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Heft 37: Zur Aktualität von Peter Rubens philosophischem Werk

Vorträge im Rahmen einer Veranstaltung aus Anlass des 80. Geburtstages von Peter Ruben

Von: Erhard Crome, Manfred Lauermann, Oliver Schlaudt, Rainer Schwarz

Heft 37: Zur Aktualität von Peter Rubens philosophischem Werk

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 37, 2015, 62 S.

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Autoren:

Erhard Crome, Dr. habil. (geb. 1951)

Politikwissenschaftler, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 

Manfred Lauermann, Dr. phil. (geb. 1947)

Philosoph und Privatgelehrter, Hannover 

Oliver Schlaudt, Dr. phil. (geb. 1978)

Studium der Physik; Philosoph, Universität Heidelberg 

Rainer Schwarz, Prof. Dr. Dr. (geb. 1937)

Studium der Physik; Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler, Berlin           

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INHALT  

Vorwort von Erhard Crome                                                                                     

Oliver Schlaudt

Zur Aktualität von Peter Rubens philosophischem Werk             

Rainer Schwarz

Dialektik in Bewegung: Peter Rubens wissenschaftliches Leben

für die Dialektik                                                                                 

Manfred Lauermann   

Ruben und der westliche Marxismus

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 LESEPROBE 

Vorwort von Erhard Crome

Der Berliner Philosoph Peter Ruben ist am 1. Dezember 2013 achtzig Jahre alt geworden. Berliner Debatte Initial e.V. hat aus diesem Anlass eine Festschrift herausgegeben (Erhard Crome, Udo Tietz [Hg.]: Dialektik – Arbeit – Gesellschaft. Festschrift für Peter Ruben, Potsdam: WeltTrends Verlag 2013). Helle Panke und Berliner Debatte Initial haben am 4. Dezember 2013 eine Diskussionsveranstaltung zu seinem Werk organisiert und die Festschrift präsentiert. In überfülltem Saal wurden unterschiedliche Sichten auf Ruben und sein Werk präsentiert.

Die Umstände in der DDR und nach der deutschen Vereinigung haben es bewirkt, dass er nicht – wie es seiner wissenschaftlichen Leistung angemessen gewesen wäre – gleichsam schulbildend wirken konnte. Dennoch sehen sich viele Philosophen, Geistes- und Sozialwissenschaftler von ihm zu tieferem Nachdenken über wissenschaftliche Probleme und Fragestellungen angeregt.

Ab 1955 studierte Peter Ruben Philosophie in Berlin. Nach Vorwürfen, in „staatsfeindliche“ Aktivitäten verstrickt gewesen zu sein, musste er 1958 das Studium unterbrechen, konnte es nach „Bewährung in der Produktion“ aber fortsetzen und 1963 abschließen; es folgten 1969 die Promotion und 1976 die Habilitation. Sein Interesse galt zunächst dem Verhältnis der Philosophie zur theoretischen Physik und Mathematik. Im Gegensatz zu der in der offiziellen DDR-Philosophie vorherrschenden Vorstellung, Philosophie sei Verallgemeinerung fachwissenschaftlicher Ergebnisse, bestand Ruben auf ihrer Autonomie, sah die Dialektik als Methode der Philosophie, die Analytik als die der Fachwissenschaft. Rainer Schwarz, der in den 1960er Jahren mit Ruben gemeinsam an dem legendären Lehrstuhl von Herrmann Ley an der Berliner Humboldt-Universität gearbeitet hatte, berichtete über jene Zeit, in der die Suche nach Beiträgen der Wissenschaft zur Steigerung der Arbeitsproduktivität in der DDR im Mittelpunkt stand.

Die materialistische Philosophie entwickelte Ruben von der Kategorie der Arbeit her. Diese Auffassung war im Tätigkeitskonzept von Kant bis Hegel als Subjekt-Objekt-Problem vorgegeben, aber in ihm wurde die Frage, wie das denkende Subjekt zu Objekten gelangt, idealistisch beantwortet: Die Objekte werden vom Subjekt gesetzt, Dinge erscheinen als Verdinglichungen ideellen Tuns. Ruben hob dieses Konzept materialistisch auf, indem er, Marx folgend, in der Arbeit die Tätigkeit des Subjekts bestimmte und sie in ihrer kategorial dreigliedrigen, aus Subjekt, Arbeitsmittel und Objekt bestehenden Struktur herausarbeitete. Rubens Philosophie-Konzept passte der SED-Staatsideologie nicht in den Kram. So wurde Anfang der 1980er Jahre mit dem Revisionismus-Verdikt versucht, ihn aus der Wissenschaft auszuschließen. Darüber sprach Manfred Lauermann aus Hannover, der Rubens Texte als westdeutscher „68er“ gelesen und seit den 1970er Jahren die Diskussion mit Ruben gesucht hatte. Als die „Ruben-Affäre“ inszeniert wurde, versuchte Lauermann, eine politische Intervention aus dem Westen zur Unterstützung Rubens zu organisieren.

