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Heft 16: DDR 1989/90 - Revolution oder Konterrevolution?

Von: Thomas Marxhausen

Heft 16: DDR 1989/90 - Revolution oder Konterrevolution?

Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 16, 2009, 64 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Reihe "Philosophische Gespräche", Heft 16, 2009, 64 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Im ND vom 19.12.2009, S. 22, schrieb Thomas Marxhausen dazu.

Das Wahre ist das Ganze. Die DDR 1989/90 – Revolution oder Konterrevolution? Von unten oder oben?

Thomas Marxhausen

Wie historische Ereignisse und deren Ergebnis bewertet werden, ist ein Politikum. Die von den Herrschenden und ihren »Kopflangern« (Brecht) betriebene Delegitimierung der DDR seit ihrer Gründung zielt ab auf die Verunglimpfung jeder sozialistischen Theorie und Vision. Es soll keine Alternative zum bürgerlich-kapitalistischen System gedacht, geschweige versucht werden. Damalige oppositionelle Aktivitäten werden mit Bundesverdienstkreuzen und mit positiver Erwähnung im offiziellen Geschichtsbild gewürdigt, weil sie zur Beseitigung der SED-Diktatur beitrugen. Wer den stalinistischen durch einen demokratischen Sozialismus ablösen wollte und sich davon auch danach nicht mit dem Lockangebot des »Ganges durch die Institutionen« abbringen ließ, ist nach wie vor suspekt.

Die Begriffe »Revolution« und »Konterrevolution« dienten im Herbst 89 dem politischen Schlagabtausch – einerseits der Selbstermunterung der den »aufrechten Gang« wagenden Bevölkerung, Geschichte zu gestalten; andererseits den Machthabern, Unnachsichtigkeit und Härte gegen den »Klassenfeind« zu legitimieren. »Revolution« war und ist im Alltagsbewusstsein positiv, »Konterrevolution« negativ konotiert. Damit hatte jeder im Durcheinander der Ereignisse etwas, woran er sich halten konnte.

Nachholend, sanft und protestantisch

Die Begriffe haben eine unterschiedliche Herkunft. »Revolution« bezeichnet in der Astronomie den Planetenumlauf um ein Zentralgestirn. Auf gesellschaftliche Prozesse angewendet, meint der Begriff die »Umdrehung« oder »Umwälzung« des Gesellschaftskörpers und Staatswesens, deren »Aufhebung« durch andere.

»Konterrevolution« entstammt gesellschaftlichen Kämpfen. Eine der ersten mir bekannten Verwendungen findet sich bei Jean-Paul Marat, der in »L’Ami du peuple« (»Der Volksfreund«) vom 7. Juli 1792 vor der »Konterrevolution« warnt. Als Konterrevolutionäre gelten Leute, die entweder den Gang der Geschichte nicht begriffen haben oder glauben, ihn aufhalten zu können. Die Wendungen »progressive« bzw. »reaktionäre Kräfte« meinen im Prinzip dasselbe: Die einen verkörpern die Zukunft, die anderen die Vergangenheit.

Der Herbst 89 hat viele Namen: Oktober-, November- oder Bürgerrevolution, politische, antistalinistische, demokratische, nachholende, protestantische, sanfte oder Revolution von unten. Es habe sich, weil es nicht zum Blutvergießen kam, um eine »Revolution neuen Typus« gehandelt (Werner Schulz im ND v. 14. 9. 2009). Durchgesetzt hat sich, in der Herrschaftssprache wie bei der Linken, die von der Bürgerbewegung geprägte Bezeichnung »Friedliche Revolution«.

Die oppositionellen und widerständigen Kräfte fanden erst nach und nach zur Bezeichnung »Revolution«. Das Wort schien zu radikal zu sein für das, was angestrebt wurde. Dabei schwang das tradierte Bild mit, eine »Revolution« ziele notwendig darauf ab, historisch überlebte Eigentumsverhältnisse aufzuheben. Diese wurden zunächst nicht in Frage gestellt.

Was man wollte, war die Durchsetzung einer sozialistischen Zivil- bzw. Bürgergesellschaft, die Perestroika in den Farben der DDR. Weil sich der Westen zum Sprachrohr dieser Bestrebungen machte, schien den Herrschenden der Beweis erbracht, dass es um die Beseitigung der DDR geht. Der bittere Witz der Geschichte ist, dass es dem Westen tatsächlich um nichts anderes ging.

