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Heft 20: Jenseits von Überwachung. Strategien der Kontrolle und ihre Kritik

Beiträge einer Konferenz vom 18. bis 20. September 2009

Von: Matthias Rothe/Falko Schmieder, Lars Ostermeier, Vassilis Tsianos/Serhat Karakayali, Peter Ullrich/Anja Lê

Heft 20: Jenseits von Überwachung. Strategien der Kontrolle und ihre Kritik

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 20, 2010, 52 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 20, 2010, 52 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Inhalt

Matthias Rothe/Falko Schmieder
Kein Ende der Souveränität? Zu einigen Tendenzen der (kritischen) akademischen Theorieproduktion

Lars Ostermeier
Kultur der Kontrolle oder Kontrollkulturen?

Vassilis Tsianos/Serhat Karakayali
Überwachen und Modulieren

Peter Ullrich/Anja Lê
Überwachungskritische Bilder

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LESEPROBE

Matthias Rothe/Falko Schmieder
Kein Ende der Souveränität?
Zu einigen Tendenzen der (kritischen) akademischen Theorieproduktion

1. Außer Kontrolle?

David Garland entwirft in seinem Buch The Culture of Control (2001) eine Gesellschaft, in der die Gelegenheiten für kriminelles Verhalten – er bezieht sich auf die Kriminalität in ihren klassischen Formen: Diebstahl, Raub, Überfall, Mord etc.[1] – in gleichem Maße gewachsen sind wie sich die Möglichkeiten sozialer Kontrolle verringert haben. Er befragt die Veränderungen der amerikanischen und britischen Lebensweise[2] seit den 70er Jahren in Hinblick auf die Möglichkeiten staatlicher Interventionen und konstatiert eine tatsächlich, das heißt faktisch stark limitierte Macht des Staates. Die Maßnahmen der Kontrolle[3] und ihre interne Logik, so Garland, werden überhaupt erst vor dem Hintergrund einer solchen Beschränkung verständlich. Sie lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: adaption (z.B. in Form einer Übertragung von Kontrollaufgaben an die community) oder denial and acting out (z.B. in Form von Strafen, die demonstrativ jede Angemessenheit vermissen lassen und so den Mythos vom souveränen Staat zu beschwören suchen). Was viele Kritiker also nur als perfide Strategie der Machtausübung beschreiben, der Staat zieht sich von seinen genuinen Aufgaben zurück und übergibt die Verantwortung den privaten Akteuren (dem Einzelnen, den communities, den Unternehmen), erscheint bei Garland als Lösungsversuch angesichts einer unhintergehbaren (Kontroll-) Notlage. Das Gegenteil aber, die Zuständigkeit des Staates für die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung, steht in seinem Szenario gar nicht mehr zur Option.

Die Differenz dieser Perspektiven, die Notlage als Ausdruck und Mittel einer neuen Form von Kontrolle vs. als Zeichen eines Kontrollverlustes, ist fundamental, darüber sollte man sich unbedingt klar sein. Sie hat eine ontologische Dimension. Der Verweis auf ein Missverhältnis zwischen den traditionellen staatlichen Ansprüchen auf Zuständigkeit (Gewährleistung von Ordnung, innerer und äußerer Sicherheit, Daseinsvorsorge, Regelung der Zugehörigkeit) und den Möglichkeiten, diese Zuständigkeit auch zu exekutieren, redet also nicht unmittelbar jenen das Wort, die unter Voraussetzung diffuser Gefahren jede Form von Kontrolle zu rechtfertigen suchen. Ein solches Vorgehen (Rhetorik der Gefahr) operiert auf einer anderen Ebene. Es ist auch denkbar, wenn man den Staat prinzipiell seinen (traditionellen) Ansprüchen gewachsen glaubt.

Die neuen akademischen Schulen, die im Folgenden diskutiert werden sollen und die darüber verglichen werden können, dass sie Vergesellschaftung bzw. die Ermöglichung und Aufrechterhaltung von Ordnung kritisch begleiten: governmentality studies, critical security studies und surveillance studies[4] haben das Instrument der Risikoanalyse bzw. das Denken in Begriffen der Prävention und des Risikos als zentrales Merkmal zeitgenössischer Regierung ausgemacht. Die für uns entscheidende Frage lautet nun: Lässt sich der Aufstieg des Risikomodells[5] vor dem Hintergrund einer solchen ontologischen Unsicherheit verstehen? Indiziert er eine Anpassungsleistung des Staates an eine veränderte Lage, mithin eine Einrechnung und sogar ein Eingeständnis der eigenen Ohnmacht in die Verfahrensweisen oder handelt es sich nur um eine Fortsetzung "totaler" Kontrolle mit anderen Mitteln? Der Staat würde sich, sollte Letzteres gelten, weiterhin auf Höhe der Ereignisse befinden oder könnte sie zumindest prinzipiell auf Normwerte hin abgleichen und korrigieren.