Peter Ruben kommentierte den Titel der Veranstaltung, der zugleich der Titel der zu seinem Geburtstag herausgegebenen Festschrift war: „Dialektik – Arbeit – Gesellschaft“ und gab streitbar und prägnant Interpretationen zu allen drei Grundkategorien. Oliver Schlaudt, ein junger Wissenschaftler, der auf dem Gebiet der Wissenschaftstheorie an der Universität Heidelberg arbeitet, berichtete darüber, wie viele Anregungen Rubens heute in wachsendem Maße dazu beitragen, moderne Probleme der Naturwissenschaften besser zu verstehen. Vieles, das er bereits in den 1970er Jahren publiziert hatte, liegt noch heute jenseits des Horizonts der Mainstream-Wissenschaft. Auch für eine kritische Gesellschaftsanalyse, die sich den Anforderungen des 21. Jahrhunderts stellt, hat Peter Ruben noch einiges zu bieten.

Hiermit (im Heft 36 und 37 der vom Verein „Helle Panke“ e.V. herausgegebenen Reihe „Philosophische Gespräche“) werden die vier Vorträge in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung der Öffentlichkeit vorgelegt.

  

Oliver Schlaudt 

Zur Aktualität von Peter Rubens philosophischem Werk 

Wenn ich mich hier zur Aktualität von Peter Rubens philosophischem Werk äußere, so ziele ich dabei vor allem auf die „rein philosophischen“ Arbeiten (also jene, die in der online-Ausgabe als Ausgabe letzter Hand unter den Rubriken „Philosophische Grundlagen“ und „Die Philosophie in der Erkenntnis der Natur“ versammelt sind). Diese Einschränkung erklärt sich einfach durch die Tatsache, dass Peter Ruben in seinen sozialphilosophischen Arbeiten den Bezug zur Gegenwart selbst kontinuierlich herstellt und sich somit jeder Kommentar über die Aktualität erübrigt.

Wenden wir uns also den „Grundlagen“ zu! Jeder Ruben-Leser weiß, wofür er diese Arbeiten schätzt: Wer hat nicht gespürt, dass in den Schriften des jungen Marx – so antiakademisch und vielleicht gar antitheoretisch sie sich in der Rhetorik des unmittelbaren Vormärz geben, angefeuert vielleicht noch durch Heinrich Heine – wohl doch eine Erkenntnistheorie verborgen liegt.[1] Peter Ruben hat das Verdienst, die schwer verständlichen Andeutungen zu einer Theorie ausgebaut zu haben. Werfen wir kurz einen Blick in die Interpretationsgeschichte, um uns die Besonderheiten dieser Leistung vor Augen zu führen.

 

Zur Interpretationsgeschichte der Erkenntnistheorie

Den vielleicht beachtenswertesten Versuch einer Hebung der Marx`schen Erkenntnistheorie vor und neben Peter Rubens Ansatz stellt wohl die frühe Wissenssoziologie der 1920er Jahre dar – beachtenswert vor allem deshalb, weil sie Verkürzungen der „ideologiekritischen“ Interpretation zu überwinden trachtete. Die verbreitete Interpretation als Ideologiekritik beschränkt die erklärende Historiographie, wie sie Marx und Engels in der Deutschen Ideologie umreißen, ja erstens auf eine Kritik des „falschen“ Bewusstseins unter Verzicht auf eine historisch-materialistische Theorie des „richtigen“ Bewusstseins, oder sagen wir doch einfach des Bewusstseins überhaupt (in diese Richtung geht dann beispielsweise Lev Vygotskij[2]); und zweitens handelt sie sich immer wieder das Problem des besonderen Standpunkts ein, von welchem die weltlichen Verstrickungen des falschen Bewusstseins denn durchschaut werden können (Kandidaten waren die „freischwebenden Intellektuellen“ oder das Proletariat als diejenige Klasse, der an der Verschleierung der Verhältnisse nichts gelegen sein kann). Die Einsicht, dass man eines solchen Standpunkts gar nicht bedarf, ist eine späte, sie wurde in aller Deutlichkeit vielleicht sogar erst ab den 1970er Jahren von den schottischen Wissenssoziologen der Edinburgher Schule ausgesprochen.[3] Aber ihr geht natürlich die weitere Einsicht voraus, dass sich auch die erstens genannte asymmetrische Einschränkung soziohistorischer Erklärung und Erklärbarkeit auf „falsches“ Bewusstsein letzten Endes nicht rechtfertigen und aufrechterhalten lässt. Hat man aber einmal verstanden, oder sich auch nur damit abgefunden, dass sich alle Geistesarbeit unter den jeweiligen historischen Bedingungen – oder sagen wir sogar: in ihnen als ihrem Medium – realisieren muss, gleich ob „ideologisch“ bzw. schlicht irrend oder „ideologiekritisch“ bzw. schlicht richtig, so löst sich die Pflicht, eine epistemische Sonderposition außerhalb aller Verstrickung zu begründen, ganz einfach in Luft auf.

