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Heft 23: Musenhof - Markt - Moderne

Durchblicke durch die ästhetische Kultur des Industriekapitalismus -- Vorträge September 2010 und Juli 2011

Von: Gerhard Wagner

Heft 23: Musenhof - Markt - Moderne

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 23, 2011, 52 S., A5, 3 Euro plus Versand

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 23, 2011, 52 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Die Ausgangspunkte dieser Broschüre bilden zwei Vorträge auf Veranstaltungen von "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, die hier in erweiterter Form verarbeitet wurden: "Warum Realismus? Kulturelle Kontexte einer Jahrhundertfrage" (September 2010) und "Das Kunstwerk im Zeitalter des Warenfetischismus. Sozialökonomisch-ästhetische Streifzüge im Anschluss an Karl Marx und andere" (Juli 2011). Sie führen zugleich Fragestellungen der bisherigen Helle-Panke-Publikationen "Walter Benjamin – Moderne und Faschismus" und "Walter Benjamin – Historisierung der Moderne" weiter.

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INHALT

Vorbemerkung

Zwischen Impression und Symbol
Pariser Kunststreifzüge

Zwischen Realismus und Realpolitik
Die Künste im Jahrhundert

Zwischen Werk und Ware
Die Künstler als Gegenstand der ökonomischen Untersuchungen von Karl Marx

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LESEPROBE

Zwischen Werk und Ware

Die Künstler als Gegenstand der ökonomischen Untersuchungen von Karl Marx

Zwiespältige Modernität

Stichworte wie "Realismus" und "Moderne" verweisen auf historische, in die Gegenwart hineinreichende sozial-ökonomische Prozesse und auf die Auseinandersetzung von Künstlern und Wissenschaftlern mit ihnen. Sie verweisen auf die technisch optimierte Erzeugung von Kulturwaren, die Lohnarbeit, den Warenfetischismus. Einerseits bedeutet das kapitalistische Industriezeitalter zunehmende Nutzung von Dampfkraft und Elektrizität, später Elektronik, bedeutet es Ausdehnung und Konzentration von Fabrikarbeit, industrielle Massenproduktion von Waren, optimierte Informationsverarbeitung, erhöhte Arbeitsproduktivität. Andererseits bedeutet dieses Zeitalter die zunehmende Vergesellschaftung der Menschen vorrangig über den Austausch von Waren, die Unterwerfung von menschlichem Verhalten unter die Märkte, Marktgesetze und Krisen, den Ausschluss von Produktion und Konsumtion. Die Formen des Wirtschaftens, Denkens und Fühlens stehen damals wie heute natürlich im Zusammenhang. Im landläufigen Warenfetischismus nehmen die ökonomischen und sozialen Zwänge, die Konjunkturen, Konkurrenzen und Krisen sowohl dinglichen wie auch naturanalogen Charakter an. Obwohl – oder: weil – sie von den Menschen, im Ganzen gesehen, selbst produziert werden. Warenfetischismus ist ein meist unbewusster Reflex von Widersprüchen, nicht primär Produkt von Massenbetrug und -manipulation. Und er wird durch allerlei Selbstermächtigungsphantasien zu kompensieren versucht. Der Warenfetischismus ist aber nicht mit zum Beispiel sexuellem, religiösem und modischem Fetischismus gleichzusetzen. Zu fragen ist, inwiefern an diesen letztlich ökonomisch-sozial bedingten Prozessen Künstler teilhaben, inwiefern auch für sie die universellen Gesetze der Warenproduktion gelten. Und zu fragen ist, was das für eine sich als autonom und subversiv verstehende Kunstproduktion bedeutet.

Alles Kommerz?