Mitte September schätzte ein Positionspapier der Umwelt-Bibliothek Berlin ein, es gebe »im Moment so etwas wie eine revolutionäre Situation«. Sie sei entstanden dadurch, dass »die DDR-Behörden nie in der Lage gewesen sind, ihren Bürgern ein bis in den Alltag fassbares Gegenmodell (zur BRD, Th.M.) zu geben ... Die SED hat zustande gebracht, was kapitalistischen Ideologen nie gelungen ist. Indem sie behauptete, ihre Behördendiktatur sei der einzige Weg zum Sozialismus, wurde die Idee des Sozialismus bei der Bevölkerung der DDR völlig diskreditiert.«

Das Präsidium des Schriftstellerverbandes forderte am 11. Oktober: »Was jetzt aber notwendig ist, ist die revolutionäre Reform; nicht Reform ist zu fürchten, sondern die Furcht vor ihr.« Am 26. Oktober erklärte der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden, Hans Modrow, vor hunderttausend Bürgern: »Das jetzt Begonnene wird in der DDR einen revolutionären Wandel auslösen!« Anstelle der missverständlichen Bezeichnung »Wende«, die die SED-Führung geprägt hatte (Egon Krenz vor dem Politbüro des ZK der SED am 11.10. 1989; im ND v. 12. 10. 1989), schlug Christa Wolf am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz vor, von »revolutionärer Erneuerung« zu sprechen; sie betonte: »Revolutionen gehen von unten aus.« Das Aktionsprogramm der SED Mitte November konstatiert. »Die DDR ist im Aufbruch. Eine revolutionäre Volksbewegung hat einen Prozess gravierender Umwälzungen in Gang gesetzt. Die Erneuerung des Sozialismus steht auf der Tagesordnung.« Seit dem November wurde so gut wie nur noch von »Revolution« gesprochen, deren Ziel der erneuerte Sozialismus sei.

Am 13. Dezember 1989 stellte der Bundespräsident Richard von Weizsäcker in einem Interview des DDR-Fernsehens fest: »Die Deutschen in der DDR haben sich in einer ganz friedlichen, demokratischen Revolution die Freiheit erstritten.« Mit der Kapitulationsurkunde der DDR in der Tasche sprach Kohl nur von der »friedlichen Revolution«. Die Eliminierung des Attributs »demokratisch« signalisierte den Ostdeutschen, dass deren »Demokratie von unten«-Spektakel seine Schuldigkeit getan und von der Straße in die Geschichtsbücher und -legenden zu verschwinden hat.

Dass die westlichen Machthaber den Ereignissen den Begriff »Revolution« zubilligen, folgt einer Traditionslinie: »Nüchtern ist festzustellen, dass spätestens mit den Auseinandersetzungen um den 17. Juni 1953 der Revolutionsbegriff von der antikommunistischen und antisozialistischen Seite massiv besetzt wurde.« (Stefan Bollinger, »Als die Verhältnisse tanzen lernten. Kalenderblätter einer abgebrochenen Revolution zwischen Herbst 1989 und Frühjahr 1990«, Helle Panke e.V.) Deren »Revolutions«-Verständnis beinhaltet die Ablösung eines »Unrechtsstaates« durch den »Rechtsstaat«, die Beseitigung der Unfreiheit durch die Einführung der Freiheit usw. Die Realisierung kapitalistischer Eigentums- und Ausbeutungsverhältnisse findet keine Erwähnung. Die »friedliche Revolution« scheint nur den »Überbau« (Marx) ausgewechselt zu haben.

Das ist bürgerliches Denken seit 300 Jahren: Gesellschaftliche Verhältnisse werden definiert von politischen Struktur- und Rechtsverhältnissen her. Die Eigentumsfrage ist von ihrem sozialökonomischen Inhalt abgetrennt und »verrechtlicht«. So auch 1989/90: Die Beseitigung der ostdeutschen Eigentumsverhältnisse wird definiert als juristischer Akt. Die Verkehrung ging um so leichter in die Köpfe, als sich die DDR-Bürger erst enteignet fühlten, wie die Betriebe stillgelegt und sie arbeitslos wurden.

