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Heft 190: So werden Kriege gemacht

Schicksalsjahr 1939 – Weg in den Zweiten Weltkrieg

Von: Karl-Heinz Gräfe

Heft 190: So werden Kriege gemacht

Reihe "Pankower Vorträge", Heft 190, 2014, 60 S.

Der vorliegende Text ist die erweiterte Fassung des Vortrags von Prof. Dr. habil. Karl-Heinz Gräfe (Historiker, Freital) in der Diskussionsveranstaltung der „Hellen Panke“ e.V. zum Thema „Schicksalsjahr 1939“

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INHALT

Teil I: Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit 1914–1945

1. Historische Erfahrungen und aktuelle Entwicklungen

2. Treibende Kräfte und Profiteure des Zweiten Weltkrieges

3. Innere Zusammenhäng der beiden Weltkriege

Teil II: Wie und warum kam es zum Zweiten Weltkrieg?

1. Aktuelle Erklärungen zu den Ursachen des Krieges

2. Warum konnte Nazideutschland ungehindert aufrüsten?

3. Konsequenz der Aufrüstung – kriegerische Abenteuer?

4. Der "Fall Österreich" ("Sonderfall Otto") – Vereinigung

oder Annexion?

5. Der Fall "Grün" und die Annexion des Sudetengebietes

Oktober 1938

6. Eine neue Dimension faschistischer Kriegspolitik – März 1939

7. Der "Fall Weiß" und die Vernichtung Polens

8. Warum 1939 keine Antihitlerkoalition zustande kam.

Die erfolglosen britisch-französisch-sowjetischen Verhandlungen

(15. April–21. August 1939)

9. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939

10. Die Befriedungspolitik gegenüber den faschistischen

Aggressoren zwischen September 1939 und Mai 1940

Kein Fazit

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LESEPROBE

Teil I: Erster Weltkrieg und Zwischenkriegszeit 1914–1945

1. Historische Erfahrungen und aktuelle Entwicklungen

Ähnlich wie in der Debatte zum Ersten Weltkrieg werden auch im öffentlichen Erinnern an den Ausbruch des Zweiten Krieges vor 75 Jahren die sozialökonomischen Wurzeln ausgeblendet: Ursachen und Triebkräfte beider Weltkatastrophen mit 76 Millionen Toten liegen wesentlich im imperialistisch strukturierten Kapitalismus – seines Kampfes um Rohstoffe, Märkte, Territorien, Akkumulationsfelder und Einflusszonen. Bereits im Vorfeld des Erinnerungsjubiläums bestimmte das Flaggschiff der rechtskonservativen Propaganda die Richtung der ideologischen Deutung und politischen Stoßrichtung. Im Leitartikel in der Welt über den am 23. August 1939 unterzeichneten deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt verglich Richard Herzinger das präsidiale System Russlands, an dessen Spitze Wladimir Putin 2012 erneut gewählt wurde, mit dem diktatorischen Herrschaftssystem Josef Stalins und stellte gleichfalls eine – allerdings sachlich ebenso unhaltbare – "Analogie" zur Außenpolitik des heutigen Russland mit der einstigen UdSSR her: "Putins Schulterschluss mit den Diktaturen dieser Welt hat Tradition: Das sowjetische Bündnis mit Nazideutschland im Jahre 1939 beweist, dass der antifaschistische Mythos eine Lüge ist." Wie Stalin mit dem Hitlerregime Deutschlands so arbeite heute Putin mit dem "mörderischen Assad-Regime" und dem Iran zusammen. Herzinger unterstellt, dass sich " Russland im Verbund mit China, weltpolitisch als führende Destruktivkraft im Kampf gegen die Ausbreitung von Demokratie und Menschenrechten etablieren will und damit eine 'moderne' Autokratie als Gegenmodell zur westlichen demokratischen Zivilisation anzubieten versucht."