Diese wissenssoziologische Interpretation des Programms der Feuerbachthesen und der Deutschen Ideologie ist verdienstvoll, verlangt aber einen hohen Preis: Sie vermochte eine genetische Theorie des Bewusstseins und der Bewusstseinsinhalte nur unter Aussparung der Geltungsfrage anzuvisieren. Wissenssoziologie ist eben keine Erkenntnistheorie. Und auf den ersten Blick scheinen wir hier einem Dilemma ausgesetzt: Entweder wir zielen auf eine Erkenntnistheorie, stellen also die Geltungsfrage und handeln uns damit das Problem der Rechtfertigung eines asymmetrischen Ansatzes und die Frage nach dem epistemisch bevorzugten Standpunkt ein; oder aber wir lösen diese Probleme nach dem Vorbild der Wissenssoziologie auf, können aber die Geltungsfrage nicht mehr stellen, weil diesem Ansatz ja die Blindheit gegenüber der Wahr-falsch-Unterscheidung bereits eingeschrieben ist. Wer alle Wissensinhalte, unabhängig von ihrer Evaluierung durch Dritte als wahr oder falsch, soziohistorisch erklären will, ist zur vollkommenen Wahr-falsch-Blindheit verdammt und kann diesen Unterschied nicht mehr thematisieren. Die Beschränkung auf die Tatsachen der Empirie versperrt den Weg zu Geltungsfragen.

Ist das wirklich so? So verdienstvoll die „symmetrische“ Interpretation des in der Deutschen Ideologie umrissenen Programms ist, sie hat doch dieses Buch ohne die Feuerbachthesen gelesen. In diesen springt uns ja der Praxisbegriff entgegen, welchen Peter Ruben in die „Zentralkategorie Arbeit“ übersetzen wird – Zentralkategorie einer Erkenntnistheorie wohlgemerkt! –, welcher aber in der Wissenssoziologie nirgends vorkommt. In der Tat können wir der Wissenssoziologie, was vielleicht zu tautologisch ist um wirklich auf der Hand zu liegen, „Soziozentrismus“ vorwerfen. Dieser Soziozentrismus beerbt gewissermaßen direkt den Logozentrismus der Analytischen Wissenschaftstheorie: wie diese Wissenschaft auf Theorien reduziert (und über dem Produkt die Produktion vergaß), so reduziert jene die Fülle der Faktoren, von denen die Erklärungen des Historischen Materialismus ausgehen, den materiellen Reproduktionsprozess der Gesellschaften nämlich, auf wissenschaftliche Kontroversen, also auf Sprachverhalten. Die „materielle Produktion des unmittelbaren Lebens“, die „wirklichen Voraussetzungen“, also „die wirklichen Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefundenen wie die durch ihre eigne Aktion erzeugten“, sind aber doch mehr als bloßes Sprechen. Über den Arbeitsprozess heißt es im fünften Kapitel des Kapital:

„Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.“[4]

Dies sind also die Faktoren, von denen ein historisch-materialistischer Ansatz in der Wissenschaftstheorie ausgehen kann. Und dies sind zugleich natürlich auch die Aspekte, die uns an der über die Produkte wissenschaftlicher Arbeit vergessene Produktion der Erkenntnisse interessiert. Nicht bitte schön eine Psychologie des Gedankenblitzes, wie ein Newton oder Einstein auf seine berühmte Formel kam! Sondern warum die Zeit dafür reif war, wie nämlich die Naturphänomene technisch so beherrsch- und handhabbar wurden, dass sie sich auch arithmetisch domptieren ließen und die symbolischen Formeln auch einen materiellen und vor allem öffentlich vorzeigbaren Referenzgegenstand im Labor erhielten.

Fasst man die Dinge so, wird auch die Waffe der Unterscheidung zwischen Genese und Geltung, zwischen „Entdeckungszusammenhang“ und „Rechtfertigungszusammenhang“ (nach Hans Reichenbach), mit welcher sich die Erkenntnistheorie gegen alle Historizität verteidigen wollte, stumpf und unbrauchbar. Wirksam erscheint diese Unterscheidung nur so lange, wie man die Genese wissenschaftlicher Erkenntnis eben auf psychologische Trivia beschränkt. In der Tat, wieso sollte die Geltung eines Naturgesetzes von der Laune des Forschers abhängen, welcher es vielleicht seine erste Formulierung verdankt? Schon Karl Mannheim hat 1929 die Genese-Geltung-Unterscheidung als Strategie der Erkenntnistheorie durchschaut, ihre Hoheit als autonomes Fach zu verteidigen.[5] Und er hat sie auch sogleich durch eine schlichte Frage ad absurdum geführt: Ist die Erkenntnistheorie nicht immer darauf angewiesen, dass ihr der Gegenstand ihrer Reflexion mit historischer Tatsächlichkeit gegeben wird? Geschichtlichkeit, die die Erkenntnistheorie in einer Emanzipations- und Abgrenzungsbemühung gerne abstreifen würde, entpuppt sich als der eigentliche Gegebenheitsmodus ihres Gegenstands! Genese und Entdeckungszusammenhang sind somit mitnichten von vornherein als bloß akzidentiell zu betrachten. Was der Wissenssoziologe Karl Mannheim dabei aber noch nicht sah, ist, dass man in den angeblich zufälligen historischen Begleitumständen wissenschaftlicher Erkenntnis auch den Schlüssel zur Geltungsfrage finden kann, wenn man nur, wie eben Peter Ruben es dann tat, Wissenschaft als Aspekt des Gesamtprozesses der gesellschaftlichen Reproduktion begreift und somit konstitutiv auf die technische Naturbeherrschung rückbezieht. Das Wissen verlässt niemals, zumindest niemals ganz und gar seinen Entdeckungszusammenhang. Der Entdeckungszusammenhang ist gegenüber Geltungsfragen nicht akzidentiell; vielmehr kann der Geltungsdiskurs nur dazu dienen, etwas an dem Entdeckungszusammenhang als konstitutiv herauszuheben und anderes als akzidentiell auszuscheiden.