Der begeisterte und begeisternde Aufschrei im Oktober »Wir haben eine Revolution!« meinte den Beginn einer Umgestaltung der stalinistischen Gesellschaft zum menschlichen Sozialismus. Es herrschte das Gefühl, »das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«. Nicht alle Akteure des Herbstes, und die bald auftauchenden Anschlussforderer ganz bestimmt nicht, haben sich als »revolutionär« empfunden; zu behaupten, »es war eine sehr kurze Revolution ohne Revolutionäre«, läuft jedoch darauf hinaus, Geschichte geschehe ohne Subjekte.

Allein die Beseitigung der Herrschaft der Politbürokratie als »Revolution« zu werten, geht daran vorbei, dass Revolutionen Ablösungen sind. Auf die Entmachtung der SED-Funktionärskaste und Durchsetzung wie Selbstgewährung einiger zivilgesellschaftlicher Freiheiten hätten Volkskammer und Staat sozialistisches Gemeinwohl und Rechtsstaatlichkeit mit demokratischen Mitteln gewährleisten müssen. Der Vereinigungswille zwang sie in Rückzugsgefechte. Es folgte die schrittweise Etablierung westdeutscher Verhältnisse.

Verloren, enteignet und gestohlen

Der herbstliche Versuch eines demokratischen Sozialismus ähnelt dem Selbstverständnis der französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen. Er kam über Forderungen und Losungen nicht hinaus. Heroische Illusionen sind nicht wertlos, nur sollte man sie nicht mit Ergebnissen verwechseln. Was er leistete war, den Weg frei zu machen für den Kapitalismus. Dafür ist im Sommer 89 niemand angetreten und trotzdem ist es dazu gekommen.

Die »Revolution« einzig mit dem Sturz der SED-Herrschaft zu identifizieren, löst eine Etappe aus dem Gesamtprozess heraus. Würde man so an die französische Revolution herangehen, wäre sie dadurch charakterisiert, den Feudalismus beseitigt zu haben. Typisch für diese Sicht sind Klagen, die »Revolution« sei »steckengeblieben«, sie wurde »abgebrochen«, sie ist der Linken »verlorengegangen«, wurde ihr von der »nationalen Restauration« »gestohlen« bzw. »enteignet«; der »revolutionäre Impuls« wurde »im Ergebnis der ›Mauer-

öffnung‹ ... seines ursprünglichen Gehalts beraubt und in Richtung Anschluss um- und zurückgelenkt«.

»Das Wahre ist das Ganze.« (Hegel, »Phänomenologie des Geistes«) Die geschichtliche Wahrheit des »Ganzen« ist, dass die DDR »aufgehoben« wurde in fünf neue Bundesländer (»Neufünfland«). Dazu bedurfte es einer Entmachtung. Machtverlust und Machtgewinn sind in einem gesellschaftlichen Umbruch ein Vorgang. Im Winter 89/90 war die westliche Hegemonie in den Köpfen der Ostdeutschen die Macht, welche die noch bestehende DDR-Staatlichkeit ignorierte und die sozialistische Orientierung einer Minderheit dominierte.

Deshalb kommt die Einschätzung, es erfolgte der Wechsel von einer »Revolution von unten« zu einer »Revolution von oben«, der Sache näher. Die »Revolution von unten« trat an als antistalinistische sozialistische Revolution, sie wurde übergeleitet in eine bürgerliche Revolution. Das geschah nicht »von«, sondern »für« oben: Ohne die Anschlussbewegung hätten die westdeutschen Oberen nichts ausrichten können.

Abgebrochen und abgetrieben

1989/90 kehrte die Aufeinanderfolge der Ereignisse von 1917 um: Der Aufbruch zum Sozialismus führte zur Verbürgerlichung. So wenig, wie hinsichtlich 1917 davon gesprochen wird, die bürgerliche Revolution sei »abgebrochen«, »gestohlen« oder »abgetrieben« worden, so wenig kann 1989/90 davon hinsichtlich der sozialistischen Revolution die Rede sein.