Ein Einwand gegen die Vorstellung einer solchen ontologischen Unsicherheit liegt auf der Hand. Gerade wenn man nicht nur, wie David Garland, die Kriminalität in ihren klassischen Formen und mithin wohl definierten Bereichen des Auftretens untersucht, muss die Willkür auffallen, die dem Risikomodell inhärent ist. Der Begriff "Risiko" bezieht sich immer auf Ereignisse, die es (noch) gar nicht gibt. "Der Begriff 'Risiko' bezeichnet somit kein Ereignis. Vielmehr ist 'Risiko' ein Urteil – und zwar das Urteil derer, die die Faktoren definieren, kombinieren und interpretieren." (DeBoer: 2010) In anderen Worten, Unsicherheiten werden zumindest (auch) diskursiv als Gegenstände politischen Handelns erzeugt. Die Bereiche potentieller Gefahren, angesichts derer der Staat sich dann überfordert weiß, erscheinen (auch) als Effekt solcher Analysen.

Macht man nun dieses Moment der Erzeugung stark, werden die folgenden Annahmen möglich: Entweder ist der Staat ein souveräner und planvoller Agent. Er würde sich der Kontrolle bewusst begeben, aber nur, um ihr neue Bereiche zu erschließen. Oder aber er erzeugt, ohne es zu wollen, fortgesetzt seine eigene Ohnmacht. Dieses Szenario gesteht ihm aber immer noch Allmacht zu: Nicht nur die Dinge der Welt bleiben prinzipiell verfügbar, der Staat ist zudem noch der alleinige Produzent seiner Unfähigkeit. Beide Annahmen lassen sich zudem kombinieren, etwa in der Vorstellung, dass der Staat sich zwar selbst entgehe, aber dennoch planvoll ausnutze, was als Ungeplantes eintritt, im Ergebnis führt dies ebenso zu einer beständigen Ausweitung seiner Kontrolle.

Die erwähnten kritischen Schulen, governmentality studies, critical security studies und surveillance studies, schreiben sich, unserer Ansicht nach, tendenziell in das Feld dieser Annahmen – eher weniger als mehr reflektiert – ein. Das heißt, nicht selten denken sie von der Souveränität her, und zwar auch dort, wo sie dies explizit bestreiten. Und eine Möglichkeit der Bestreitung besteht, weil in all diesen Annahmen mit einem Moment von Kontrollverlust gerechnet wird. Dieser aber tritt in Wirklichkeit nur im Rahmen eines spezifischen Changierens in Erscheinung: Die Souveränität wird dem Nationalstaat abgesprochen und auf die Politik als solche verschoben, die kein besonderes Territorium mehr kennt. Agambens Analysen der Souveränität, seine Rede vom (bio-) politischen "nomos des Planeten" (Agamben 2002: 186), liefern für diese Operation eine "Steilvorlage".[6] Auf der Oberfläche und nicht zuletzt für die Protagonisten selbst sind die Argumente, die daraus folgen, schwer von jenen zu unterscheiden, die eine ontologische Schwäche souveräner Macht voraussetzen. Dass die Infragestellung des Nationalstaates keine Infragestellung staatlicher Souveränität ist (sie bleibt im Sinne Foucaults als Staatsfunktion erhalten), zeigt sich aber spätestens dann, wenn aus diesen Bestreitungen kein analytischer Gewinn mehr gezogen werden kann.

Die durch diese Schulen in den Blick genommenen Maßnahmen, Techniken und Instrumente des Regierens, so lautet unsere These, werden zumeist so behandelt, als wären sie, im Einzelfall erfolgreich oder nicht, auf prinzipiell zugängliche und verfügbare Ereignisse angesetzt.[7] Das mitlaufende Modell bleibt, selbst wenn die Prävention zur Debatte steht, das einer Herrschaft bzw. einer Verfügungsgewalt über den Raum: eine Urvorstellung staatlicher Souveränität.

Mit anderen Worten, indem zum Beispiel Prävention von der Möglichkeit der Kontrolle her theoretisiert wird und nicht von ihrer prinzipiellen Unmöglichkeit, ist die (ontologische) Kontingenz immer bereits getilgt und das Präsenzdenken orientiert die Analyse. Oft genug setzt die Kritik unausgesprochen voraus, dass der Staat oder quasi staatliche Einheiten sich auf der Höhe der Ereignisse befinden und prinzipiell ordnend eingreifen können. Damit reproduziert sie ohne Not und ohne methodischen Ausweis ein traditionelles souveränes Selbstverständnis.