Wir haben Peter Rubens Erkenntnistheorie damit schon aufs Tableau gebracht. Ihre Leitgedanken von der „Wissenschaft als allgemeiner Arbeit“[6] und der „Zentralkategorie Arbeit“[7] erklären sich nun fast von selbst. (Zumindest will ich sie an dieser Stelle nicht weiter erklären und verweise den interessierten Leser auf die Literatur.) Was wir aber noch nicht berührt haben, ist die Frage nach der Aktualität der Rubenschen Erkenntnistheorie. Nun, die Rubensche Erkenntnistheorie, so sagten wir, ist die Marx`sche Erkenntnistheorie, herausgearbeitet, entwickelt, sprachkritisch auf dem neuesten Stand. Wenn wir ihre Aktualität verstehen wollen, so können wir uns doch fragen, warum sie für Marx aktuell war, und ob dies auch in den 1960ern und 70ern noch so war und auch heute noch so ist.

Also, warum lag es Marx zumindest am Umriss einer praxiszentrierten Erkenntnistheorie? Ich möchte mich hier nicht auf Behauptungen über das marxsche Gesamtwerk noch auf den Entwurf seiner Aufgaben von der Perspektive der Pariser Jahre her einlassen. Machen wir es uns einfach und nennen schlicht die Motivation, die Marx seinen Thesen über Feuerbach (MEW 3, S. 5 f.) als Zeitdiagnose selbst voranstellte.

Marx beschreibt das Feld der philosophischen Literatur als gespalten in ein materialistisches und ein idealistisches Lager, die freilich beide das Erkenntnisproblem nicht zu lösen vermögen. Der Materialismus nicht, weil er das erkennende Subjekt im Wesentlichen auf eine passive Registriervorrichtung von Sinnesreizen reduzierte. Er wird damit zum „anschauenden Materialismus“, der die tätige Seite des Erkenntnisprozesses, sei dies nun experimentelle oder intellektuell verarbeitende, begriffsbildende Tätigkeit, ausblendet. Diese tätige Seite wurde im Anschluss an Kant im Idealismus durchaus ernstgenommen, gleichwohl aber nur als rein geistige gefasst. Das erkennende Subjekt ist hier also sehr wohl ein aktives, aber seine Aktivität beschränkt sich auf geistiges Handeln. Die Herausforderung, wie sie sich für Marx darstellt, benennt er freilich abstrakt und in aufs äußerste komprimierter Form: den Gegenstand als „Tätigkeit“ fassen (These 1, MEW 3, S. 5).

Wir haben nun bereits gesehen, oder zumindest in groben Zügen umrissen, wie Peter Ruben eine Erkenntnistheorie entwarf – diesmal mit Akzent auf den zweiten Wortteil, „Theorie“, als detailliert entwickelte Lehrmeinung –, welche den Anspruch erheben kann, diese marxsche Formel entwickelt und eingelöst zu haben. Ein Desiderat war dies in den Zeiten, als Peter Ruben die Grundgedanken seiner Erkenntnistheorie erstmalig aussprach, also in den 1960er Jahren, durchaus. Um die Situation auf den Punkt zu bringen: Logozentrismus allerorten. Selbstredend in der analytischen Wissenschaftsphilosophie in der Tradition des Logischen Positivismus; aber sogar noch im Methodischen Konstruktivismus der Erlanger Schule, deren Gründungsdokument, die Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens in erster Auflage 1967 erschien. Was die analytische Wissenschaftsphilosophie angeht, so erfuhr deren Programm, wissenschaftliche Theorien, abgesehen von logischem Hilfswerkzeug, allein unter Rekurs auf unmittelbare Erfahrungsdaten zu begründen, ja durchaus eine Kritik von Innen heraus, wobei vor allem die Vorstellung unmittelbarer Sinnesdaten infrage gestellt wurde (Quine und Sellars). Diese Kritik hat auch interessante Konsequenzen, wie z.B. diejenige, dass tatsächlich die Vorstellung einer Historizität wissenschaftlicher Erkenntnis in die Reichweite des Denkbaren rückt, wenngleich hier nur negativ vermittelt über die Einsicht in die Unmöglichkeit, ihrem Wesen nach vortheoretische und damit ahistorische „unmittelbare Sinnesdaten“ als Begründungsinstanzen wissenschaftlicher Theorien in Stellung zu bringen. Die entscheidende Idee war damit aber noch lange nicht berührt, die Idee nämlich, den zuvor vollständig ausgeblendeten Vermittlungsprozess zwischen Subjekt und Objekt in seiner Einheit ideeller und materieller Momente wieder in den Blick zu nehmen. Selbst bei Vertretern der analytischen Philosophie wie Sellars und Goodman, die beginnen, die Idee der Historizität ernstzunehmen und sich von der dogmatischen Trennung von Genese und Geltung zu lösen, findet sich keine Spur davon.[8]Und das, wie man ergänzen muss, der Tatsache zum Trotz, dass einen auch beispielsweise die Literatur des amerikanischen Pragmatismus gleichsam mit der Nase darauf stößt. – Was nun andererseits den Methodischen Konstruktivismus der Erlanger Schule betrifft, lässt sich ähnlich feststellen, und die nennenswerten Vorzüge werden durch komplementäre Unzulänglichkeiten kompensiert: In der Tat stellt sich die Logische Propädeutik erst einmal ganz in die Tradition des „linguistic turn“ unter Beerbung dessen Logozentrismus.[9] Der protophysikalische Teil der Methodischen Philosophie folgt erst peu à peu, und wenn hier nun endlich der experimentellen Tätigkeit oder, wie man heute sagt, der „materiellen Kultur der Wissenschaften“ Aufmerksamkeit gezollt wird, ja diese sogar eine zentrale Rolle in der Erkenntnistheorie spielt, so wird es gleichwohl noch drei Jahrzehnte brauchen, bis die daraus resultierende Einsicht in den historischen Charakter wissenschaftlicher Erkenntnis sich auch Bahn bricht.[10] Tatsächlich haben die Vertreter dieser Schule, die in ihrem Forschungsprogramm die Trennung von Genese und Geltung schon lange faktisch überwunden und praktisch widerlegt hatten, jahrzehntelang (und teilweise bis heute) gerade diese Trennung immer wieder dogmatisch angeführt (dazu gleich mehr).

