiten, die von der Politik Europas verursacht werden.[19] In diesem Kapitel widmet sich Adam Smith in der Tat einer ausgedehnten Untersuchung des Systems der Zünfte, der Monopolpreise und des ungleichen Tausches zwischen Städten und ländlichen Räumen. Dieser Aspekt, den Adam Smith in seinem Dritten Buch nicht wieder aufgegriffen hat, ist von Marx vollständig in seine Auffassung der feudalen Wirtschaft integriert worden und man kann sogar festhalten, dass in dieser Synthese einer der Schlüssel für seine Auffassung der feudalen Dynamik liegt.[20]

Es liegt eine gewisse Paradoxie in der Feststellung, dass Marx einen wich-tigen Aspekt seiner Ansichten über die europäische Geschichte – und also eine der Tatsachengrundlagen des historischen Materialismus – aus einem Werk bezogen hat, dessen Zielsetzung darin bestanden hat, den natürlichen (daher also ewigen) Charakter der kapitalistischen Ökonomie zu beweisen. Der heftig anklagende Ton, den Adam Smith in seiner Behandlung sowohl der Kor-porationen als auch der feudalen Großgrundbesitzer und ihrer gesellschaft-lichen Herrschaft anschlägt, ist ganz erstaunlich: Beiden wirft er ihren unter-drückerischen Charakter vor, dass sie nämlich als Institutionen im Gegensatz zum "natürlichen Gang der Dinge" stehen. Schließlich war, folgen wir Adam Smith, die gesamte wirtschaftliche Entwicklung Europas "contrary to the natural course of things" und daher "necessarily both slow and uncertain".[21] Dem stellt Smith die Freiheit des Handels mit Grund und Boden und der Einstellung von Lohnarbeitern sowie die Sicherheit von Gütern und Personen entgegen – und dabei erscheinen schon für ihn die USA als Vorbild der "natürlichen" Entwicklung [évolution].[22] Insgesamt scheint es durchaus so zu sein, dass in diesem Kernpunkt der kritische Charakter von Marx' Haltung zu diesen Entwicklungen einfach darin bestanden hat, die sozio-historische Analyse von Adam Smith vollständig zu übernehmen und dabei nur die negativen Werturteile zu tilgen.[23]

Die übergroße Mehrheit der französischen Historiker der ersten Hälfte hat nicht anders gekonnt, als mehr oder weniger unablässig über die Revolution nachzudenken, ganz gleich, welche Epoche sie untersucht haben. Die Ent-stehungsbedingungen der Bourgeoisie, die Wechselfälle ihres Aufstiegs und die Modalitäten ihres Triumphes – das waren die Themen, mit denen es die besten Geister zu tun hatten.[24]

In seinem berühmten Brief an Weidemeyer vom 5. März 1852 hat Marx dies genauer formuliert: "Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt." (MEW 28, S. 507 f.). Schon 1847, in seiner Misère de la philosophie (Das Elend der Philosophie), hatte Marx festgehalten: "Man hat viele Untersuchungen angestellt, um den verschiedenen historischen Phasen nachzuspüren, welche die Bourgeoisie von der Stadtgemeinde an bis zur Konstituierung als Klasse durchlaufen hat." (MEW 4, S. 181).

"Die Bourgeoisie" ... "viele Untersuchungen"? Worauf genau bezieht sich Marx hier? In seinen bis 1852 verfassten Texten finden sich nur (ganz spärliche) Verweise auf Guizot, von dem übrigens bekannt ist, dass Marx persönlich dessen beide Hauptwerke besessen hat.[25] Damit finden wir uns auf einen konkreten Autor bezogen, übrigens auf den größten französischen Historiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Guizot hatte 1828 erklärt: "Die moderne Geschichte ist vom Klassenkampf [...] erfüllt. Das moderne Europa ist aus dem Kampf der unterschiedlichen Klassen der Gesellschaft entstanden."[26] Hier finden wir also den Klassenkampf als Motor der Geschichte. Es bleibt aber zu betonen, dass Guizots Sicht der Geschichte, wie weit auch immer sein extremer Rationalismus gegangen ist und so sehr es ihm auch um eine umfassende Analyse der Kultur gegangen ist, immer von Grund auf politisch geblieben ist. Es konnte sich also – im Hinblick auf die Synthese des historischen Materialismus – nur um ein in ein sehr viel umfassenderes Schema zu integrierendes Element handeln.