Festzustellen ist, dass bestimmte verkürzende Betrachtungsweisen weiterleben, darunter in der Medienkritik, auch in der sich als linksgerichtet verstehenden. Da ist zum Beispiel, um mit dem Einfachen zu beginnen, zum einen die einseitig negative Sicht auf die Kommerzialisierung von Kunst; zum anderen die mehr oder weniger direkte Erhebung von ökonomischen Fakten zu Qualitätskriterien. (Kaum ein neuer Hollywood-Film zum Beispiel wird ohne Verweis auf seine Produktionskosten besprochen.) Da ist ferner die aus der naiven Totalisierung der kapitalistischen Warenproduktion folgende unkritische Übertragung des Phänomens des Warenfetischismus auch auf Kultur- und Kunstprozesse. Diese läuft auf eine Fetischisierung des Warenfetischismus hinaus. Und das bedeutet in der Konsequenz gerade die paradoxe bloße Verdoppelung jenes Scheins, den die moderne Kulturindustrie alltäglich zu verbreiten sucht, nämlich des Scheins der Allmacht. Auf einem weiteren Blatt steht die Betrachtung der sogenannten Masse als bloßes medienindustrielles Manipulationsopfer und ihre latente Entschuldung.

Zwei Beispiele für die genannten Betrachtungsweisen. Ein Kunstmagazin spricht in seinem Themenheft zum Kitsch von "süßlicher Gefälligkeit der banalen Gemütskunst", von "einer plumpen wiederholbaren Form [...], die keinen irritierenden Inhalt verbirgt". Es resümiert: "Jedes wahr und tief empfundene Bild kann aufgrund seines Warencharakters zum Kitsch mutieren, da hat der Sammler bekanntlich freie Hand." Und: "[...] je teurer, desto Kunst".[1] Dann heißt es in einer gewerkschaftseigenen kulturpolitischen Zeitschrift: "Machen wir uns nichts vor: in der 'freien Marktwirtschaft' (oder im kapitalistischen Schweinesystem?) ist Kunst nichts anderes als Ware, die als Marke installiert und verhökert wird. Und da die großen Banken und Profiteure als Käufer den Markt bestimmen, werden nur solche (Kunst-) Waren lanciert und gehyped, die ihnen verträglich und unterhaltsam erscheinen." Kein Wunder, dass ungestüm verlangt und gehofft wird: "Kunst als Gegenmacht im eigenen Land! Jenseits der Zwänge des Kunstmarkts. Kunst als existentiell unabhängige, selbstbewusste, fantasievolle und öffentliche Gegenmacht, die nicht in Ateliers auf die Vermarktung spekuliert, sondern öffentlich auftritt und nicht nur verklausuliert und geheimnisvoll den Kunstsinnigen erscheint."[2]

Was geht hier vor? Nichts anderes als eine Fetischisierung der Warenproduktion und des Warenfetischismus, deren unkritische Übertragung auf die Künste der Gegenwart. Eine geistige Falle.

Ware und Geld

Es erscheint als verlockend, Kunst, Ware, Markt und Geld in einen direkten Zusammenhang zu bringen, ja gleichsam ineinanderzuspiegeln. Die Bestimmungen der Ware, die Karl Marx in seinem Werk "Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie" vornimmt, scheinen auch auf Kunst-Waren zuzutreffen: Die im Produktionsprozess erzeugte Ware enthält sowohl Gebrauchswert für die Bedürfnisbefriedigung als auch Tauschwert als Repräsentation von Austauschverhältnissen, gesellschaftlichen Verhältnissen. Gebrauchswert und Tauschwert sind in der Ware dialektisch miteinander vermittelt. Die Ware wiederum wird im Austauschprozess – zum Beispiel auf dem Kunstmarkt – durch das Äquivalent Geld repräsentiert. Dieses enthält wie die Ware Gebrauchswert und Tauschwert. Da jedoch in der Wahrnehmung die Ware dem Produktionsprozess entspricht, Geld aber der Zirkulationssphäre, wird in der Ware nur der Gebrauchswert, also ihre rein stoffliche Natur, wird im Geld nur die gesellschaftliche Vermittlung wahrgenommen. Die Ware erscheint als Ort des Konkreten, Fassbaren – das Geld hingegen als abstrakt und als einziger Vermittler der Mechanismen kapitalistischen Wirtschaftens. Doch da Geld als abgekoppelt erscheint vom realen Produktionsprozess, tritt es als abstrakter Wertträger auf, welcher scheinbar nicht gesellschaftliche Beziehungen repräsentiert. Die abstrakte Seite erscheint in der Gestalt objektiver Naturgesetze; die konkrete Seite als rein stoffliche Natur (vgl. 23: 49–53).[3]

