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Heft 157: Vom Stalinisten zum Antistalinisten – Rudolf Bahros Frühwerk

Von: Thomas Schubert

Heft 157: Vom Stalinisten zum Antistalinisten – Rudolf Bahros Frühwerk

Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Nr. 157, 2025, 80 Seiten

Die frühen Texte Bahros und der sich in ihnen vollziehende Wandel sind von dokumentarischem Wert nicht nur für das Verständnis seiner späteren Schriften, sondern auch für die Entwicklung der politischen Ästhetik in der DDR. Hier hatte jemand zu denken begonnen, indem er anfing, sich von der SED und ihrer Weltanschauung zu emanzipieren. Bahros eigene Weltanschauung war seinem Verständnis nach weiterhin marxistisch, zum Ende seines Frühwerks hatte sie jedoch einen zum M-L und zur SED dissidenten Charakter angenommen. Zugespitzt formuliert zeigt sich bereits am Ende des Frühwerks das Grundmuster der philosophischen Weltanschauung, mit der Bahro Ende der 1970er Jahre in die Öffentlichkeit trat.                                   

Am 31. Januar 2024 hielt der Autor in der Hellen Panke einen Vortrag zum Thema „Bürgerkrieg und Romantik im Realsozialismus – Das Beispiel Rudolf Bahro“. Das vorliegende Heft enthält seinen Vortrag in erweiterter Form. Wir danken Thomas Schubert für das Manuskript.

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Dr. Thomas Schubert

studierte in Berlin Philosophie/ Kulturanthropologie (FU), Geschichte/
Humanontogenetik (HU) und arbeitet seit 2005 am Einsteinhaus in Caputh, seine Dissertation „Bürgerkrieg und Romantik im Realsozialismus. Zum Frühwerk Rudolf Bahros (1952–1970)“ erschien 2024 im Nomos Verlag.

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Inhalt                                   

Einleitung – Stalinismus und Dialektik

Vom Flüchtlingskind auf Orientierungssuche zum Dichter auf der Suche nach der großen Tat

- Kindheit und Jugend von 1935 bis 1954  
- Ein Leben, das auf einen Roman zuläuft?
- Studium an der Humboldt-Universität zu Berlin 1954­-1959
- Ein moralischer Makel?
- Jahre als Funktionär – 1959 bis 1966
- Glaubensfragen und die Hoffnung auf Mao Tse-tung
- Das Beispiel Beethoven
- Bahros '68
- Zwei Briefe an Ulbricht
- Eine erste alternative Konzeption? 

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Einleitung – Stalinismus und Dialektik

Das schmähliche Ende des Kommunismus wurde zu Recht als eines der „großen Geschichtsrätsel unseres Jahrhunderts“[1] bezeichnet. Uneinigkeit besteht in der Frage, ob und inwieweit es sich beim Stalinismus um eine Wesensform des real existierenden Kommunismus handelt, wie es der klassische, liberale Antikommunismus annimmt, oder ob beide trotz gewissen Schnittmengen wesensverschieden sind?

Vor der postulierten Abkehr vom Stalinismus in den Jahren 1956 bis 1964, bzw. vom „Personenkult um Stalin“, wie es fortan im kommunistischen Staatenverbund hieß, wurden Marxismus, Leninismus und Stalinismus synonym verstanden. Nachdem Stalin offiziell nicht mehr als ein Klassiker dieser Weltanschauung galt, wurden große intellektuelle Anstrengungen unternommen, den Marxismus-Leninismus von seinem Einfluss zu säubern.

Zuvor hatte man seitens der kommunistischen Partei freilich großen Aufwand getrieben, um das genaue Gegenteil zu beweisen: Stalin als der Vollender und gewissermaßen als der letzte Klassiker des Marxismus-Leninismus-Stalinismus.[2] Da sich dieser Richtungswechsel für die allermeisten Genossen so überraschend wie radikal vollzog, konnte er nicht ohne Folgen für die Glaubwürdigkeit dieser Lehre sein, bzw. für den Glauben daran.

Generationen von Parteimitgliedern und von Studenten waren in dem Glauben an Stalin erzogen worden. Nun, nach dem Wegfall nicht nur einer, sondern der zentralen Prämisse dieses Glaubens, sollten sie nicht einfach den Glauben wechseln oder ihn an die neuen Gegebenheiten anpassen. „Stalin hat immer Recht!“ galt nun nicht mehr. Doch die dabei abgenötigte Bewusstseinsakrobatik war kompliziert und ist heute nur noch mit Mühe nachvollziehbar. Dabei handelt es sich um eine besondere Form der Dialektik.