Putins Abwehrpolitik gegen die expansive EU- und NATO-Osterweiterung und das noch immer unverminderte Weltherrschaftsstreben der USA, unterstützt von agierenden NGO und "bunten Revolutionskolonnen" in den ehemaligen Sowjetrepubliken der UdSSR, bezeichnet der Schreiber als "nationalistische russische Großmachtträume", verbunden "mit einer "ideologisch-missionarischen Botschaft". In dieser "reaktionären Offensive" werde vor allen die "Legende vom 'glorreichen' sowjetischen Antifaschismus" restauriert, nämlich "die Menschheit habe die Rettung vor der nationalsozialistischen Barbarei ausschließlich oder in erster Linie der Sowjetunion zu verdanken". Und Israels Präsident Schimon Peres habe sogar diesen "neuesten Tendenzen zur Relativierung oder Leugnung des Holocaust"(!) anlässlich der Einweihung eines Mahnmals zum Gedenken an den sowjetischen Sieg 1945 in Netanja gegenüber Putin zugestimmt: "Ich bin mir sicher, dass Russland, das den Faschismus geschlagen, hat, ähnliche Bedrohungen heute nicht zulassen wird."(1)

Herzinger behauptet, der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 habe den Weg für den faschistischen Überfall Nazideutschlands auf Polen erst freigemacht und den "Vernichtungskrieg Hitlers anfangs nicht nur zugelassen, sondern ihn sogar gefördert". Da dieser Vertrag eine "zentrale Schnittstelle dieser totalitären Interaktion" sei, müsse dieser Tag im Interesse einer "gesamteuropäischen Erinnerungskultur" zum europaweiten Gedenktag ausgerufen werden. Eine solche Aktion wappne die Europäer "zudem besser gegen Putins Versuche, sich qua Restauration des Bildes von der menschenfreundlichen Sowjetmacht die Legitimation für seine Pläne zur globalen Ausweitung des Einflusses Russlands und seines autoritären Staatsmodells zu verschaffen".[2]

Ursachen und Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lassen sich nicht auf den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 und sein Geheimabkommen reduzieren oder gar auf die Diktatoren Hitler und Stalin. Allerdings ebenso wenig auf die Appeasement-Politik Frankreichs und Großbritanniens in den 1930er Jahren. Das würde die eigentlichen Aggressoren, Nazideutschland und seine Verbündeten, genauso entlasten wie der Versuch, den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges allein mit der Unzulänglichkeit der Versailler Friedensordnung 1919 zu erklären. Das Versailler Vertragswerk, dem die Völkerbundsatzung vorangestellt war, und auch nachgeordnete Völkerrechtsakte wie die Verträge von Locarno (1925) und Paris (1928) wurden von den herrschenden Kräften des besiegten Deutschland schon in der Weimarer Republik als "verbrecherischer Diktatfrieden" denunziert und unterlaufen.

Erst Nazideutschland brach seit 1933 mit oder ohne Waffengang das damals bestehende Völkerrecht und beging Aggressionsakte durch Revision bestehender Staatsgrenzen. Der Internationale Gerichtshof in Nürnberg 1945/1946 ging bei seiner Urteilsfindung über die deutschen Hauptkriegsverbrecher von diesen völkerrechtlichen Grundlagen aus: Auch wenn verschiedene Bestimmungen des Versailler Vertrags zum Teil vielleicht mit Recht kritisiert wurden, wurden sie in Deutschland jedoch "in hohem Maße zu kriegerischer Propaganda verwendet". So sehr man sie auch für ungerecht hielt – "auf keinen Fall konnten sie zum Zweck ihrer Abänderung einen Krieg rechtfertigen. Nicht allein, dass der Versailler Vertrag alle diejenigen schwierigen Gebietsfragen durch Vereinbarung regelte, die durch den Krieg selbst offengelassen worden waren, er begründete auch den Völkerbund, der, wenn er loyal unterstützt worden wäre, imstande gewesen wäre, alle jene internationalen Streitigkeiten zu lösen, die andernfalls hätten zum Krieg führen können und schließlich auch tatsächlich zum Krieg geführt haben."[3] Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher bildet noch heute für die Geschichtsschreiber eine "Quelle der Wahrheit", er dokumentiert die Ursachen und treibenden Kräfte, die zum Krieg führten. Mehr noch. Das Nürnberger Tribunal sollte auch "künftigen Politikern als Warnung dienen."[4]