 

Aktualität der Ruben`schen Philosophie

Aber heute – so könnte man sich fragen, und so fragen wir nun in der Tat, um endlich auf die Frage nach der Aktualität von Peter Rubens Werk zu sprechen zu kommen –, aber heute bietet sich das Panorama erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Forschung doch ganz anders dar: die Methodische Philosophie hat sich zum Methodischen „Kulturalismus“ gemausert und erkennt nun an, dass Wissenschaft ein Moment des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses in seiner jeweiligen historischen Bestimmtheit ist; die Analytische Wissenschaftsphilosophie von einst musste weitgehend einer Historischen Epistemologie, einem New Experimentalism und soziologischen Science Studies weichen. Welche Verwendung also noch für die Ideen Peter Rubens?

Ganz so eindeutig ist die Lage dann doch nicht, und Peter Ruben macht es uns glücklicherweise leicht, seine Aktualität schnell wertzuschätzen. Ich spreche von der Tatsache, dass Peter Ruben zu keinem Zeitpunkt die Kontroverse scheute und auch vor Polemik nicht zurückschreckte. Um so leichter für den heutigen Leser, seine Texte auf ihre Aktualität zu prüfen, indem man schlicht die Namen von heute an die Stelle derer von einst setzt und schaut, ob die Polemik noch wirkt. Und das tut sie in der Tat. Ich werde in aller Kürze an drei Beispielen aufzeigen, wie Peter Rubens Ansatz auch die heutige Literatur durchaus noch herauszufordern weiß.

Erstes Beispiel: Die Vorstellung eines im Grunde passiven, rein rezeptiven Erkenntnisprozesses auch im heutigen Naturalismus, welcher den alten Materialismus in seinem Antisupranaturalismus ja beerbt. Dies war es ja, was Marx als „anschauenden Materialismus“ kritisierte. Ich zitiere nur ein Beispiel dafür, dass diese Vorstellung auch heute noch omnipräsent ist, und zwar das einflussreiche und weitverbreitete, erstmals 1994 veröffentlichte Werk Mind and World, Geist und Welt, des in den USA wirkenden John McDowell.[11] Seine Frage ist die folgende: Wie können wir eigentlich verstehen, dass die Empirie eine Art Tribunal darstellt, welches über unsere Hypothesen den Richtspruch fällt? Denn wenn sie tatsächlich zu uns spricht, so ist sie eigentlich keine „bloße“ Erfahrung mehr, sondern schon begrifflich verarbeitete; und umgekehrt kann sie in dem Maße, wie sie von uns unabhängiges bloßes Sosein ist, eigentlich nicht zu uns sprechen. Wie also können wir zwischen rationaler Rolle und kausaler Natur der Erfahrung (als Sinnesreize) vermitteln? Das Problem ist richtig benannt; McDowells Lösung zumindest überraschend, auf jeden Fall aber erfreulich offen und nimmt dem Kritiker schon viel Arbeit ab: Die Lösung des Rätsels liege in der Passivität der Erfahrung, die Passivität allein soll die nötige Vermittlungsarbeit leisten.[12] Wie wir uns dies vorzustellen haben, bleibt McDowells Geheimnis (ich analysiere dies an anderer Stelle ausführlicher). Es gäbe dazu freilich eine Alternative: Man könnte die korrekt festgestellte Aporie als Hinweis darauf deuten, dass der Rahmen eines baren, materiell unvermittelten Aufeinandertreffens von Subjekt und Objekt schon falsch angelegt ist und der Realität unserer Erkenntnisarbeit nicht gerecht wird. Aber McDowell weigert sich vehement, diese Richtung auch nur in Erwägung zu ziehen. Nein, er legt das Erkenntnissubjekt auf die Tätigkeiten des Suchens, Beobachtens und Zuschauens fest und disqualifiziert jede darüber hinausgehende Tätigkeit – ausgerechnet mit Marx! – als … Entfremdung. Es ist vielleicht den Hinweis wert, dass McDowell damit nicht nur kein Fortschritt in der Lösung des Erkenntnisproblems gelingt, nein, er fällt sogar hinter den state of the art zurück, hinter Sellars nämlich, den er kritisiert. Gerade bei Sellars wird aber sehr gut deutlich, wie Fortschritte im sprachlichen Ausdrucksvermögen mit den Handlungen des Subjekts zusammenhängen. Um beispielsweise schon die Ausdrucksmöglichkeit „sieht blau aus“ als entscheidenden Schritt über den Ausdruck „ist blau“ hinaus zu erwerben, ist aktive Handlungserfahrung in der Variierung der Lichtbedingungen nötig.[13]