Die neue Prämisse war gewissermaßen die alte, sie lautet: „Die Kommunistische Partei (d.h. ihre Führung) hat immer Recht“. Dabei sprach man viel von der Wiederherstellung der Leninschen Normen, von innerparteilicher Demokratie, kollektiver Führung, der Geltung sozialistischen Rechts usw. Was sich auf diese Weise aber nicht erklären ließ, waren die vielen Stalin zugeschriebenen Erfolge und Errungenschaften, an deren Aufgabe wohl die allerwenigsten dachten. Es wurde behauptet: Im Großen und Ganzen habe Stalin der Sache des Kommunismus gedient, trotz aller von ihm verantworteten Massenmorde und seiner sonstigen Verbrechen. Irgendwie haben sich die historische Notwendigkeit und der damit identische Wille der Partei trotz Stalin oder gewissermaßen in seinem Rücken realisiert, wenn es dabei auch zu Überspitzungen gekommen sei. Das Wort Fehler wurde sogfältig vermieden, da es der alten wie der neuen Prämisse wiedersprach.

Solche Sprachregelungen warfen neue Fragen auf: Warum konnte eine Person wie Stalin, mit all ihren nun bekanntgewordenen Fehlern, überhaupt an die Spitze von Partei und Staat gelangen? Wie konnte seine Herrschaft über Jahrzehnte als höchster Ausdruck der kommunistischen Weltanschauung und Moral beschrieben, besungen und bewiesen werden, wenn sich nun herausstellte, dass Stalin wenig bis nichts mit der wissenschaftlichen und wahren Weltanschauung des M-L zu tun hatte? Hatte diese Weltanschauung nicht vielleicht doch mehr mit Stalin zu tun, als jetzt behauptet? Wie konnte es zu solch einem Fehler im System kommen, wenn solche Fehler doch logisch ausgeschlossen sein sollten? Entweder handelte es sich bei Stalins Herrschaft tatsächlich um einen Fehler im System, was dessen absoluten Wissenschafts- und Wahrheitsanspruch delegitimieren würde, oder die Diktatur und die mörderische Herrschaft Stalins wäre nicht Fehler, sondern Ausdruck und zwingende Konsequenz genau dieses Systems, womit es moralisch delegitimiert gewesen wäre.

Dieses Dilemma verschwand nicht mehr, es wurde umso sichtbarer, indem man es begrifflich aufzulösen suchte. Letztlich blieb der Obrigkeit in Partei und Staat nur übrig, eine Lösung zu dekretieren, den Glauben daran einzufordern und über öffentliche Erweise dieses Glaubens mit polizeilichen und geheimpolizeilichen Mitteln zu wachen. Das konnte selbst loyal zum Staat und zur Partei eingestellte Menschen kaum überzeugen – zumindest nicht jene, die trotz Stalins Einfluss gelernt hatten, selbständig zu denken oder die sich einen Teil dieser Fähigkeit über die Dauer seiner Herrschaft bewahrt hatten. Das sich aus dem paradoxen und letztlich ungeklärten Verhältnis der kommunistischen Parteien zu Stalin ergebende Entweder-oder bei gleichzeitigem sowohl als auch stellte eine unauflösliche Herausforderung für das Denken und eine bleibende Gefahr für die Legitimation der Mächtigen dar.

Die geläufigen Möglichkeiten, auf das staatliche Wissens- und Gewaltmonopol zu reagieren, waren folgende: Entweder es gelang, diese Fragen und damit das Problem zu ignorieren – und man gab damit das Denken auf – oder man gab den kommunistischen Glauben auf und damit auch die Hoffnung auf die Reformierbarkeit des politischen Systems. Doch welche Möglichkeit blieb jenen, die den Stalinismus bekämpfen wollten, ohne dabei von der kommunistischen Utopie eines Lebens frei von jeglicher Entfremdung zu lassen? Dieser dritten Möglichkeit, auf das Dilemma zu reagieren, in das eine inkonsequente Entstalinisierung geführt hatte, folgten die Vertreter der innerparteilichen oder innermarxistischen Opposition.