2. Treibende Kräfte und Profiteure des Zweiten Weltkrieges

Es bedarf wahrheitsgetreuer Analyse und umfassender Aufklärung jener Vorgänge und der gesellschaftlichen Triebkräfte, die den mörderischen Weltbrand 1939–1945 verursachten und zu verantworten haben. Auch 75 Jahre danach wird in der deutschen Öffentlichkeit – ungeachtet längst von Historikern erforschter Tatbestände – der Anschein erweckt, als ob lediglich ein Dutzend Hauptkriegsverbrecher oder gar Adolf Hitler allein für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich seien. Dieses Erklärungsmuster (Hitlerismus) ist längst nicht überlebt.[5] Ausgeblendet wird vor allem, dass es nicht allein Hitler war, auch nicht nur seine Militärs, Politiker, Ideologen, Wissenschaftler, Juristen, Journalisten, Diplomaten, sondern vor allem die eigentlich Mächtigen Nazideutschlands, die Eigner der Konzerne, Banken und des Großgrundbesitzes, Verursacher der bisher größten Menschheitskatastrophe waren. Das Industrie- und Finanzkapital war kein unselbständiger, sondern ein besonders aktiver Teil des deutschen Faschismus. Die großen Kapitaleigner waren es, die vor allem seit 1933 zu diesem Eroberungskrieg drängten und eine industrielle Kriegsmaschinerie im Rahmen der Aufrüstungspolitik erst schufen, mit der das deutsche Naziregime den europäischen Kontinent militärisch erobern, politisch beherrschen und ökonomisch ausplündern konnte. Die führenden Repräsentanten der Großindustrie und das Finanzkapital Deutschlands waren nicht nur die Förderer der Kriegspolitik des Naziregimes, sie waren auch die eigentlichen Profiteure des Zweiten Weltkrieges.[6]

Insofern ist die Faschismus-Definition von Georgi Dimitrow für das Herrschaftssystem des deutschen Faschismus 1933–1945 noch immer zutreffend, auch wenn es Mode geworden ist, diese als Legende abzutun. Der deutsche Historiker Rolf-Dieter Müller behauptet, "die kommunistische Faschismus-Interpretation, wonach Kriegführung und Strategie von den Interessen des deutschen Großkapitals geleitet worden wären", sei widerlegt: "Natürlich profitierten die Industriellen vom militärischem Erfolg, der Handel folgte wie immer der Flagge, er ging in diesem Falle aber nicht voran und gab auch nicht die Richtung vor – im Gegenteil." Müller blendet aus, dass das Industrie- und Finanzkapital 1933 das Naziregime an die Hebel der Staatsmacht hievte. Mit und nach jedem faschistischen Aggressionsakt der Wehrmacht seit 1938 rückten die Interessengruppen des deutschen Industrie- und Finanzkapitals mit ihren Helfershelfern nach, um die Beute zu sichern. Dass erst nach oder mit den deutschen Tanks die Dresdner und Deutsche Bank folgten, ist doch nur die logische Reihenfolge, die sich aus der tatsächlichen Machtstruktur und der Arbeitsteilung von Politik, Militär und Wirtschaft des faschistischen Herrschaftssystems ergab. Müller fällt weit hinter den Forschungsstand und damit zur Apologie "Hitler war's" zurück, wenn er meint: "Unser Verständnis zum Nazi-System stellt zu Recht die Rolle Hitlers wieder stärker in den Mittelpunkt."[7] Sicherlich unterscheidet sich die Funktionsweise der kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse mit einem offen diktatorischen Regime oder im Rahmen einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie. Wobei es allerdings auch simpel wäre, die Herrschaftsverhältnisse ökonomischer und politischer Funktionseliten zu scharf zu trennen oder gar nur auf die eines Puppenspielers und seiner Marionetten zu reduzieren. Die innere Verwobenheit der politischen und ökonomischen Kräfte in Deutschland 1933–1945 schloss nicht aus, dass vielfältige Widersprüche bei der Durchsetzung der Kriegsziele auftraten. Für den Zweiten Weltkrieg 1939 tragen die politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten Deutschlands die Hauptverantwortung.

Die Vor- und Ursachengeschichte des Zweiten Weltkrieges reicht jedoch weiter zurück und ist untrennbar verbunden mit den Ereignissen des Ersten Weltkrieges 1914–1918, mit der durch das Versailler Vertragssystem geprägten Zwischenkriegszeit und mit dem Aufkommen der faschistischen Bewegungen und Diktaturen. Das faschistische Deutschland und seine Verbündeten im Antikomintern-Pakt (Italien, Japan, Ungarn, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Kroatien und Finnland) setzten sowohl auf einen nationalistischen Revanchekrieg als auch auf einen antikommunistischen Feldzug gegen den aus dem Ersten Weltkrieg hervorgegangenen sowjetischen Staatssozialismus.

