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Heft 17: Herrschaft und Ökonomie bei Theodor W. Adorno

Vortrag am 5. Januar 2010

Von: Dirk Braunstein

Heft 17: Herrschaft und Ökonomie bei Theodor W. Adorno

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 17, 2010, 56 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 17, 2010, 56 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Inhalt

1. Der Beginn mit "Geschichte und Klassenbewusstsein"
2. Erste Anwendung der Ökonomiekritik: "Der Fetischcharakter in der Musik"
3. Fragen zur Klassentheorie
4. Geschichte als Vorgeschichte
5. Recht, Gerechtigkeit und Tausch
6. Negative Dialektik
7. Identität und Herrschaft

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LESEPROBE

1. Der Beginn mit "Geschichte und Klassenbewusstsein"
Schon sehr früh in seiner Laufbahn als Philosoph erkennt Adorno die überragende Stellung der Ökonomie für eine adäquate Theorie und Kritik der Gesellschaft, spätestens bei der Lektüre von Georg Lukács` Geschichte und Klassenbewusstsein. Dieses Buch, eine theoretische Reaktion auf die Oktoberrevolution mit II. Internationale um Karl Kautsky als theoretische Adressatin, erscheint 1923, und für Adorno ist das Buch die originäre Quelle seines eigenen Marxismus in der Vorkriegszeit. Adorno kannte Lukács durch dessen Theorie des Romans von 1916, die er nach eigenem Bekunden bereits 1921 als Abiturient gelesen hatte. Er war begeistert von diesem "vormarxistischen" Buch Lukács`,[1] und so wundert es nicht, dass er sich auch der folgenden Schrift ohne Skrupel vor ihrem antibürgerlichen Marxismus zuwendet. Lukács stellt hier bereits jene Begriffe bereit, die für Adorno zumal während der ersten Frankfurter Zeit zentral sind: Neben dem im Titel angezeigten Klassenbewusstsein sind es vor allem die Begriffe der zweiten Natur, des Warenfetischs, der Verdinglichung sowie der Totalität, die Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein ausgehend von der marxschen Theorie für eine erneuerte Philosophie der Praxis zu nutzen sucht. In den Mittelpunkt seiner Gesellschaftskritik stellt er die Warenkategorie. Zwar habe es bereits in der Antike Waren gegeben, qualitativ neu sei aber im entwickelten Kapitalverhältnis die Universalität jener Kategorie, die unterdessen die gesamte Wirklichkeit prägt. Erst als "Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins ist die Ware in ihrer unverfälschten Wesensart begreifbar". (Lukács 1968, 260.). Damit sieht Lukács nun zugleich den historischen Moment gekommen, in dem eine die gesamte Wirklichkeit umwälzende Erkenntnis möglich geworden ist. Denn "wenn die Warenform universal geworden ist, dann muss es auch möglich sein, durch sie die Totalität der Wirklichkeit zu denken" (Scheible 1999, 58), sofern das erkennende Subjekt selbst Warenform annehmen und sich also selbst erkennen könne. Dieses "Zurwarewerden" (Lukács 1968, 350) habe im kapitalistischen Prozess ohnehin der Arbeiter zu erleiden, dessen "unmittelbares Sein […] ihn […] als reines und bloßes Objekt in den Produktionsprozess ein[stellt]. Indem sich diese Unmittelbarkeit als Folge von mannigfaltigen Vermittlungen erweist, indem es klar zu werden beginnt, was alles diese Unmittelbarkeit voraussetzt, beginnen die fetischistischen Formen der Warenstruktur zu zerfallen: der Arbeiter erkennt sich selbst und seine Beziehungen zum Kapital in der Ware. Soweit er noch praktisch unfähig ist, sich über diese Objektsrolle zu erheben, ist sein Bewusstsein: das Selbstbewusstsein der Ware; oder anders ausgedrückt: die Selbsterkenntnis, die Selbstenthüllung der auf Warenproduktion, auf Warenverkehr fundierten kapitalistischen Gesellschaft." (Ebd., 352.) Wenn nun der Proletarier sich "über sich selbst als Ware bewusst wird" (ebd.), werde bereits diese Selbsterkenntnis praktisch, weil jener sich als "das identische Subjekt-Objekt, das Subjekt der Tathandlung" (ebd., 331), d.h. als eigentlicher Reproduzent der Gesamtgesellschaft erkennt. "Die Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware ist aber bereits als Erkenntnis: praktisch. D.h. diese Erkenntnis vollbringt eine gegenständliche, struktive Veränderung am Objekt ihrer Erkenntnis. Der objektive Sozialcharakter der Arbeit als Ware, ihr 'Gebrauchswert' (ihre Fähigkeit, ein Mehrprodukt zu liefern), der wie jeder Gebrauchswert in den quantitativen Tauschkategorien des Kapitalismus spurlos untertaucht, erwacht in diesem Bewusstsein, durch dieses Bewusstsein zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Spezialcharakter der Arbeit als Ware, ohne dieses Bewusstsein ein unerkanntes Triebrad der ökonomischen Entwicklung, objektiviert sich selbst durch dieses Bewusstsein. Indem aber die spezifische Gegenständlichkeit dieser Warenart, dass sie unter dinglicher Hülle eine Beziehung zwischen Menschen, unter der quantifizierenden Kruste ein qualitativer, lebendiger Kern ist, zum Vorschein kommt, kann der auf die Arbeitskraft als Ware fundierte Fetischcharakter einer jeden Ware enthüllt werden: in jeder tritt ihr Kern, die Beziehung zwischen Menschen als Faktor in die gesellschaftliche Entwicklung ein." (Ebd., 353.)