Die Kritiker operieren in diesem Fall, könnte man daher sagen, im Überwachungsparadigma, weil Überwachung die Idealform für die Entfaltung einer solchen Souveränität darstellt. Sie impliziert die Ausdifferenzierung von zwei Positionen, die aufeinander bezogen sind, und zwar im Hier und Jetzt. Diese Beziehung ist also eine räumliche, eine Beziehung unter Anwesenden. Aber sie ist über eine Asymmetrie definiert, die notwendigerweise total ist, unabhängig davon, wie viel Spielraum den Seiten auch eingeräumt wird. Denn die Totalität der Asymmetrie entsteht nicht auf Ebene der Handlung, sie ist eine Funktion der Trennung von Sehen und Gesehenwerden. Diese Trennung kennt keine Abstufungen oder Übergänge; sie ist die Funktionsbedingung einer (nicht personalisierten) souveränen Macht, einer Herrschaft über den Raum (das Sichtfeld), die sich wahlweise auf Körper, Bewegungen (mobility) oder Interessen bezieht. Man könnte auch sagen, dass Überwachung notwendigerweise die Anwesenheit einer Abwesenheit suggeriert[8], und hätte damit wohl die besondere Präsenzform des Staates beschrieben.

Die surveillance studies (surveillance im engeren Sinne), soweit sie über das Programm verstanden werden, das David Lyon ihnen gibt: "understanding visibility" (Lyon 2002)[9] identifizieren Techniken und Apparate als verantwortlich für die Trennung von Sehen und Gesehenwerden. Dazu abstrahieren sie von den Praktiken, in denen diese verankert sind, um ihnen eine monotone Funktion zuzuschreiben: "to make visibile". "What is all this ‚watching’ for?" (Lyon 2002: 3) ist die einzige Frage, die dann noch sinnvoll gestellt werden kann.[10] Die surveillance studies fungieren auf diese Weise als wichtige Ressource für die Imagination einer Souveränität, stabilisieren mithin das Überwachungsparadigma als Ganzes. Mit ihrer beständigen Einsetzung des Visuellen – man kann nicht einmal mehr von einer Reduzierung auf das Visuelle sprechen[11] – evozieren sie ganz unmittelbar die Vorstellung von Herrschaft über einen Raum. Zudem wird das Bedürfnis, hinter den Techniken einen Verantwortlichen zu identifizieren, umso stärker, je mehr die Techniken jenseits von Praxen als bloße Apparate und Instrumente verstanden werden, die alle nur Eines "im Sinn" haben. Wo dieses Bedürfnis sich nicht erfüllt, kann aber Überwachung immer noch ästhetisiert (zum Fetisch) werden.[12]

[1] Wirtschaftskriminalität etwa wird bei ihm mit keinem Wort erwähnt. Gerade weil er den Anspruch hat, über die Bestrafungsformen das Funktionieren von Gesellschaft überhaupt in den Blick zu holen, ist das ein erstaunlicher Tatbestand. Garland muss sich zu Recht, wie wir finden, vorwerfen lassen, das Bild zu verfestigen, dass die Gesellschaft vor allem durch diese Formen sichtbarer Kriminalität in ihrem Bestand bedroht ist. Da er zudem nur das Gewicht der traditionellen Erklärungsweise von Kriminalität (der Verweis auf soziale Benachteiligung) diskutiert, nicht aber ihrer Genese und ihren Funktionen nachgeht, reproduziert er zudem die Vorstellung von einer "Unterschichtenkriminalität" als dem zentralen sozialen Problem (vgl. Hess/Ostermeier/Paul: 2007) und zum letztgenannten Punkt vor allem (Quensel 2007: 194).

[2] Er verweist auf die Entstehung der suburbs und die Verwaisung der Innenstädte, neue Formen von Mobilität durch die allgemeine Verfügbarkeit von Automobilen, Veränderungen der traditionellen Familienstrukturen durch Veränderungen in der Erwerbsarbeit, gesteigerte Konsummöglichkeiten, die Entstehung einer Jugendkultur, die durch Massenmedien beständig ermöglichte Vergleichbarkeit von Lebenssituationen, die Vielzahl der in Gang gesetzten Ent-Unterwerfungen durch die sozialen Bewegungen etc.