Als zweites Beispiel gehe ich kurz auf Strömungen der heutigen Wissenschaftsforschung ein, die dem Historischen Materialismus eigentlich sehr nahe stehen und somit auch im Verdacht stehen können, die Ruben`sche Erkenntnistheorie abgelöst zu haben: Science Studies, Wissenssoziologie, Historische Epistemologie usw. Über den bisweilen dort herrschenden Soziozentrismus hatten wir schon eingangs zu sprechen Gelegenheit. (Als ein Sonderfall ist hier noch die einflussreiche „Social Epistemology“ zu nennen, welche heute für sich das Patent auf die soziale Dimension der Erkenntnis beansprucht; tatsächlich fällt sie aber weit hinter andere Ansätze zurück, weil sie den sozialen Aspekt allein in der kooperativen Wissensverarbeitung durch fix und fertig gegebene Akteure lokalisiert, aber unfähig ist sich vorzustellen, dass die Sozialität diesen Akteuren schon eingeschrieben sein könnte, wie dies vor einhundert Jahren den Wissenssoziologen schon selbstverständlich war.) Aber tatsächlich trifft man in diesen Schulen einen reicheren Begriff von der historischen Wirklichkeit der Wissenschaften, welcher ihre materielle Seite mitnichten ausschließt.

Ein Problem liegt hier freilich an anderer Stelle: Der Reiz dieser Ansätze liegt darin, dass man hier Epistemologie betreibt, indem man etwas anderes als sterile Epistemologie macht, zuförderst nämlich Kulturgeschichte. Die Brücke zurück vom historischen Faktum zur Geltungsfrage bleibt dabei immer wieder erneut zu schlagen. In der Literatur unterbleibt dies in der Regel. Dazu kommt noch, dass der Zusammenhang mit Marx, welcher an diese zu erbringende Leistung gemahnen würde, dort offenbar inzwischen aus ganz anderen Gründen als peinlich empfunden wird: Aus den Selbstbiographien wird der Zusammenhang mit marxschem Denken sorgsam getilgt und dementsprechend auch nicht tradiert. Spätestens in der dritten akademischen Generation besteht nicht einmal mehr ein Verdacht hinsichtlich des schlimmen Geburtsmakels. Die Gefahr, die vielleicht vielmehr ein schon heute zu beobachtendes Schicksal denn ein drohendes Risiko ist, liegt damit auf der Hand: Der Ansatz wird zusehends theorie- und begriffslos. Von Anfang an schon ist etwa die Historische Epistemologie als Theorie über die historische Entwicklungsdynamik eines an sich aber autonomen Wissens missverstanden, der epistemologische Zusammenhang also gar nicht wahrgenommen worden. Aber mehr noch: Es wird für die Träger dieses Ansatzes selbst schwierig zu sagen, warum man tut, was man tut. Noch hat es immerhin den Reiz des Originellen (auch wenn die marxistischen Ahnen diesen Ansatz nicht aus Originalitätsbedürfnis und stattdessen oft zu erheblichem persönlichen Preis vertraten). Dieser Reiz nutzt sich aber unweigerlich ab, und man wird schnell an den Punkt kommen, dass man diesen Ansatz, etwa bei leisestem Widerstand oder auch bloß drehendem Wind schnell und ohne Bedauern aufgibt. In Peter Rubens Arbeiten steht die epistemologische Relevanz hingegen in jeder einzelnen Zeile zur Debatte. Unmöglich, hier einen Schritt zu tun, ohne zu wissen, was man tut.