Auf diese Weise "verbindet Lukács mit der Selbsterkenntnis des Proletariats Perspektiven von weltgeschichtlicher Reichweite", indem er sich die spekulative Überzeugung zu eigen macht, "dass die Subjektivität des Subjekts in der Fähigkeit besteht, dem Dinglichen, dem, was ihm als an sich und außerhalb des Bewusstseins Bestehendes entgegentritt, sein Ansichsein zu nehmen, es zu idealisieren und zum Gewussten, zum Fürsichsein zu machen, so dass am Ende alle Andersartigkeit aufgehoben und im Sinne des absoluten Wissens Wahrheit und Gewissheit identisch sind. Dieses bei Hegel als Zusichkommen der Idee begriffene Fortschreiten ist auf der letzten Stufe des objektiven Geistes das Fortschreiten des Weltgeistes, dessen vernünftiger und notwendiger Gang die Weltgeschichte ist." (Doye 2005, 137.) Das Proletariat, so Lukács’ Heilserwartung, werde das Telos der Geschichte, "die Erlösung der Menschheit" (Tietz u. Caysa 2005, 95) mit Notwendigkeit herbeiführen, wenn erst durch es der objektive Schein zweiter Natur von der Gesellschaft abfalle.

Der Begriff des Klassenbewusstseins ist allerdings bereits bei Lukács sehr problematisch, insofern damit die Existenz des Proletariats als Kollektivsubjekt unterstellt wird. Die Frage, wie die Proletarier zum Proletariat werden, beantwortet Lukács nicht wie Marx über die Stellung der Individuen zu den Produktionsmitteln, sondern vermittels der von Max Weber entlehnten Annahme einer anwachsenden Rationalisierung des Arbeitsprozesses: "Das Schicksal des Arbeiters wird zum allgemeinen Schicksal der ganzen Gesellschaft; ist ja die Allgemeinheit dieses Schicksals die Voraussetzung dafür, dass der Arbeitsprozess der Betriebe sich in dieser Richtung" – nämlich hin zur "rationell mechanisierten Arbeit" – "gestalte. Denn die rationelle Mechanisierung des Arbeitsprozesses wird nur möglich, wenn der 'freie' Arbeiter entstanden ist, der seine Arbeitskraft als ihm 'gehörende' Ware, als ein Ding, das er 'besitzt', frei am Markte zu verkaufen imstand gesetzt wird." (Lukács 1968, 265) So triftig diese Annahme ist, so wenig folgt daraus jedoch, weder logisch noch historisch, ein Zusammenschluss der Proletarier zum Kollektivsubjekt, welches ein Bewusstsein seiner selbst im kapitalistischen Produktionsprozess erlangen solle. Die logische Synthetisierung der Proletarier zum Proletariat gelingt Lukács nur dann, wenn er als Vermittlungsinstanz zwischen den Proletariern einerseits und einem als Kollektivsubjekt vorgestellten Proletariat andererseits die kommunistische Partei setzt, die das Klasseninteresse bündelte und in ein unterstelltes objektives Gattungsinteresse überführte. Jedoch liegt die Problematik "des Lukácsschen Begriffs eines objektiven Interesses […] darin, dass dieser insofern zweideutig ist, als [ein] so zugerechnetes Klasseninteresse seinen Grund in realen sozialen Verhältnissen hat, also gesellschaftlich fundiert ist, als unterstelltes Emanzipationsinteresse jedoch auf geschichtsphilosophischen und anthropologischen Voraussetzungen notwendigerweise beruhen muss." (Behrens u. Hafner 1993, 93.) Martin Blumentritt bemerkt zu Recht, das proletarische Denken nach Lukács sei also gar nicht "das Denken des Proletariats, sondern das der Idee des Proletariats", und folglich ist "die praktische Konsequenz der Diktatur des Proletariats auch nicht die Proletarisierung des Staates, sondern die Verstaatlichung des Proletariats" (Blumentritt 1992, 299).