3. Innere Zusammenhänge der beiden Weltkriege

Der Zweite Weltkrieg 1939–1945 ist bezüglich der Ursachen und Triebkräfte auch immer im Zusammenhang mit dem "Großen Krieg" von 1914–1918 zu sehen, der als sog. "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan) in die Geschichte eingegangen ist. Dieses Schlagwort verschleiert allerdings die inneren Zusammenhänge zwischen Krieg und kapitalistischer Gesellschaftsformation im gesamten 20. Jahrhundert. Letztere ist die eigentliche "Urkatastrophe", die die beiden Weltkriege hervorbrachte. Es waren damals vor allem die kapitalistischen Großmächte der Welt mit ihren Kolonien und Einflussgebieten, mit ihren ökonomischen Gewichten, gewaltigen Rüstungspotentialen und ihrem nationalistisch-chauvinistischen Masseneinfluss, die den ersten, bis dahin mörderischsten und globalen Krieg in der Weltgeschichte austrugen: Das Deutsche Kaiserreich, die Habsburger Doppelmonarchie Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich sowie Großbritannien, Frankreich, Russland, die USA, Japan, Italien u.a.[8] Die Massenarmeen von insgesamt 25 Ländern aller Kontinente (einschließlich der britischen Dominien Australien, Neuseeland, Kanada, Südafrikanische Union) in den beiden Kriegsblöcken Mittelmächte (25,8 Millionen) und Entente (46,6 Millionen) organisierten dieses erste Weltmorden des 20. Jahrhunderts: über 15 Millionen Menschen – 8.846.000 Soldaten und 5.950.000 Zivilisten – kamen ums Leben, Natur- und Lebensräume in allen Teilen der Welt wurden zerstört.[9]

In den meisten bürgerlichen Massenmedien wird noch immer die kapitalistische Systembedingtheit dieses weltweiten Völkermords verdeckt oder verschwiegen.[10] Nach dem Verschwinden des Realsozialismus und der Krise des Marxismus wird der Anschein erweckt als seien die Völker und ihre Regierungen zufällig wie "Schlafwandler" (Christopher Clark 2013) im Sommer 1914 in diese Katastrophe "hineingeschlittert" (Lloyd George schon 1933).[11] Die Ursachen des Krieges lagen im weltweit durchgesetzten kapitalistischen Gesellschaftssystem selbst, in der Gier nach Profit und Welteinfluss der herrschenden ökonomischen und politischen Eliten dieser Staaten, im Bestreben, rücksichtslos andere Völker und Territorien sowie Ressourcen zu beherrschen oder ihre schon seit längeren eroberten Einflusssphären und kolonialen Besitzstände vor allem durch den Zugriff Deutschlands zu bewahren. Die europäischen Großmächte hatten die bewohnte Erde weitgehend unter sich in Gestalt von Kolonien aufgeteilt und fast überall ihre Einflusssphären abgesteckt.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist darauf zurückzuführen, dass die weltweit herrschende kapitalistische Gesellschaftsformation infolge von Konzentration und Zentralisation der Produktion und des Finanzkapitals im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine qualitativ neue Stufe erreicht, den Monopolkapitalismus. Ihm ist vor allem eine besonders aggressive Expansionspolitik eigen, die bis hin zum Weltherrschaftsstreben einzelner kapitalistischer Staaten führen kann. Eine Reihe Kapitalismus-Theoretiker wie John A. Hobson (Der Imperialismus, 1902), Rudolf Hilferding (Das Finanzkapital, 1910), Rosa Luxemburg (Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus, 1913), Karl Kautsky (Der Imperialismus, 1914), Nikolei Ivanovic Bucharin (Imperialismus und Weltwirtschaft, 1915), Vladimir Il'ič Lenin (Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, 1916) erkannten diese Entwicklungstendenz des Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus und die damit verbundene neue Stufe kapitalistischer Expansion und kennzeichneten diese als Imperialismus.[12]

Vor allem die Konzentration und Zentralisation der Produktion und des Finanzkapitals führte zu dieser qualitativ neuen Stufe in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformation, dem Monopolkapitalismus. Dieser Imperialismus war nicht – wie einige Theoretiker annahmen – die letzte und absterbende Entwicklungsstufe des Kapitalismus. Entscheidend war, dass dieser neue ökonomische Kern des Kapitalismus zu einer besonders aggressiven Expansionspolitik führte. Die Veränderungen kennzeichnete Lenin als das imperialistische Stadium des Kapitalismus. Monopolkapitalismus und Imperialismus sind jedoch keine Synonyme, denn nicht jeder monopolistische Kapitalismus erzeugt einen expansiven Imperialismus.