Das dritte Beispiel ist theoretisch vielleicht das interessanteste. Auch in der Methodischen Philosophie, so sagten wir, wird Historizität allmählich ernst genommen. Sehen wir aber nicht zu freimütig über die Differenzen hinweg. Wird in dieser Tradition der Praxis eine erkenntniskonstitutive Bedeutung eingeräumt und zudem Praxis auch in ihren materiellen und historischen Momenten anerkannt, so ist das Wechselspiel dieser Momente doch ein ganz anderes als bei Peter Ruben. Oder sagen wir besser: das Wechselspiel, auf welches Peter Ruben immer hinwies[14], wird hier nicht zugestanden. Mit Vehemenz insistierten gerade die Vertreter der Methodischen Philosophie auf der kategorischen Trennung von Genese und Geltung.[15] Das Argument ist, zugegeben, nicht ganz unplausibel: Wenn Praxis konstitutiv für Wissen und wissenschaftliches Erklären ist, dann sind die Normen, die diese Praxis regeln, selbst jedem Versuch der wissenschaftlichen Erklärung (sprich der „Naturalisierung“) enthoben. Normen sind konstitutiv für die „Natur“ als Inbegriff der Inhalte möglicher Erkenntnis, sie fallen also selbst nicht in diese Natur. Alle Tatsachenaussagen über diese Normen („Genese“), so die Konsequenz, kann also ihre Geltung nichts angehen. Wir können diese Konsequenz auch in andere Worte kleiden, in Worte, die mehr Misstrauen wecken: Praxis ist durch irreduzible, unerklärbare, jedoch geistig erfassbare Normen geleitete Tätigkeit. Man sieht sofort, dass die Methodische Philosophie einem idealistischen Praxisbegriff anhängt. Damit muss aber das letzte Wort noch nicht gesprochen sein. Denn was als apodiktische Begründung der Trennung von Genese und Geltung auftritt, könnte freilich auch schlicht Resultat einer einseitigen Betonung sein, welche sich aus dem Verlauf der Frontlinien der philosophischen Debatte ergab. Adressat der Kritik war nämlich der „Szientismus“, welcher die Erkenntnistheorie schlicht durch Naturwissenschaft ersetzen zu können glaubt, bzw. glaubt, die Naturwissenschaften würden ihre eigene Erkenntnistheorie gleich frei Haus mitliefern. Gegen diese Form von Naturalismus bestanden die Vertreter der Methodischen Philosophie vehement (und auch zurecht) darauf, dass es keine Tatsachen (durch welche jene alles erklären wollen, auch die Tatsachen selbst) ohne Normen gibt (nämlich die Normen der tatsachenproduzierenden Praxis).

Aber vielleicht haben sie darüber schlicht vergessen, die komplementäre Frage zu stellen, ob nämlich es denn umgekehrt Normen ohne Tatsachen gibt. Und dieser letztere Gedanke liegt für jeden auf der Hand, der sich an den Gedanken der Historizität gewöhnt hat: Die Technik entwickelt sich historisch; was es heißt, etwas „richtig“ zu machen, hängt mithin vom Entwicklungsstand ab. Normen sind Normen der Technik in ihrer jeweiligen historischen Bestimmtheit, und das heißt sie sind auf etwas Tatsächliches bezogen. Freilich: Tatsache ist nicht gleich Tatsache. Die Physik erklärt, wenn sie einst die letztgültige Theorie der Materie aufstellt, niemals, wieso Subsysteme des materiellen Universums die Wahrheit über sich selbst und ihre Welt herausfanden. Auf physikalische Tatsachen wird man die Geltung von Normen nicht zurückführen können. Neben der Erklärung durch mechanistische Kausalität steht aber noch die historische Erklärung. Und diese Option ist von den Vertretern der Methodischen Philosophie im großen und ganzen übersehen, von Peter Ruben jedoch von Anfang an als dynamisches Wechselspiel der ideellen und materiellen Momente im Erkenntnisprozess entwickelt worden. Der idealistischen Tätigkeitsauffassung als durch fix und fertig gegebene Normen geleitete stellt er die Auffassung gegenüber, wonach sich die Fähigkeit des Menschen zur Zwecksetzung erst am Werkzeuggebrauch entwickelt. Seit einigen Jahren wird übrigens ebendiese Frage nach dem Zusammenhang von Werkzeuggebrauch und kognitiver Entwicklung von der Kognitiven Archäologie erforscht.[16] 

Offene Fragen

Die Aktualität der Ruben`schen Philosophie ist damit wohl hinreichend deutlich geworden. Gleichwohl möchte ich noch ein Wort über offene Fragen verlieren, denn zur Aktualität gehört ja nicht nur Relevanz, sondern auch Offenheit gegenüber Weiterentwicklungen. Ich nenne als Abschluss zwei Fragen, die mir besonders interessant erscheinen.

Erstens: Was erklärt Peter Rubens genetische Theorie der Normen? Bereits in der Deutschen Ideologie finden wir hier eine Ambiguität, die sich von dort vererbt: Werden jeweilige Bewusstseinsformen erklärt (also wie einer denkt) oder Bewusstseinsinhalte (also was einer denkt) oder gar Bewusstsein überhaupt (also dass einer denkt)? George Herbert Mead, dessen Theorie, wie Georg Quaas gezeigt hat, mit der von Peter Ruben eine gewisse Verwandtschaft hat und sie um sozialpsychologische Aspekte ergänzt[17], ist hier als Behaviorist aufs Ganze gegangen und zielte auf das Bewusstsein überhaupt. Lev Vygotskij sah sich zur selben Zeit (sein Hauptwerk erschien wie das Meads 1934) zu mehr Bescheidenheit gezwungen und beschränkte sich darauf, die Modifikationen zu studieren, die das Denken seiner Form nach im Spracherwerb erfährt. Dieser Hinweis möge genügen, um zu zeigen, dass hier noch theoretische Arbeit zu leisten ist.