Der für Adorno "sehr wichtige Begriff der zweiten Natur" (B 1, 145) wird von Lukács, der ihn wiederum von Hegel übernimmt (aus § 4 der 'Rechtsphilosophie'), bereits in der Theorie des Romans zur Bezeichnung eines naturhaften Scheins des gesellschaftlich Gemachten verwendet; (vgl. Lukács 1963, 61 f.) der "Welt der vom Menschen geschaffenen und ihm verlorenen Dinge" (GS 1, 355). In Geschichte und Klassenbewusstsein wird dieser Begriff weiter entfaltet zur Benennung des modernen Gesellschaftszustands, "in dem die Menschen einerseits in ständig steigendem Maße die bloß 'naturwüchsigen', die irrational-faktischen Bindungen zersprengen, ablösen und hinter sich lassen, andererseits aber gleichzeitig in dieser selbstgeschaffenen, 'selbsterzeugten' Wirklichkeit eine Art zweiter Natur um sich errichten, deren Ablauf ihnen mit derselben unerbittlichen Gesetzmäßigkeit entgegentritt, wie es früher die irrationellen Naturmächte (pünktlicher: die in dieser Form erscheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse) getan haben." (Lukács 1968, 307.) Adorno liest aus Geschichte und Klassenbewusstsein bereits eine Selbstbeherrschung des modernen Individuums heraus: eine für die weitere Entwicklung seiner kritischen Theorie eminent wichtige Erkenntnis.

Recht bald allerdings wendet sich Adorno zunehmend von Lukács’ Form des Marxismus ab. Zwei Gründe wiegen hier besonders schwer: zum einen Lukács’ gesellschaftlicher Fortschrittsoptimismus, der sich im Glauben äußert, das Proletariat würde das Telos der Geschichte: die Erlösung der Menschheit notwendig herbeiführen, wenn es erst die Gesellschaft vom Schein der zweiten Natur befreit hätte; der andere Grund ist Lukács’ Parteikonformismus, der aus seiner Auffassung vom Klassenbewusstsein resultiert. Noch im Wintersemester 1965/66 wendet sich Adorno in einer Vorlesung gegen den Glauben, die Einsicht in die Übermacht der nun einmal so und nicht anders seienden Objektivität müsse dieser Objektivität auch recht geben: "Es liegt darin ein Moment von Gewissenszwang, wie ich es am stärksten erfahren habe in der Auseinandersetzung mit einem hegelianischen Marxisten, nämlich in unserer Jugend mit Georg Lukács, der damals gerade einen Konflikt mit seiner Partei hinter sich hatte und in diesem Zusammenhang mir erzählt hat, seine Partei habe ihm gegenüber recht, obwohl er der Partei gegenüber in seinen Gedanken und Argumenten recht habe, – weil die Partei eben den objektiven geschichtlichen Stand verkörpere, während sein, für ihn und der bloßen Logik des Denkens nach, fortgeschrittenerer Stand hinter diesem objektiven Stand zurückgeblieben sei. Ich glaube, ich muss Ihnen nicht erst ausmalen, was das bedeuten würde. Es würde nämlich einfach bedeuten, dass das Erfolgreichere, das sich Durchsetzende, das allgemein Rezipierte mit Hilfe der Dialektik den höheren Stand der Wahrheit hätte als das Bewusstsein, das die Scheinhaftigkeit davon durchschaut. Tatsächlich ist die Ideologie im Osten sehr weitgehend von diesem Motiv geprägt. Und es würde weiter darauf hinauslaufen, dass das Bewusstsein sich selbst abschneidet, sich die eigene Freiheit versagt und sich einfach an die stärkeren Bataillone anpasst. Das ist ein Akt, den zu vollziehen mir nicht möglich scheint." (NaS IV.16, 31 f.) Lukács erweist sich hier als Apologet des Hegelschen Geschichtsverständnisses; des Durchsetzungsprozesses des Allgemeinen auf Kosten des Besonderen; des Identischen auf Kosten des Nichtidentischen.