Insgesamt kommen wir nicht umhin, in diesem Stadium der Untersuchung zwei Punkte zu betonen: 1. die geradezu erdrückende Vorherrschaft der smithi-anischen Auffassung des Feudalismus im Jahre 1845; 2. die beträchtlichen Unsicherheiten, vor denen wir stehen, wenn es darum geht, welche genaueren Kenntnisse damals Marx (und Engels) in Bezug auf die Geschichte Europas vom 5. bis zum 18. Jahrhundert gehabt haben können. Allein eine bis ins Einzelne hinein kommentierte und kritische Ausgabe der Deutschen Ideologie würde es möglich machen, in dieser Frage wirklich klar zu sehen.

[1] Marx hat keine im eigentlichen Sinne historische Forschung betrieben. Man muss sich aber auch daran erinnern, dass die gewöhnliche Praxis der Historiker der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Auswertung von Archiven mit umfasste – aus vielfältigen Gründen: sei es aufgrund der sehr schwierigen Zugänglichkeit der Bestände (in vielen Fällen blieben die Archive verschlossen, ganz allgemein gab es keine Bestandslisten). Man sollte nichtsdestotrotz festhalten, dass Marx beständig darum besorgt gewesen ist, seine Belegstellen anzugeben und seine Texte mit Anmerkungen auszustatten (im ersten Buch des Kapital hat er sich in dieser Hinsicht sehr beträchtliche Mühe gegeben). Und dies ganz im Gegensatz zu der damals bei Philosophen, den Ökonomen und auch noch bei vielen Historikern üblichen Praxis.

[2] Für den Zeitraum von 1867 bis 1883 hat Marx nur Briefe und Notizbücher hinterlassen und die in dieser Zeit von ihm veröffentlichen Texte haben einen äußerst begrenzten Umfang. Die Untersuchung der geistigen Aktivitäten von Marx in diesem Zeitraum sind noch nicht weit genug vorangeschritten und die Edition der Manuskripte hat noch einen allzu geringen Umfang, um sich ohne unvernünftigen Wagemut an diese Epoche heranzutrauen (in der sich, wie man noch sehen wird, tatsächlich Tendenzen weiter verstärkt haben, welche sich schon sehr viel früher abzeichneten).

[3] [Diese Feststellung bezieht sich auf die Editionslage vor dem Erscheinen der MEGA² (vgl. Anm. 5). Da im Folgenden nur in der MEW zuverlässig zugängliche Schriften zitiert werden, konnte auf eine Umstellung der Nachweise auf die MEGA² verzichtet werden. – fow (Dieses Kürzel verweist im Folgenden auf Anmerkungen des Übersetzers der Arbeit von Guerreau F.O. Wolf)].

[4] [Zum ggw. Stand der MEGA² vgl. die Überblicke bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (http://www.bbaw.de/forschung/mega). – fow].

[5] Zur anlaufenden neuen Ausgabe der vollständigen Werke (neue MEGA) vgl. Gilbert BADIA, Les premiers volumes de l'édition complète de Marx-Engels (nouvelle MEGA), in: La Pensée 175 (1975), S. 138–140.