[3] Garland bezeichnet mit "Kontrolle" bereits ein bestimmtes Paradigma der Kriminalitätsbekämpfung (im Gegensatz zu einer wohlfahrtsstaatlichen Vorgehensweise). Wir verwenden den Begriff im Folgenden als einen Sammelbegriff für jede Form der Intervention, die auf die Herstellung und den Erhalt von Ordnung zielt.

[4] Diese Forschungsrichtungen sind allesamt Neugründungen der 90er Jahre; das lässt sich nicht nur mit äußeren Ereignissen, etwa dem Ende des kalten Krieges, dem Aufstieg des Terrorismus etc. erklären, sondern auch mit strukturellen Veränderungen des akademischen Systems, z.B. neuen Forschungs- und Förderungsrichtlinien, die selbst Ausdruck jener Ökonomisierung oder ‚neoliberaler Tendenzen’ sind, die diese Schule dann bevorzugt zu ihrem Forschungsgegenstand machen. Wir kommen darauf zurück.

[5] Ulrich Bröckling hat am 16.06. 2010 in einem Vortrag an der Europa-Universität Viadrina (Frankfurt/Oder) verschiedene Präventionsdispositionen unterschieden, an denen sich das Regieren orientiert und darüber grob ‚Epochen der Moderne’ differenziert: ein Hygienedispositiv, das auf die Eliminierung von Risiken ausgerichtet ist, ein Immunisierungsdispositiv, das auf Risikomanagement orientiert und ein Dispositiv, das immer vom worst case scenario her rechnet und dementsprechendes Handeln einsetzt.

[6] Agambens Souveränitätsanalyse übt eine erstaunliche Anziehungskraft auf linke Theoriebildung aus und das, obwohl sein Modell ein rein juridisches ist, der Ökonomie keinerlei Erklärungswert zugesteht und sie nahezu vollständig ausblendet. Darüber hinaus, dies ist eng damit verbunden, orientiert er nicht auf eine zuvorderst reale Veränderung der Verhältnisse, sondern entwirft ein Szenario, in dem die souveräne Macht ihre Wirksamkeit über die Realisierung einer neuen Zeiterfahrung verliert; er knüpft an die Tradition des Messianismus an. All dies scheint aber kaum ins Gewicht zu fallen gegenüber der Aussicht, mit Agamben jeden Polizisten endlich wieder einen Faschisten nennen zu dürfen.

[7] Das ist besonders augenfällig bei Theorien, die davon ausgehen, dass die Kontrolle und das zu Kontrollierende in konstitutiver Beziehung zueinander stehen (vgl. Annahme 3). So nimmt etwa Didier Bigo an, dass die Mobilität, die es zu kontrollieren gilt, dem Einzelnen zugleich auferlegt wird. (Bigo 2006: 42)

[8] Auch ein Experte am Lügendetektor, der während des Verhörs anwesend ist, überwacht den Verhörten. Er ist nur nicht Teil derselben Situation. Eine solche Konstellation zeigt unseres Erachtens genauer als der Fall einer Kamera, worin eine Überwachung besteht. Die Kamera verführt dazu, nur die Abwesenheit als das konstitutive Moment zu denken.

[9] Und nicht als bloßer Sammelbegriff für jede Form von Theorie zu Kontrolle und Überwachung, wie es auch geschieht, vgl. etwa http://www.surveillance-studies.net/.

[10] Vgl. auch "Surveillance Studies is about seeing things, and more particularly about seeing people.“ (Lyon 2007: 1) Dass Lyon watching in Anführungszeichen setzt, zeigt wohl an, dass es nur noch als Metapher taugt, dennoch macht er es zur Basis der Theorieproduktion.

[11] Das Eurodac-System etwa zur Speicherung der Fingerabdrücke von Asylbewerbern, die Vorratsdatenspeicherung im Flugverkehr und die Kamera im öffentlichen Raum funktionieren auf so unterschiedliche Weisen, die eine Herunterrechnung auf die Formel: making visible und das damit verbundene Präsenzdenken analytisch nicht mehr einholen können.

[12] Lyon selbst sieht in der künstlerischen Beschäftigung mit dem Thema – nicht wenige Konferenzen werden mittlerweile von Kunsthochschulen ausgerichtet oder von Performanz- und Videokünstlern begleitet – einen wertvollen Beitrag zur kritischen Bestandsaufnahme der Gesellschaft. (Lyon 2002: 5) Wir halten es da eher mit einem Fan des frühen Heinz-Rudolf Kunze, der ihm nach dem Auftritt vorwarf: Dein Konzert war so schlecht, ich hätte fast getanzt.

  • Preis: 4.00 €