Der Erste Weltkrieg wurde möglich, weil es vor hundert Jahren keine massenhaft organisierten Antikriegskräfte gegen diese imperialistische Politik in den kriegsführenden Hauptmächten wie Deutschland, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich und Russland gab. Es war den herrschenden politischen und ökonomischen Kräften im Übergang zum Monopolkapitalismus gelungen, große Teile der Arbeiterklasse und der bäuerlichen wie städtischen Mittelschichten fest in das kapitalistische System zu integrieren, nicht nur durch soziale Besserstellung, sondern auch durch kollektive nationalistisch-chauvinistische Ausrichtung. Große Teile der Bevölkerung wurden von den Führern konservativer, nationalistisch-völkischer, nationalliberaler und letztlich auch sozialdemokratischer Parteien für die "nationale Vaterlandsverteidigung" mobilisiert. Die Zusammenarbeit der Führer der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften mit dem feudal-kapitalistischen Obrigkeitsstaat samt seiner militaristischen Führung ermöglichte in Deutschland den "Burgfrieden" und die "Sozialpartnerschaft an der Heimatfront". Diese Tatsache war nicht schlechthin auf den Verrat der Führer der Arbeiterpartei und Gewerkschaften zurückzuführen; sie war nur Ausdruck dessen, dass es den militaristischen und nationalistischen Kräften seit der "Reichseinigung" 1871 gelungen war, auch beträchtlichen Teilen der Arbeiter die Ansicht einzupflanzen, dass sie sich am Kampf um den "Platz an der Sonne" beteiligen müssten und davon partizipierten. Dieser Zustand ermöglichte überhaupt erst, dass das Deutsche Kaiserreich den Aggressionskrieg beginnen konnte und die deutsche Kriegsmaschinerie auch funktionsfähig war.

Zu den Einseitigkeiten heutiger öffentlicher Erinnerung an den "Großen Krieg" 1914–1918 zählt zugleich auch das Verschweigen der Rolle der Arbeiterbewegung und der Linken als Gegenpol zu den Treibern und Handlangern des Krieges. Die Führung der II. Internationale gebot den Krieg zu verhindern oder rasch zu beenden. Doch warum brachen die Massenaktionen gegen den heraufziehenden Weltkrieg am 1. August 1914 ab? Der abrupte Übergang zu Kriegsbewilligung, "Burgfrieden" und "Vaterlandsverteidigung" waren für die linke Sozialdemokratin und Sozialistin Rosa Luxemburg die "Kapitulation der internationalen Sozialdemokratie" und eine "weltgeschichtliche Katastrophe".[13] Diese Kapitulation ist jedoch mit der "klassischen Verratsthese" nicht erklärbar. Vielmehr war es eine logische Konsequenz aus der Entwicklung einer Partei weg von ihren revolutionären Wurzeln und Ideen hin zu einer Suche nach Klassenausgleich und Kooperation mit der bestehenden Ordnung. Wer staatstragend werden wollte, musste sich dem bestehenden System anpassen. Wer dort "ankam", wurde akzeptiert, belohnt und ehe er sich umsah zum Systemträger. Das von Lenin beschriebene reale Phänomen der Arbeiteraristokratie als soziale Basis für die Abkehr der Sozialdemokratie von ihren revolutionären Zielen gilt aber ebenso als Erklärung. Das Geflecht, was Arbeiter und Funktionäre der proletarischen Bewegung verband, war und ist jedoch viel komplexer. Mit den kriegsbereiten Mehrheitssozialisten brachen nicht nur Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, sondern auch oft von der Linken Gescholtene wie Karl Kautsky, Eduard Bernstein oder Hugo Haase. Die SPD wurde zum wohlwollenden Partner einer reaktionären Macht, die zur Militärdiktatur und zur totalen Kriegsverfassung überging. Die Angepassten und "Angekommenen" wurden nicht mehr von der politischen Polizei observiert, wenn auch Verhaftungslisten vorsorglich zusammengestellt wurden. Aber günstiger war, die in der Bevölkerung stark verankerte Sozialdemokratie auf ihre Seite zu ziehen, sie einzubinden.[14]