[6] Diese Notizen stammen von ganz unterschiedlichen Autoren und sind in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen verfasst worden – und zumeist in einer mehr oder minder diskret verfolgten lobrednerischen Absicht. Die Analyse dieser Werke, ihres Inhalts und ihrer Originalität beschränkt sich auf ganz wenige Fragen. Diese Notizen benutzen zu wollen, um sich eine Vorstellung davon zu verschaffen, wie diese Autoren (deren Existenz unter ganz beschränkten [médiocres] Bedingungen bekannt ist) in einem ideologischen Feld zu verorten sind, ist eine sehr gefährliche Operation, selbst wenn man es sich ganz leicht machen will.

[7] Marx studierte von 1835 bis 1836 in Bonn, wo damals Schlegel und Hüllmann lehrten, dessen Arbeiten er nach 1850 benutzt hat. Dieses erste Jahr außerhalb seines Familienkreises hatte keinen wirklichen Einfluss auf Marx‘ intellektuelle Entwicklung.

[8] Vgl. Ernst BERNHEIM, Lehrbuch der historischen Methode, S. 790 u. Georg IGGERS, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 90–94.

[9] Eduard GANS, Das Erbrecht in weltgeschichtlicher Entwicklung, 1826. Gans war zum Teil von Saint-Simon beeinflusst.

[10] Friedrich Carl von SAVIGNY, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter, 1815–1831; vgl. Eduard FUETER, Geschichte der neueren Historiographie, S. 422. Die Be-zugnahme auf Amalfi in der Deutschen Ideologie ("Gleich die erste Stadt, die im Mittel-alter einen ausgedehnten Seehandel führte, Amalfi, bildete auch das Seerecht aus.", MEW 3, S. 63) ist wahrscheinlich Savigny entnommen. Siehe auch die Bemerkung über die Kontinuität der römischen Tradition im Mittelalter im Kapital (MEW 23, S. 106).

[11] S. Auguste CORNU, Karl Marx, L'homme et l'oeuvre. De l'hégélianisme au matérialisme historique (1818–1845), Paris, 1934, S. 55.

[12] Brief von Marx an seinen Vater, 10.10.1837 (MEW, Ergänzungsband 1, S. 9) (In der Deutschen Ideologie ist die Rede vom "bekannten Kapitular Karls des Großen" [MEW 3, S. 201], was erkennen lässt, dass er sich an diese Lektüren erinnert hat).

[13] [Zumindest seit Lenins Thesen über die "Quellen" und "Bestandteile", vgl. LW 19, S. 3–9].

[14] Alexandre KOJÈVE, Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la Phénoménologie de l'Esprit, Paris 1947 (Neuausgabe 1979, S. 113).

[15] "Ein Blick auf das Hegelsche System. Man muss beginnen mit der Hegelschen Phänomenologie, der wahren Geburtsstätte und dem Geheimnis der Hegelschen Philosophie" (MEW Ergänzungsband 1, S. 571).

[16] [* deutsch im Original]

[17] Deutsche Ideologie, im Kapitel Das Leipziger Konzil. III Sankt Max zu Max Stirner (MEW 3, S. 101–436). Im Gegensatz zu Stirner, stellt Marx Hegel folgendermaßen dar: "Macht man, wie Hegel, eine solche Konstruktion zum ersten Male für die ganze Ge-schichte und die gegenwärtige Welt in ihrem ganzen Umfange, so ist dies nicht möglich ohne umfassende positive Kenntnisse, ohne wenigstens stellenweise auf die empirische Geschichte einzugehen, ohne große Energie und Tiefblick." (MEW 3, S. 159 f.) Es gibt auch zahlreiche Bezugnahmen auf die Philosophie der Geschichte, auf die Geschichte der Philosophie und auf die Philosophie der Religion. Die "Rückwendung zu Hegel", wie Marx sie von 1857 an vollzog, wird hier nicht weiter behandelt. Diese Rückwendung beschränkte sich jedenfalls offensichtlich nicht auf die Logik. Auch die nicht unbeträchtliche Bedeutung der Anspielungen auf die Religion im ersten und im dritten Band des Kapital ist mit dieser Wendung in Zusammenhang zu bringen.