Von seiten Lukács’ schlägt Adorno anlässlich der Neuauflage der Theorie des Romans 1963 die Häme des Philosophen der Praxis entgegen, der dem Intellektuellen, der daran festhält, "dass eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft" (GS 20.1, 403), zum Vorwurf macht, das "'Grand Hotel Abgrund' bezogen" zu haben, ein "schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen" (Lukács 1963, 17). Erwartbar verärgert zeigt sich Adorno ob dieses Vorworts, das, so schreibt er an Kracauer, "mich aufs törichteste und subalternste als Nihilisten anschwärzt." (B 7, 587.) – "Wo soll ich denn wohnen?" fragt er in einer Notiz: "Im Muff der Geborgenheit? Dem ziehe ich mein wackliges Luxushotel vor. Sein Luxus aber ist nichts anderes als das Glück im Aussprechen der äußersten Negativität; und eben das wird einem missgönnt." (Adorno 2003b, 36.) Die polemische Rede von der Geborgenheit – ein Wort, das Adorno nach dem Geschehenen als obsolet, mehr noch: als obszön erachtet (vgl. GS 6, 430) – gemahnt an jene Fundamentalontologie, der sich Lukács, Adorno zufolge bereits 1949, mit dem Aufsatz "Heidegger redivivus" (Lukács 1949), anverwandelt hat, indem er den "Versuch der Vermittlung von Subjekt und Objekt, das Kernstück einer jeglichen Dialektik, das in der Marxischen Dialektik sehr wohl aufgehoben ist" (GS 20.1, 252), diffamiere und "aus Angst vor der Ontologie ins verdinglichte Bewusstsein zurückfällt" (ebd., 255). Lukács’ Kritik sei "ein Schulfall der Unzulänglichkeit transzendenter Kritik", weil sie vorweg ein normatives Urteil über ihr eigenes Maß fällen muss – in diesem Fall, dass "Idealist sei, wer 'das Sein vom Bewusstsein hervorgebracht' denke", während der dialektische Materialismus, getreu der Maxime des Dialektischen Materialismus,[2] den "Standpunkt der Priorität des Seins dem Bewusstsein gegenüber" einnehme. (Ebd., 251)[3]