Die Katerstimmung ist kein Beitrag zur Analyse des Übergangs der ersten in die zweite Revolution. Sie will die »Dialektik der Geschichte« nicht wahrhaben, vielleicht begreift sie sie nicht. Stattdessen werden Schuldige gesucht – »Diebe«, »Imperialisten« und »einheimische Reaktionäre«. Besser hätte es Erich Mielke nicht formulieren können.

Die bürgerliche Revolution hat den Osten in die Arena gepeitscht, wo der Kampf um zivilgesellschaftliche Verhältnisse ausgetragen wird – Verhältnisse, die bei aller ihrer Widersprüchlichkeit letztendlich die elementare Voraussetzung sind für eine sozialistische Zukunftsgesellschaft. Ohne diese Voraussetzung erstarrt jeder sozialistische Versuch zu einem administrativen System, welches den Keim seines Scheiterns in sich trägt.

Den Herbst 89 als »friedliche Revolution« zu bezeichnen bzw. der gegenteiligen Ansicht zu sein, es habe keine Revolution stattgefunden, weil der Verlauf gewaltfrei war, reduziert den Umbruchsprozess auf die Form seines Verlaufs. Zweifellos war die für die Beteiligten von existenzieller Bedeutung im wahren Wortsinn; auch wusste keiner, auf welche Weise der »Gefühlsstau« der Massen sich Luft machen würde. Worauf es bei der Bewertung von Revolutionen jedoch wirklich ankommt, ist deren sozial-ökonomischer und politischer Charakter, der vom Syntagma »friedliche Revolution« ausgeblendet wird.

Marx hat Recht behalten: »Aber innerhalb der bürgerlichen, auf dem Tauschwert beruhenden Gesellschaft erzeugen sich sowohl Verkehrs- als Produktionsverhältnisse, die ebenso viele Minen sind, um sie zu sprengen. (Eine Masse gegensätzlicher Formen der gesellschaftlichen Einheit, deren gegensätzlicher Charakter jedoch nie durch stille Metamorphose zu sprengen ist. Andrerseits, wenn wir nicht in der Gesellschaft, wie sie ist, die materiellen Produktionsbedingungen und ihnen entsprechenden Verkehrsverhältnisse für eine klassenlose Gesellschaft verhüllt vorfänden, wären alle Sprengversuche Donquichoterie.)«

Unser Autor Dr. Thomas Marxhausen war von 1988 bis 1990 Gastprofessor für Politische Ökonomie an der Universität Aden, Hauptstadt der damaligen Volksdemokratischen Republik Jemen (VDRJ); er kehrte am 1. Juli 1990, dem Tag der Währungsunion der DDR mit der BRD, nach Halle/Saale zurück.
Ausführlicher widmet sich Marxhausen dem Thema im jetzt erschienenen Heft 16 der »Philosophischen Gespräche« (64 S., br., 3 ¤) des Vereins Helle Panke; zu beziehen über den Verein, Kopenhagener Str. 76, 10437 Berlin, Tel: 030/47 53 87 24.

Bereits im ND vom 1.11.2008, S. 22, schrieb Thomas Marxhausen zum Thema:

Die guten und die schlechten Seiten. Was würde Karl Marx zur heutigen Geschichtsdebatte sagen?

Das Halali der CDU zur heiligen Hetzjagd gegen die »Verklärung« der DDR lässt ahnen, was im Wahl- und Jubeljahr des Mauerfalls auf uns zukommt. Allerdings ist das weder neu noch verwunderlich. Die den unbelehrbaren Ostdeutschen erneut angedrohte Hirnwäsche ist seit 1989/90 im Gange. Sie ordnet sich in den schon 160 Jahre laufenden Exorzismus jenes »Gespenstes« ein, welches die »Kopflanger« (Brecht) der Herrschenden als Kommunismus, Marxismus, Sozialismus, Bolschewismus, Leninismus oder Stalinismus klassifizieren. Zur Sicherung von Eigentums-, Macht und Verteilungsverhältnissen gehört die Herrschaft in den Köpfen. Die Einschrumpfung der DDR auf »Unrechtsstaat« und »SED-Diktatur« ist, in Engels’ Terminologie, »politischer« und »theoretischer Klassenkampf«. DIE LINKE sollte sich, gerade wegen des Offizialverdikts dieses Begriffes, nicht scheuen, ihn zu verwenden.