Zweitens: Was genau ist Praxis? Der Praxisbegriff der Feuerbachthesen, wo wir unseren Ausgangspunkt nahmen, zielt auf Gesellschaftsveränderung; der Praxisbegriff der Deutschen Ideologie und des Kapital hingegen auf Konstanterhaltung der Gesellschaft, nämlich gesellschaftliche Reproduktion. Peter Ruben knüpfte in seiner Erkenntnistheorie an die zweite Variante an und zeigt, dass und wie Wissenschaft als Moment des Gesamtprozesses der gesellschaftlichen Reproduktion zu verstehen ist. Selbst wenn man dem emphatischen Praxisbegriff des jungen Marx als bewusst umwälzende Tätigkeit mit Skepsis begegnet, so bleibt gleichwohl noch das Faktum sich schlichtweg vollziehender gesellschaftlicher Entwicklung bestehen, und auch wissenschaftliches Wissen kann eine Rolle darin spielen, also eine dynamische Komponente in die gesellschaftliche Reproduktion einbringen. Beide Aspekte des Praxisbegriffs, der stabilisierende wie der dynamische, wollen so zu ihrem Recht kommen, was die Frage aufwirft: Wie also ist der volle Praxisbegriff zu denken? Besondere Berücksichtigung beanspruchen dabei natürlich die Sozialwissenschaften, deren Anteil an der gesellschaftlichen Reproduktion oder auch gesellschaftlichen Entwicklung zu erörtern bleibt.[18]

Dies sind meines Erachtens noch unbeantwortete Fragen, welche aber die Aktualität des Ruben`schen Denkens, eben als eines solchen, welche diese Frage zu stellen erlaubt, noch unterstreichen.                    

 [1] Ernst Bloch beispielsweise fasste die Thesen 5, 1 und 3 ausdrücklich zu einer “erkenntnistheoretischen Gruppe“ zusammen, s. Das Prinzip Hoffnung, Gesamtausgabe Bd. 5, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1959, S. 294 ff.

 [2] Beispielsweise in “Spinoza und seine Lehre von den Gefühlen im Lichte der heutigen Psychoneurologie“ (1933), in: Lew Wygotski, Ausgewählte Schriften. Band 1, Volk und Wissen, 1985.

 [3] Siehe beispielsweise Barry Barnes, Scientific Knowledge and Sociological Theory. London: Routledge and Kegan Paul 1974, und David Bloor, Knowledge and Social Imagery. 2. Aufl. Chicago: Universtity Press 1991.

 [4] Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW), Bd. 23, Berlin 1968, S. 192.

 [5] Karl Mannheim, Ideologie und Utopie (1929), Klostermann, Frankfurt a.M. 1995, S. 246.

 [6] „Wissenschaft als allgemeine Arbeit. Über Grundfragen der marxistisch-leninistischen Wissenschaftsauffassung“, Sozialistische Politik 8(1976)2, S. 7–40.

 [7] „Problem und Begriff der Naturdialektik“, in: A. Griese u. H. Laitko, Hrsg, Weltanschauung und Methode. Berlin 1969, S. 51–88.

 [8] Wilfrid Sellars, Der Empirismus und die Philosophie des Geistes (engl. 1956). Mentis, Paderborn 1999 ; Nelson Goodman, Tatsache, Fiktion, Voraussage (engl. 1955). Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1975. Beide thematisieren den Vermittlungsprozess nur nach seiner sprachlichen Seite.

 [9] Wilhelm Kamlah, Paul Lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens. (1967). 3. Auflage, Metzler, Stuttgart 1995, Einleitung.

[10] Peter Janich, Hrsg., Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Auf dem Weg zum Kulturalismus, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1995.

[11] Deutsche Übersetzung: Geist und Welt. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 2001.

[12] A.a.O., S. 50 ff.

[13] Sellars, a.a.O., Abschnitt III.

[14] „Von der Wirklichkeit zur Abstraktion: Harmonices Mundi. Zum 400. Geburtstag Johannes Keplers“, Wissenschaft und Fortschritt 21, 1971, S. 535; „Arbeit – Telosrealisation oder Selbsterzeugung der menschlichen Gattung?“, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 27(1979)1, S. 23.

[15] Zuletzt: Matthias Wille, Transzendentaler Antirealismus, de Gruyter, Berlin 2011, S. 47.

[16] Siehe beispielsweise: Sophie A. de Beaune, „L'émergence des capacités cognitives chez l'homme“, in: R. Treuil, Hrsg., L'archéologie cognitive. Editions de la Maison des sciences de l'homme, Paris 2011, S. 33–90.

[17] Georg Quaas, „Beiträge zu einer Erkenntnistheorie der Praxis: G. H. Mead und Peter Ruben“, in: Horst Müller (Hrsg.): Das Praxis-Konzept im Zentrum gesellschaftskritischer Wissenschaft. Norderstedt 2005. S. 109–137.

[18] Ein auf Reformpraxis als soziale Technik bezogenes Verständnis der Sozialwissenschaften findet sich im Austromarxismus. Vgl. dazu Lucien Goldmann, „Gibt es eine marxistische Soziologie?“, in: Ders., Dialektische Untersuchungen, Luchterhand, Neuwied 1966.

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