[18] Die englische Taschenbuchausgabe, die Andrew Skinner bei Penguin besorgt hat, bietet den ungekürzten Text der ersten drei Bücher. Das Buch III, S. 477–520, ist überschrieben mit "Of the different progress of Opulence in different nations".

[19] A.a.O., S. 222–247 (Wages and profit. II Inequalities occasioned by the Policy of Europe).

[20] Der Eindruck ist sehr deutlich, dass Smith nicht nur diese beiden Aspekte nicht zueinander in Beziehung gesetzt hat, sondern sich in Bezug darauf sogar in einen Widerspruch verwickelt. Auf der einen Seite hält er in der Tat fest, dass die Städte einen Vorteil haben: "in the dealings of the different classes within the town with one another, none of them were losers by these regulation. But in their dealings with the country they were all great gainers; and in these latter dealings consists the whole trade which supports and enriches every town" (S. 228). Auf der anderen Seite und im Gegensatz dazu bestrei-tet er, dass hier ein Ungleichgewicht vorliege: "We must not, however, upon this account, imagine that the gain of the town is the loss of the country." (S. 479) Marx hat dagegen dieses Verhältnis von Stadt und Land systematisch ausgearbeitet, indem er die Verhältnisse der Entsprechung und der Entgegensetzung zwischen beiden artikulierte, die zwischen ihnen bestehenden Austauschbedingungen analysierte und die Beziehungen klärte, die zwischen ökonomischen und politischen Verhältnissen bestanden. Diese Frage wurde zunächst in der Deutschen Ideologie kraftvoll angegangen, dann – auf eine abstraktere und subtilere Weise – in den Grundrissen (in Bezug auf die "Formen") wieder aufgenommen und auch im Kapital erneut behandelt.

[21] A.a.O., S. 515–516.

[22] A.a.O., S. 482–483, S. 516–517.

[23] Die Frage der dafür erforderlichen "Umkehrung der Perspektive" ist von Marx mehrfach angesprochen worden – so etwa in der Misere de Philosophie (Das Elend der Philosophie, MEW 4, S. 63–182), wo er seine Kritik der Auffassung vom "natürlichen" Gang der Dinge in der Ökonomie entfaltet. In Bezug auf die Kritik des Majorats (Adam Smith, S. 484–488) muss man beachten, dass 1) Marx selbst, noch bevor er Smith gelesen hat, die Kritik des Majorats im Ausgang von seiner Hegel-Kritik (Kritik des Hegelschen Staatsrechts MEW 1, S. 301–315) in Angriff genommen hatte, und dass er 2) in der Analyse, welche er derselben Frage in den Manuskripten von 1844 gewidmet hat (MEW Ergänzungsband 1, S. 50–54), also nach seiner Smith-Lektüre, nicht nur über seinen eigenen früheren Standpunkt hinausgegangen ist, sondern auch den von Smith hinter sich gelassen hat, indem er die sozio-ökonomischen Bedingungen und Konsequenzen der Auflösung dieses Rechtsinstitutes frei legte.

[24] Georges LEFEBVRE, La naissance de l'historiographie moderne, S. 163–166.

[25] Marx hatte ganz direkt mit Guizot zu tun, der ihn im Jahre 1845 aus Paris vertrieben hat. Wie Thiers wird dieser mehr wegen seiner politischen Tätigkeiten als wegen seiner Schriften zitiert. Seine Histoire de la civilisation en France [Geschichte der Zivilisation in Frankreich] wird in der Deutschen Ideologie (MEW 3, S. 201) sowie in einem Artikel vom Februar 1848 (MEW 4, S. 513) zitiert. Dieses Werk befand sich in Marx‘ persönlichem Besitz (HARSTICK, S. 258), der wahrscheinlich ebenfalls die Allgemeine Geschichte der Kultur in Europa besessen hat (HARSTICK, S. 256).

[26] Vgl. Histoire de la civilisation en Europe, 1828, 7. Lektion.

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