Hinzu kam die fatale politische Stoßrichtung: Der Krieg mit Russland sei gerechtfertigt und fortschrittlich und führe zum Sturz des reaktionären autoritären Zarenregimes und seines Kolonialreiches. In seiner jüngsten Publikation nennt Stefan Bollinger den entscheidenden Ansatz und Anknüpfungspunkt: Der einflussreich Parteiführer August Bebel hatte ein Jahrzehnt zuvor in der berühmten "Flintenrede" seinen Patriotismus und seine Wehrbereitschaft kämpferisch kundgetan.[15] "Hier also" – so Bollinger – "waren Sozialdemokraten am Portepee zu fassen – an ihrer Bereitschaft zur Verteidigung ihrer Heimat als gute Patrioten und in ihrem Hass auf den russischen Despotismus."[16] Daher die überstürzte Hast von Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg zunächst Russland am 1. August 1914 den Krieg zu erklären. In einem von "Russland aufgedrängten Krieg" war es leichter möglich, die Mehrheit der sozialdemokratischen Abgeordneten schon drei Tage später für die Zustimmung zu den Kriegskrediten zu gewinnen.[17]

Bedenkenswert sind auch die Überlegungen Bollingers, wie weit schon der staatstragende Flügel der SPD vom damaligen Nationalismus und Rassismus infiziert war. Dieser "nationale Kriegssozialismus" konnte zugleich Nahtstelle nach ganz rechts werden. Der italienische Sozialist Benito Mussolini war nur der spektakulärste Fall.[18]

Erst der Verlauf des mörderischen Krieges brachte Desillusionierung und Anwachsen der Antikriegsbewegung vor allem durch das linke Lager in der Sozialdemokratie; allerdings fast nur in Russland, Österreich-Ungarn und Deutschland, wo es zu Revolutionen kam, die das kapitalistische System in Frage stellten. Das aber hatte zur Folge, dass die Arbeiterbewegung nicht nur dauerhaft gespalten wurde, sondern zugleich auch in zwei nicht nur rivalisierende, sondern bald auch feindlich zueinander stehende Parteien gespalten wurde – Sozialdemokraten und Kommunisten. Das gab vor allem dem deutschen Faschismus die Chance, die Macht zu errichten und einen noch schrecklicheren Weltkrieg von deutschem Boden aus zu beginnen.[19] Es entstand allerdings außer in Russland keine relativ dauerhafte gesellschaftliche Alternative zum Kapitalismus.

Insofern war der Imperialismus längst nicht der Vorabend einer gesamteuropäischen oder gar einer weltweiten sozialistischen Revolution (Weltrevolution), er war auch nicht das letzte, absterbende Stadium des Kapitalismus wie Lenin prophezeite. Das Dilemma bestand darin, dass die führende kommunistische Partei, die russischen Bolschewiki, nur noch die Möglichkeit sah, den Krieg mit einem Bürgerkrieg gegen das kriegsführende volksfeindliche Zarenregime zu beenden, was zunächst zu einem vorläufigen Kriegsende, einem kurzen Waffenstillstand und zeitweiligen Separatfrieden Sowjetrusslands mit dem Deutschen Kaiserreich, Österreich-Ungarn und der Türkei führte. Der Weltkrieg ging jedoch weiter, auch Deutschland setzte seine Raub- und Kriegspolitik gegen Sowjetrussland weiter fort und die Großmächte der Entente, unterstützt von der inneren Konterrevolution, führten zudem auch noch gegen das sozialistische Sowjetrussland einen global angelegten Interventionskrieg. Jener Bürger- und Interventionskrieg 1918–1920 auf dem Gebiet des ehemaligen Russland brachte dem neuen Sowjetrussland weitaus größere menschliche und materielle Verluste (sieben Millionen Todesopfer, davon 80 Prozent Zivilisten sowie nachfolgende fünf Millionen Hungertode 1921/1922) als die vorangegangenen drei Jahre Teilnahme am Ersten Weltkrieg zwischen 1914–1917 (2 Millionen Todesopfer, davon 600.000 Zivilisten).

