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Heft 102: Aufeinander zu reformiert?

Zur Charakteristik der Wirtschaftsreformen in der DDR und der BRD und die Entscheidungen des Jahres 1966

Von: Jörg Roesler

Heft 102: Aufeinander zu reformiert?

Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 102, 2006, 36 S., A5, 3 Euro plus Versand

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Reihe "hefte zur ddr-geschichte", Heft 102, 2006, 36 S., A5, 3 Euro plus Versand

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INHALT

1. Herausbildung konträrer Wirtschaftssysteme in der DDR und der BRD in den 50er Jahren
2. Die Wirtschaftsreformen der 60er Jahre in DDR und BRD
3. Die Bedeutung des Jahres 1966 für die Wirtschaftsreform in der Bundesrepublik
4. Die Bedeutung des Jahres 1966 für die Wirtschaftsreform in der DDR
5. Das wirtschaftspragmatische Anliegen der Reformen in der DDR und der Bundesrepublik
6. Gab es ein wirtschaftsstrategisches Anliegen in Richtung „Dritter Weg“ oder der Konversion zum anderen Wirtschaftssystem?
7. Wirtschaftsreformen und Aufbruchstimmung. Gab es ein gesellschaftspolitisches Anliegen der Wirtschaftsreformen?
8. Fazit

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LESEPROBE

1. Herausbildung konträrer Wirtschaftssysteme in der DDR und der BRD
in den 50er Jahren

Im Osten Deutschlands wurde die Planwirtschaft als Wirtschaftsordnung propagiert, die die Gebrechen, unter der die deutsche Wirtschaft im krisenhaften letzten halben Jahrhundert gelitten hatte und die Resultat des freien Wirkens der Kräfte des Marktes gewesen sei, ein für alle mal beseitigen könne. Wer sich für die Marktwirtschaft entscheide, argumentierte Fritz Selbmann schon 1947 in öffentlichen Vorträgen, „entscheidet sich auch für die ständige Wiederkehr kapitalistischer Krisen, das heißt für die kapitalistische Anarchie“.[1] Der freien Marktwirtschaft wurde von Selbmann und anderen führenden SED-Wirtschaftsfunktionären – zumindest für die Lösung der Aufgaben von Gegenwart und Zukunft – jede Erfolgsmöglichkeit abgesprochen. Zukunftsfähig sei allein ihr Antipode, die Planwirtschaft. Jede Wirtschaft, die nicht geplant werde, „sei ein Zurückfallen in das Spiel der privaten Interessen, von Egoismus der einzelnen und einzelner Gruppen, bedeutet Fehlleitung großer wirtschaftlicher Werte und bedeutet Verlust wirtschaftlichen Kapitals“.[2]

Der Umbau der ostdeutschen Volkswirtschaft zur zentralistisch und administrativ gelenkten Planwirtschaft setzte 1948 ein. Aber erst im August 1952 wurde die Institution der „Zusatzpläne“ aufgehoben, mit deren Hilfe bis dahin vom eigentlichen Plan nicht erfasste Kapazitäten nachträglich in die Produktionsplanung einbezogen werden konnten. Das war zwar nicht die von Selbmann geforderte Planung „bis zur letzten Maschine, bis zur letzten Produktionseinheit der volkseigenen Industrie“[3], aber die „Schlüsselliste“, das wichtigste Instrument detaillierter Planung, enthielt 1952/53 immerhin ca. 2.700 Einzelpositionen.[4]

Völlig anderer Meinung war man im Westen Deutschlands. In der Bundesrepublik ließ der führende Wirtschaftspolitiker, Ludwig Erhard, keinen Zweifel daran, dass die Planwirtschaft der DDR mit Wirtschaften eigentlich nichts zu tun habe. Er sprach 1953 von einer „völlig verzerrten Zwangswirtschaft“ und von „Wirtschaftsterror“ in der Ostzone.[5] Nur vom Ton her gemäßigt charakterisierten führende westdeutsche Wirtschaftswissenschaftler, Ordoliberale der Freiburger Schule wie etwa Karl P. Hensel, die Planwirtschaft in der DDR als Befehlswirtschaft und präsentierten die Marktwirtschaft als „freiheitlich-demokratisches Gegenstück zur totalitär-antidemokratischen Zentralverwaltungswirtschaft“[6]. Abgesehen von der Freiheit-Knechtschafts-Argumentation wurde die Zentralverwaltungswirtschaft – wiederum als Antipode zur Markt- oder Verkehrswirtschaft gedacht – als von Grund auf ineffektiv bezeichnet. “Nie würde es möglich sein, dass mit ihrer Hilfe ein effizientes Wirtschaften gewährleistet werden könne“, da die Ursache der Ineffizienz in der "Planung mit Staatseigentum an den Produktionsmitteln zu suchen ist“.[7]