Einer ihrer bekanntesten Vertreter in der DDR war Rudolf Bahro. Ihr vielleicht mächtigstes Zeugnis war sein Buch Die Alternative[3] von 1977. Darin findet sich eine alternative Sicht auf die Geschichte des real existierenden Sozialismus mit drei wesentlichen Punkten: Erstens handele es sich dabei um eine Mischform von bereits sozialistischen und noch (monopol)kapitalistischen Elementen. Zweitens sei in der sozialistischen Welt der Stalinismus noch immer das prägende Moment der Herrschaft. Und Drittens müsse und könne die Gesellschaft davon befreit werden, indem man gesamtgesellschaftlich die versandeten Reformen der Entstalinisierungsphase (Rückkehr zu den Leninschen Normen) wiederaufnehme.

Bahro beschrieb mit soziologischer Präzision die stalinistischen Herrschaftspraktiken und warum sie nicht zu den Erfordernissen einer sozialistischen Industriegesellschaft passen. Dabei rechnete er aus vollem Herzen mit dem bürokratischen Machtapparat ab, in den sich die kommunistischen Parteien verwandelt hatten – ohne dabei in das Lager des sich liberal und demokratisch verstehenden Antikommunismus zu wechseln. Quasi über Nacht wurde er zu einer Berühmtheit, die wie niemand sonst die Hoffnung auf eine genuin demokratische wie sozialistische Perspektive verkörperte – eine Hoffnung, die mit dem Scheitern des Prager Frühlings im August 1968 ihren Glanz verlor.

Bahro hatte mit dem Buch eine sozial-ökonomische Analyse der sozialistischen Welt mit der Forderung einer sozialistischen Kulturrevolution verbunden und damit einen Nerv auch und vor allem im Westen getroffen. Nach der Verurteilung wegen Geheimnisverrats, einer Haftstrafe, internationalen Protesten und der Übersiedelung in die Bundesrepublik schrieb Bahro mit Logik der Rettung ein zweites Buch[4]. Es sollte die Fortsetzung der Alternative unter den Bedingungen des Westens sein, und sie war es auch – was damals allerdings kaum bemerkt wurde. Was Bahro damit vorlegte war eine weitere – allerdings weniger orthodoxe – marxistische Analyse nun allerdings der Entfremdungszusammenhänge innerhalb der bürgerlich-liberalen Welt, wieder unter besonderer Berücksichtigung von Ressourcenverknappung und ökologischer Krise und wieder mündend in das Konzept einer kulturrevolutionären Transformation, diesmal der westlichen Industriegesellschaft.

Um die beiden Bücher soll es heute nicht gehen und damit auch nicht um deren noch ausstehenden Vergleich. Zusammengenommen stehen sie für eine von 1970 bis 1989 reichende Phase, die Werkgeschichtlich als Bahros Hauptwerk bezeichnet werden kann. Davon heben sich ab: Ein von 1990 bis 1997 reichendes und inzwischen gut dokumentiertes Spätwerk und ein sich über den Zeitraum 1952 bis 1970 erstreckendes und weitgehend unbekanntes Frühwerk. Stellvertretend für das Spätwerk steht ein 2007 aus dem Nachlass heraus veröffentlichtes Buch von 1994 mit dem Titel: Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR[5]. Darin enthalten sind eine Lebensbeichte oder eine Art kommunistische Kritik und Selbstkritik, adressiert an den kommenden Star der PDS, die junge Philosophiestudentin Sahra Wagenknecht. In ihr glaubte er die kommende Parteivorsitzende zu erkennen, wobei er ihr damals bereits riet, es mit einer eigenen politischen Bewegung zu versuchen, die sich unabhängig vom oder quer zum sich überlebt habenden Parteienspektrum bewegt.[6]