Mit der einseitigen Vorentscheidung zugunsten des Seins als Primäres wird, was als dialektische Vermittlung erst theoretisch nachzuvollziehen wäre, bereits als Alternative abgetan, aus der man entweder als Idealist oder als Materialist zu wählen habe. Sich voll und ganz auf die Seite des Objektiven zu schlagen, um das subjektive Bewusstsein als peripher abzutun, heißt zugleich, so Adorno, "das dialektische Prinzip selber zu verspotten, da ohne Subjekt, ohne das Moment der Reflexion und Negativität die Rede vom dialektischen Prozess sich hoffnungslos verfängt". Statt dessen verfalle Lukács einer Ursprungsphilosophie, d.h. "eben jenem verdinglichten Denken, dem Lukács seinerzeit in 'Geschichte und Klassenbewusstsein' so eindringliche Analysen gewidmet hat", so als sei "die Rede von Dialektik im Marxismus überhaupt nicht ernst gemeint. Ja, jeder Versuch einer dialektischen Ansicht vom Verhältnis von Subjekt und Objekt – die einzig mögliche Methode, theoretisch über die philosophische Verdinglichung hinauszugehen – verfällt dem Bannspruch." (Ebd., 251 f.) Adorno sieht Lukács’ ehemals unorthodoxen Marxismus an den parteioffiziellen Diamat verraten; die sachlichen Probleme werden von oben her zugunsten einer Doktrin entschieden, nicht durchdacht. Für Adorno verkörpert Lukács nur mehr "die Fleischwerdung eines theoretischen Rückschritts infolge der Anpassung seines Denkens an die Forderungen der kommunistischen Orthodoxie." (Tertulian 2005, 71.) Gelegentlich des 1948 erschienenen Buchs Der junge Hegel schreibt Adorno, von Lukács mittlerweile offenkundig endgültig enttäuscht, an Thomas Mann: "Zu den trostlosesten Eindrücken gehört das große Hegelbuch von Lukács, das ich von Anfang bis Ende durcharbeitete. Man sollte so etwas an Verdinglichung des Bewusstseins bei dem kaum für möglich halten, der diesen Begriff geprägt hat. Da ist der Heideggersche Essay zur Phänomenologie des Geistes in den 'Holzwegen' beinah noch Dialektik dagegen." (B 3, 62.)

Geschichte und Klassenbewusstsein nimmt Adorno in der Folge nur mehr historisch wahr, als Buch, das ihn in seiner Anfangszeit begeisterte. – 1968 kommt Adorno in einem Seminar wiederum auf Geschichte und Klassenbewusstsein zu sprechen. Er führt dort aus, dass Lukács "zwar einerseits glaubte, die Revolution stünde 1922–23 vor der Tür, auf der anderen Seite aber hat Lukács die Problematik von Wesen und Schein, von objektiver Klassenlage und subjektivem Klassenbewusstsein, nicht recht durchschaut. Der Vorwurf des Idealismus bezieht sich vor allem darauf, dass Lukács, von Hegel herkommend, offensichtlich geglaubt hat, der Hegelsche Weltgeist sei ins Proletariat gefahren: Das Proletariat, weil es objektiv dran ist, ist dadurch ohne weiteres zugleich auch der Träger der Geschichte und der Revolution." Diese Idealisierung mitzumachen ist Adorno ebensowenig bereit, wie auf den Klassenbegriff deshalb etwa zu verzichten, denn "[w]eder sollte das Proletariat (im Sinne einer schlichten Identifizierung von subjektiver und objektiver Situation) fetischisiert werden, noch sollte die Kategorie der 'Klasse' einfach aufgegeben werden." (SP, 02.07.1968.)
[1] Noch 1958, schon längst schon kein Anhänger Lukács’ mehr, wird Adorno über jene Schrift sagen, sie habe "durch Tiefe und Elan der Konzeption ebenso wie durch die nach damaligen Begriffen außerordentliche Dichte und Intensität der Darstellung einen Maßstab philosophischer Ästhetik aufgerichtet, der seitdem nicht wieder verloren ward." (GS 11, 251.)
[2] Adorno bemerkt: "Die Marxische Lehre von der Priorität des Seins übers Bewusstsein will aber gerade nicht ontologisch verstanden werden, sondern als Ausdruck eines Negativen, nämlich eben der Vorherrschaft der Verdinglichung, der Produktionsverhältnisse, in welche die Menschen 'unfreiwillig eintreten'." (GS 20.1, 252 f.)
[3] Bei Lukács heißt es: "Wir wissen: Heidegger und seine Anhänger würden hier von allem gegen die Bezeichnung Idealismus heftig protestieren. Behauptet doch Heidegger, jetzt wie früher, weder Idealist noch Materialist zu sein, sondern eben jene Beziehung zum Sein aufgefunden zu haben, die jenseits dieses angeblichen Dilemmas steht. Gemeint wird stets die Engels[s]che klare, scharfe und richtige Gegenüberstellung: Materialist ist, der auf dem Standpunkt der Priorität des Seins dem Bewusstsein gegenüber steht, Idealist, der das Sein vom Bewusstsein hervorgebracht denkt." (Lukács 1949, 44.)

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