Jede Seite war also von der Ineffizienz des jeweils anderen ordnungspolitischen Systems überzeugt und gab sich hinsichtlich des Sieges seines Systems betont zuversichtlich. „Wir werden sehen, wer stärker ist“, hieß es bei Fritz Selbmann, „die geplante volkseigene Industrie oder die nicht geplante freie Marktwirtschaft. Denn der Kampf zwischen freier Wirtschaft und geplanter volkseigener Industrie wird sich in der Praxis vollziehen.“[8] Hinsichtlich des Ergebnisses des Wettkampfes war Selbmann zuversichtlich: „Natürlich ist die geplante Wirtschaft stärker, natürlich werden die Dinge dort, wo sie der Mensch mit seiner Vernunft anpackt, besser vorwärts kommen.“[9]

Ebenso wie der erste Industrieminister der DDR ging der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik, Ludwig Erhard, vom baldigen Zusammenbruch des anderen wirtschaftlichen Systems aus und sorgte im Anfang 1952 gegründeten „Forschungsbeirat für die Wiedervereinigung Deutschlands“ dafür, dass die ordnungspolitischen Konzepte zur „Wiederherstellung einer im Grundsatz marktwirtschaftlichen Ordnung“ in Ostdeutschland Vorrang vor allen anderen wirtschaftspolitischen Überlegungen im Beirat erhielten.[10]

Die Auffassung von der Unvereinbarkeit der beiden Wirtschaftssysteme, die u.a. bedeutete, das systemfremde, markt- bzw. planwirtschaftliche Elemente im jeweiligen Wirtschaftssystem soweit wie möglich zurückzudrängen, befand sich in Übereinstimmung mit der herrschenden Totalitarismusdoktrin. Nach ihr standen sich im Bereich der Politik zwei Herrschaftssysteme, Demokratie und Diktatur, genau so unversöhnlich gegenüber, wie im Bereich der Ökonomie Planwirtschaft und Marktwirtschaft. Walter Eucken, der führende ordoliberale Theoretiker der Bundesrepublik, sprach von einer „Interdependenz der Ordnungen“. Es sei unmöglich, so Eucken, dass eine Gesellschaft im wirtschaftlichen Bereich andere Ordnungskonzepte verfolge als in der Politik. Demokratie und freie Wirtschaft bildeten für ihn eine ebenso unzertrennliche Einheit wie zentralistische Planwirtschaft und Diktatur.[11]

[1] Selbmann, Fritz, Demokratische Wirtschaft. Drei Vorträge, Dresden 1948, S. 86.
[2] Selbmann, Fritz, Reden und Tagebuchblätter 1933–1947, Dresden 1947, S. 110 f.
[3] Selbmann 1948, S. 109.
[4] Roesler, Jörg, Die Herausbildung der sozialistischen Planwirtschaft in der DDR, Berlin 1978, S. 48, 51 f., 154.
[5] Ludwig Erhard in der „Zeit“ v. 10.9.1953, zitiert in: Roth, Karl-Heinz, Anschließen, angleichen, abwickeln. Die westdeutschen Planungen zur Übernahme der DDR 1952–1970, Hamburg 2000, S. 137.
[6] Ambrosius, Gerold, Die Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945–1949, Stuttgart 1977, S. 210.
[7] Hensel, Karl P., Zentralverwaltungswirtschaft. Wirtschaftordnungen staatlicher Planung, Hannover 1966, S. 50.
[8] Selbmann 1948, S. 109.
[9] Ebd.
[10] Roth 2000, S. 56.
[11] Vgl. Eucken, Walter, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Bern 1952, S. 295.

  • Preis: 4.00 €