Nicht nur die herrschenden Bolschewiki, sondern auch die Parteien der Kommunistischen Internationale sahen zunächst in revolutionären Kriegen die einzige Chance für die Durchsetzung der sozialistischen Revolution im globalen Maßstab (Weltrevolution). Erst die ausbleibende europäische oder gar weltweite Revolution offenbarte die Utopie des Konzepts von der kommunistischen Weltrevolution und förderte die Erkenntnis vom möglichen Sieg des Sozialismus in nur einem Land, also der UdSSR.[20] Aber auch dieses Projekt – mit seinen zeitweiligen theoretischen und praktischen Rückgriffen auf die Weltrevolutions-Utopie blieb erfolglos. Unter der gewachsenen Stärke und Sogwirkung der kapitalistischen Mächte der USA und Europas zerbrach der sowjetische Staatssozialismus und wandelte sich in einen Oligarchen-Kapitalismus.

Es waren die europäischen Großmächte mit ihren kolonialen Gebieten, Einflusssphären, ökonomischen und militärischen Kräften, die mit ihrer imperialistischen Politik den ersten weltweiten Massenvernichtungskrieg 1914–1918 hervorbrachten. Das bei der Aufteilung der Erde zu kurz gekommenen Deutsche Kaiserreich war der Hauptverursacher der militärischen Konfrontation und drängte vor allem im internationalen Konkurrenzkampf der kapitalistisch-imperialistischen Großmächte auf eine gewaltsame, kriegerische Neuverteilung der Territorien und Ressourcen der Erde. Die herrschenden politischen, militärischen und ökonomischen Eliten des erst 1871 neu auf die Weltbühne getretenen Deutschen Kaiserreiches waren bis 1914 zu einer starken Hegemonialmacht auf dem europäischen Kontinent und zu einem führenden Exportland aufgestiegen. Deutschland war auf eine Neuaufteilung der Welt aus und erstrebte die Weltmacht. Das entlastet jedoch nicht die Mitschuld anderer Großmächte wie Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, Russland, Großbritannien und Frankreich an diesem kapitalistisch-imperialistischen Weltkrieg.[21]

[1] Richard Herzinger: Die Lüge vom russischen Antifaschismus. In: Die Welt. Berlin, vom 23. August 2012.

[2] Ebenda.

[3] Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Gerichtshof Nürnberg 14. November 1945–1. Oktober 1946. Nürnberg 1947. Veröffentlicht in Nürnberg Deutschland 1947 (genehmigte Sonderauflage für Komet MA-Service und Verlagsgesellschaft mbH Frechen) (im Weiteren: Prozess). Bd. 3, S. 111.

[4] Ebenda, S. 107.

[5] Vgl. Johannes Heer: "Hitler war's". Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin 2008.

[6] Zum Zusammenwirken der Funktionseliten im faschistischen Deutschland vgl. Franz L. Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944 (1942/1944). Hrsg. v. Gerd Schäfer. Köln 1977.

[7] Rolf-Dieter Müller: Hitlers Entscheidung über die weitere Kriegführung nach dem Frankreichfeldzug. In: Die Tragödie Europas: Von der Krise des Jahres 1939 bis zum Angriff auf die UdSSR. Hrsg. im Auftrag der Gemeinsamen Kommission von Horst Müller und Aleksander Čubarjan. München 2013, S. 169.

[8] Vgl. dazu V. I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. In: Ders.: Werke. Bd. 22. Berlin 1977, S. 262; Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn 2003, S. 664 f.

[9] Vgl. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz: Enzyklopädie Erster Weltkrieg. A.a.O., S. 664 f. Im Rahmen der beiden Kriegsblöcke waren die folgenden Staaten am Krieg beteiligt (Kriegseintritte): 28. Juli 1914 Österreich-Ungarn und Serbien, 1. August 1914 Deutsches Reich und Russland, 3. August 1914 Belgien, Luxemburg, Frankreich und Großbritannien, 7. August 1914 Montenegro, 23. August 1914 Japan, 15. Oktober 1914 Bulgarien, 29. Oktober Osmanisches Reich, 23. Mai 1915 Italien, 9. März 1916 Portugal, 27. August 1916 Rumänien. Nach dem Kriegseintritt der USA (6. April 1917) folgten noch China, Thailand, Liberia, Brasilien und Costa Rica. Am Krieg nahmen auch die britische Kronkolonie Indien und die Siedlerkolonien des Britischen Empire, die Dominien Kanada, Neuseeland, Australien und Südafrikanische Union teil. Vgl. ebenda, S. 571 ff. und S. 876 ff.