Abstrakte gesellschaftliche Beziehungen werden, so in den beiden Begriffen "Ware" und "Geld", als naturhafte, ahistorische, unveränderliche Kategorien widergespiegelt. Daher liegt auch die Übertragung des Phänomens des Warenfetischismus auf die Künste nahe. Die Feststellung von Karl Marx im "Kapital" (erstmalig in der 2. Aufl. 1872, Abschnitt "Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis") ist bekannt: Vermittels der unpersönlichen Tauschverhältnisse, der Wertabstraktionen der kapitalistischen Produktionsweise nehme das "bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen [...] für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen" an (23: 86). Es erfolgt also eine "ökonomische Mystifikation" (25: 839), ein Verschleiern und Verwischen der Produktionsbedingungen, der Eigentums- und Konkurrenzverhältnisse. Die Abstraktion von der zur Produktion der Ware notwendigen Arbeit macht ihren 'phantasmagorischen' Charakter aus.

Überdies entsteht auch auf dem Kunstmarkt mit seinen oft als willkürlich erscheinenden Preisbildungen ein Schein, den Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer "Dialektik der Aufklärung" von 1947 artikulierten: Die Zirkulationssphäre er-scheint als primärer Ort von ökonomischer Ungleichheit, Konkurrenz und Ausbeutung: ein, wie sie sagen, "gesellschaftlich notwendiger Schein".[4]Es wird bis heute, alltäglich, der Eindruck erweckt, dass Mehrwerterzielung, modisch-floskelhaft ausgedrückt, 'Wertschöpfung' wäre, gleichgesetzt mit Gewinnerzielung; ja dass der Mehrwert in der Zirkulation beziehungsweise in einer 'Wertschöpfungskette' entstünde. Und alle 'Lohnabhängigen' werden oberflächlich vereint.

Inwiefern sind nun die Künste tatsächlich von diesen Phänomenen betroffen? Um diese Frage zu beantworten, sind unter anderem heranzuziehen: die Betrachtung der Produktionssphäre bei Marx, seine Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit, deren Anwendung auf Kunstprozesse; seine sozialökonomischen Unterscheidungen von Künstlern als Produzenten und als Dienstleister, als kleine Warenproduzenten und als Lohnarbeiter, als Werkproduzenten und als Interpreten. Unter dem Kunstprozess sei die dialektische Einheit von Kunstproduktion-, -distribution und -rezeption verstanden.

[1] Till Briegleb: Kitsch in der Gegenwartskunst. Eine Ermittlung. In: art. Das Kunstmagazin (Hamburg). Jg. 2011. H. 7, S. 20–28; 23, 26. – Siehe auch Hartmut Böhme/Johannes Endres (Hrsg.): Der Code der Eigenschaften. Fetischismus in den Künsten. München 2010.

[2] Wolfram P. Kastner: Kaufkunst, Kunstkomplizen, Gegenmacht. Eine Entgegnung [...]. In: Kunst und Kultur. Kulturpolitische Zeitschrift (ver.di; Tübingen). 18 (2011) 3, S. 12.

[3] Zitatnachweise mit arabischer Band- und Seitenzahl beziehen sich auf die Ausgabe: Karl Marx/Friedrich Engels: Werke (MEW). Bd. 1. Berlin 1988; Bd. 23. Ebd. 1979; Bd. 24. Ebd. 1963; Bd. 25. Ebd. 1968; Bd. 26.1. Ebd. 1974; Bd. 40. Ebd. 1985. – Mit "GR" wird abgekürzt: K. Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin 1953. Dass. in: MEW. Bd. 42. Ebd. 1983. ‒ Alle Hervorhebungen wurden diesen Ausgaben entnommen.

[4] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1947]. Hrsg. von Waltraud Beyer. Leipzig 1989 (RUB, Bd. 1325), S. 196 (Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung; 3). – Siehe auch Hans-Georg Backhaus: Dialektik der Wertform. Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik. Freiburg 1997; Frank Engster: [Alfred] Sohn-Rethel und das Problem einer Einheit von Gesellschafts- und Erkenntniskritik. Berlin 2009 (Philosophische Gespräche, H. 15).

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