Was war die DDR? Welche Lebensqualität hatte sie? Für jeden, der dabei war, eine andere. So individuell, wie das Land, der Staat, die Zeit erlebt wurden, sind Rückblicke und Wertungen. Che Guevera forderte die Überlebenden des kubanischen Revolutionskrieges auf, ihre Erinnerungen niederzuschreiben, »damit sie in die Geschichte eingehen und diese so ein besseres und vollständigeres Bild ergibt ... Wir bitten, dass jeder ... sich einer möglichst strengen Selbstkritik unterzieht, um jedes Wort zu streichen, das sich nicht auf eine ganz zuverlässig gesicherte Tatsache bezieht oder dessen Wahrheitsgehalt der Autor nicht voll vertraut.« Das ist einfacher appelliert als gemacht. Die Summe persönlicher Erinnerungen schlägt nicht um in ein »gültiges« oder gar »endgültiges« Geschichtsbild; die von Che angemahnte Selbstkritik stößt auf die Selbstachtung: »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.« (Nietzsche)

Und die professionelle Geschichtsschreibung? Leopold von Ranke eröffnet seine »Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535« mit der Erklärung, er wolle »zeigen, wie es eigentlich gewesen ist«. Dass das unmöglich ist, konnte er nicht wissen. Lothar Bisky äußerte in der »Mitteldeutschen Zeitung« (27.9.08): »Geschichte ist mehr als Parteipolitik. Ich rate Politikern aller Parteien, die Historiker ernst zu nehmen. Ein guter Historiker belegt, was er sagt.« Das hat Ranke getan. Das tuen die bezahlten Birthlerianer. Wer oder was wählt Akten, Vorgänge, Geschehnisse und Unterlassungen aus? Letztlich, »in letzter Instanz«, eigene und bis zur Bewusstlosigkeit verinnerlichte wie von Auftrag- und Geldgebern vertretene Interessen.

Es ist verständlich, dass den massenmedial ausgeschlachteten »Misslungenschaften« der DDR erlebte bzw. erinnerte »Errungenschaften« entgegengehalten werden. Der Wettstreit, wer mehr Pfunde auf seine Waagschale bringt, erinnert an den französischen Sozialisten Proudhon, von dem Marx im »Elend der Philosophie« sagt: »Für Herrn Proudhon hat jede ökonomische Kategorie zwei Seiten, eine gute und eine schlechte. Er betrachtet die Kategorien, wie der Spießbürger die großen Männer der Geschichte betrachtet: Napoleon ist ein großer Mann, er hat viel Gutes getan, er hat auch viel Schlechtes getan ... Zu lösendes Problem: Die gute Seite bewahren und die schlechte beseitigen«. Es ist nicht zu lösen. In einem »Gesellschaftskörper« existieren »alle Beziehungen gleichzeitig« und »stützen« einander. »So wie man sich nur das Problem stellt, die schlechte Seite auszumerzen, schneidet man die dialektische Bewegung entzwei.«

Das gilt auch für den Blick zurück. Die Verabsolutierung einer »Seite« zerhackstückelt das Ganze, die gesellschaftliche Lebensqualität. Die »guten Seiten« der DDR waren ohne ihre »schlechten« nicht zu haben. Zum sicheren Arbeitsplatz gehörte die der Sicherheit zugängliche Kaderakte, das Wohnungsbauprogramm gab die Altstädte dem Verfall preis, liebevolle Krippetanten organisierten disziplinierendes »Topfen«. Selbst die penibelste Auswertung von Dokumenten und Berichten der Zeitzeugen bringt nicht mehr zustande als eine Geschichte, wie sie gewesen sein soll.

»Verklärung« der DDR ist ursächlich die Reaktion auf verlorene Bodenhaftung. Die Einforderung sozialer Sicherheiten mittels des Verweises auf frühere »Errungenschaften« trägt nicht weit. Was organischer Bestandteil einer anderen Gesellschaft war, kann nicht entnommen und ins Bestehende transplantiert werden. Die bürgerliche Gesellschaft reklamiert, Hort der Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Chancengleichheit zu sein. Nehmen wir sie beim Wort!

Prof. Dr. Thomas Marxhausen arbeitete bis 1990 an der MEGA mit.

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