[10) Von den über 150 Büchern, die anlässlich des Jahrhundertjubiläums des "Großen Kriegs" erschienen, bleibt nur eine Handvoll, die darüber aufklären, wer die treibenden Kräfte des Krieges waren, wer von den kapitalistischen Staaten der damaligen Welt die Hauptverantwortung getragen hat. Vgl. u.a. vor allem Stefan Bollinger: Weltbrand, "Urkatstrophe" und linke Scheidewege. Fragen an den "Großen Krieg". Berlin 2014; Kurt Pätzold: 1914. Das Ereignis und sein Nachleben. Berlin 2014; Bruno Cabanes/Anne Demenil (Hrsg.): Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe. Darmstadt 2013; Luciano Canfora: August 1914. Oder: Macht man Kriege wegen eines Attentats? Köln 2013.

[11] Vgl. zur aktuellen Debatte Jost Dülffer: Die geplante Erinnerung. Der Historikerboom um den Ersten Weltkrieg. In: Sapper, Manfred; Weichsel, Volker (Hrsg.): Totentanz. Der Erste Weltkrieg im Osten Europas. Berlin 2014 (= Osteuropa. Berlin. H. 2–4/2014), S. 351 ff.

[12] Vgl. Stefan Bollinger (Hrsg.): Imperialismustheorien. Historische Grundlagen für eine aktuelle Kritik. Wien 2004.

[13] Rosa Luxemburg (Junius): Die Krise der Sozialdemokratie 1914–1918. In: Dies. Gesammelte Werke. Bd. 4. Berlin 1982, S. 53.

[14] Vgl. hierzu vor allem Stefan Bollinger: Weltbrand. "Urkatastrophe" und linke Scheidewege. A.a.O, S. 147 ff.

[15] Zehn Jahre vor Kriegsausbruch erklärte Bebel im Reichstag: "Sie können künftig keinen siegreichen Krieg ohne uns schlagen. Wenn Sie siegen, siegen Sie mit uns und nicht gegen uns … Wir leben und kämpfen auf diesem Boden, um dieses unsere Vaterland so zu gestalten, dass es eine Freude ist, in demselben zu leben, auch für den letzten unter uns." – Verhandlungen des Deutschen Reichstages. 11. Legislaturperiode. 51. Sitzung am 7. März 1904, S. 1588.

[16] Stefan Bollinger: Weltbrand. "Urkatastrophe" und linke Scheidewege. A.a.O., S. 143.

[17] So fand Hugo Haase große Zustimmung, als er im Reichstag u.a. erklärte: "Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russischen Despotismus … viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt diese Gefahr abzuwehren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen … Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: Wir lassen in der Stunde der Gefahr nicht das eigene Vaterland im Stich. (Lebhaftes Bravo) Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbstständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat (sehr richtig bei den Sozialdemokraten), wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen." (zitiert nach ebd., S. 148).

[18] Vgl. ebenda, S. 170 ff.

[19] Vgl. Arno Klönne: Der ärmste Sohn der getreueste. Der "Burgfrieden" von Sozialdemokraten und Gewerkschaften 1914. In: Neues Deutschland. Berlin, vom 22./23. März 2014, S. 25.

[20] Vgl. Karl-Heinz Gräfe: Was in Russland geschah und im Westen ausblieb. In: Geschichte des Kommunismus und Linkssozialismus, Bd. 6: In: "Die Wache ist müde". Neue Sichten auf die russische Revolution von 1917 und ihre Wirkungen. Hrsg. von Wladislaw Hedeler/Klaus Kinner, Berlin 2008, S. 113–134.

[21] In der sowjetischen Historiografie gab es unterschiedliche Beurteilungen über die Kriegsschuld. Im Zusammenhang mit der Offenlegung der russischen Kriegspläne gab der Historiker Michail Pokrovskij (1868–1932) Russland die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Einer seiner Schüler Nikolaj Poletika (1896–1988) behauptete, Österreich habe zwar den Krieg gewollt, aber Russland habe mit seiner Generalmobilmachung faktisch den Krieg provoziert. Letztlich setzte sich jedoch die Position von Evgenij Tarlé (1927 – Europa im Zeitalter des Imperialismus 1871–1919), Arkadi Erusalamski und Vladimir Chvostov über die Hauptverantwortung Deutschlands durch.

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