Das Frühwerk umfasst alle Texte des Schülers, Studenten, Parteiarbeiters und Zeitungsredakteurs, die bis zum Entschluss heranreichen, mit der Partei zu brechen und mit der Arbeit an der Alternative zu beginnen. Zu dem Konvolut gehören zwei Gedichtbände, Theater- und Literaturkritiken, Propagandatexte, wenige Briefe und erste kritische Texte, die bereits einen oppositionellen Geist verraten. Hervorzuheben sind zwei Bücher: Bahros Diplomarbeit von 1959 Das Beispiel Becher[7] und das aus Vorarbeiten zu einer Doktorarbeit hervorgegangene Buch Das Beispiel Beethoven[8] von 1968/69. Die Bücher markieren die Spannweite des Frühwerks und Bahros Entwicklung von einem noch ganz in den intellektuellen Konventionen und Fallstricken des Stalinismus verhafteten Parteisoldaten hin zu einem bekennenden Antistalinisten. Allerdings bringt er seine Kritik am bestehenden System vorerst noch kaum zu vernehmen in den Kulissen der Französischen Revolution und der sich daran anschließenden Restaurationszeit vor. In seiner Diplomarbeit zeigt er sich bereit, die historische Wahrheit einem Vorteil in der Systemauseinandersetzung zu opfern, und er empfiehlt sich als ein williger Zensor. Ganz anders in seinem während des Prager Frühlings geschriebenen Buch. Darin spiegelt sich der Kampf um die Wiederherstellung der historischen Wahrheit, insbesondere gegenüber Stalin. Bahro formuliert hier erstmals in einem abgeschlossenen Text seine widerständige Weltanschauung. Er zeigt sich dem verständigen Leser und versteckt seine häretischen Gedanken gleichsam vor dem mitlesenden Zensor.

 

Vom Flüchtlingskind auf Orientierungssuche zum Dichter auf der Suche nach der großen Tat

Kindheit und Jugend von 1935 bis 1954

Am 18. November 1935 wurde Rudolf Bahro im niederschlesischen Isergebirge in der Kurstadt Bad Flinsberg in eine protestantische Familie hineingeboren. Die religiöse Orientierung seiner Mutter beschrieb er als an „Bigotterie“ grenzend, die seines Vaters als pragmatisch „pantheistisch“[9], einschließlich regelmäßiger Kirchgänge. Im Februar 1945 kam es zur Evakuierung der Familie vor der heranrückenden Front. Auf den Transport ging es zusammen mit der Mutter, zwei jüngeren Geschwistern sowie einer Tante. Sein in der Landwirtschaft tätiger Vater wurde zum Volkssturm eingezogen und blieb zurück. Als sich die Evakuierung zur Flucht und später zu einer mehrmonatigen Odyssee entwickelte, kam es auf dem Bahnhof von Bratislava zu einem dramatischen Ereignis: „In dieser Stadt“, als der Zug sich ohne Vorankündigung in Bewegung setzte „verlor ich für immer meine Mutter und meine beiden Geschwister“, so Bahro in dem Lebenslauf von 1978.[10] Die drei mussten nach Schlesien zurückkehren, wo sie den Winter 1945/46 nicht überlebten. Der Umstand, dass sie an Typhus erkrankten und ...

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[1] Koenen, Gerd: Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao Tse-tung – Führerkulte und Heldenmythen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1991, S. 15 f.

[2] In Deutschland allen voran das „Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut beim ZK der SED“.

[3] Bahro, Rudolf: Die Alternative – Zur Kritik des realen Sozialismus, Köln 1977 und Berlin [Ost] 1990.

[4] Bahro, Rudolf: Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, Stuttgart/Wien 1987, Berlin [Ost] 1990.

[5] Bahro, Rudolf: Das Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR [1995], in: Herzberg, Guntolf (Hrsg.): Rudolf Bahro, Denker, Reformator, Homo politicus (Nachlasstexte und Interpretationen), Berlin 2007, S. 33–163.

[6] Nach Auskunft von Bahros letzter Frau Marina Lehnert ist bis auf eine handgeschriebene Karte, auf der Wagenknecht den Empfang des Manuskripts bestätigt, keine weitere Reaktion bekannt.

[7] Bahro, Rudolf: Johannes R. Becher und das Verhältnis der deutschen Arbeiterklasse und ihrer Partei zur nationalen Frage unseres Volkes, Humboldt-Universität Berlin 1959. Der verwandte Kurztitel entstammt dem Text.

[8] Bahro, Rudolf: …die nicht mit den Wölfen heulen. Das Beispiel Beethoven. Und sieben Gedichte, Köln 1979. Das Beispiel Beethoven ist der ursprüngliche Titel. Er wurde seitens des Verlages erweitert.

[9] Bahro (1984): From Red to Green. Interviews with New Left Review, London 1984, S. 4. Die Übersetzungen aus dem Buch stammen von Thomas Schubert.

[10] Herzberg/Seifert: Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie, Berlin 2002, S. 19 f.

  • Preis: 4.00 €
  • Erscheinungsjahr: 2025