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Heft 238: Zwischen Inflation und Rezession

Die Europäische Zentralbank (EZB) im Dilemma zwischen Inflationsbekämpfung und Stabilisierung der EURO-Zone

Von: Ulrich Busch

Heft 238: Zwischen Inflation und Rezession

Reihe "Pankower Vorträge, Nr. 238, 2022, 56 S.

Die vorliegende Publikation enthält den überarbeiteten verschriftlichten Vortrag des Autors vom 2. September 2022, gehalten in der „Hellen Panke“, Kopenhagener Str. 9, 10437 Berlin.       

Autor: Ulrich Busch, Dr. oec. habil., Bankkaufmann, Finanzwissenschaftler, Hochschullehrer, Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V., bis 2010 Dozent für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin, der TU Berlin sowie der Frankfurt School of Finance & Management in Frankfurt am Main, Redakteur des sozial- und geisteswissenschaftlichen Journals Berliner Debatte Initial, Mitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik e.V., Herausgeber und Autor zahlreicher Arbeiten zur Wirtschaftstheorie und -politik sowie zur deutschen Vereinigung und Entwicklung Ostdeutschlands.

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     Inhalt                         

1. Einleitung
2. Begrifflichkeit und theoretische Erklärungsansätze
3. Exkurs: Inflation als historisches Phänomen
4. Voraussetzungen und Bedingungen für Inflation
5. Inflation als konjunkturelles Phänomen
6. Inflation als psychologisches Phänomen
7. Ziele und Aufgaben der Geldpolitik
8. Operationalisierung und Instrumentarium der Geldpolitik
9. Eine neue Ära der Geldpolitik
10. Die Europäische Zentralbank und die Dilemmata der Geldpolitik

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1. Einleitung       

Gegenwärtig vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht in Funk und Fernsehen, in der Presse und in den sozialen Medien über die Preisentwicklung in Deutschland, im Euroraum, in den Ländern der Europäischen Union und in der Welt informiert werden. Steigende Preise und Inflationsraten sind neben dem Krieg in der Ukraine und der Corona-Pandemie das große Thema unserer Zeit. Allerdings scheinen sich hier ganz unterschiedliche ökonomische und politische Entwicklungen zu überlagern, über deren Zusammenhänge und Auswirkungen einigermaßen Unklarheit besteht: die Geldpolitik nach der großen Finanzkrise von 2007/08, die Corona-Krise und deren Folgen seit 2020 und nun auch noch der Krieg in der Ukraine und die gegen Russland verhängten Sanktionen. Über all das wird in den Medien ausführlich berichtet, aber nicht immer genügen die Darstellungen den Maßstäben journalistischer Sachlichkeit und sind sie dem Gegenstand angemessen. Vielmehr herrscht hier oftmals ein alarmistischer, die Lage bewusst dramatisierender und hysterischer Ton vor, wird maßlos übertrieben oder werden Tatsachen verzerrt wiedergegeben. Dies gilt insbesondere auch für die Ursachen der Preisentwicklung, welche häufig nicht korrekt benannt werden und bei deren Behandlung nicht selten in denunziatorischer Art und Weise argumentiert wird.

So erscheint die Inflation, die jahrelang, insbesondere seit der Einführung des Euro, in Deutschland und in Europa kaum mehr ein Thema war, angesichts der jüngsten Entwicklung in den Medien wieder als Bedrohung und Angstfaktor. Und die Europäische Zentralbank (EZB) wird, indem sie für die Inflation mitverantwortlich gemacht wird, als Enteignungs- und Vernichtungsmaschine für die Ersparnisse und Geldvermögen der Bürgerinnen und Bürger vorgeführt. Zudem wird in Nachrichten, Medienberichten und Kommentaren seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine diesem die Hauptverantwortung für die anhaltende Teuerung zugeschrieben. Aber stimmt das überhaupt?

Um mit diesem Thema beim Publikum Aufmerksamkeit zu erheischen, ist in Bezug auf die aktuelle Preisentwicklung mitunter von „Super-Inflation“, „Mega-Preissteigerungen“ und „Hyperinflation“ die Rede.[1] Dies alles verunsichert die Menschen, weckt böse Erinnerungen und schürt Ängste und besorgniserregende Erwartungen in Hinblick auf die Zukunft. Aber entspricht eine solche Darstellung tatsächlich den Fakten oder wird dadurch nicht die Realität allzu sehr verzerrt? Und erscheinen in einer solchen Lagebeschreibung nicht die Ursachen der Teuerung und die Handlungsoptionen der Zentralbank einseitig bis unzutreffend? Diese und weitere, sich hieran anschließende Fragen sollen in vorliegender Publikation erörtert und diskutiert werden. Dafür ist es unabdingbar, ein paar statistische Daten zu betrachten und die Faktenlage genau zu analysieren. Ferner sind die Politik der Europäischen Zentralbank und die konkreten Rahmenbedingungen für deren Umsetzung näher ins Auge zu fassen. Hilfreich ist es auch, sich zu vergegenwärtigen, was der Begriff „Inflation“ genau beinhaltet und was ihn von anderen Termini, zum Beispiel dem der „Teuerung“, unterscheidet. Schließlich sind die Maßnahmen und Instrumente zu eruieren, über welche eine Zentralbank verfügt und die sie einsetzen kann, um die Inflation zu zügeln und die Stabilität der Währung zu sichern.

Zunächst einige Fakten: Tatsache ist, dass die Preise in Deutschland und im Euroraum seit dem letzten Sommer spürbar zugelegt haben. Der jährliche Anstieg des Preisniveaus (HVPI) betrug in Deutschland im Mai 2022 8,7 Prozent, im Juni und im Juli je 8,2 Prozent. Im Euroraum waren es im Mai 8,1 Prozent, im Juni 8,6 und im Juli 8,9 Prozent.[2] Diese Entwicklung stellt gegenüber den Vorjahren, als die Preise nur unwesentlich stiegen, eine beachtliche und ziemlich abrupte Veränderung dar. Der Harmonisierte Verbraucherpreisindex (HVPI) – als Maßstab für die Preisentwicklung und damit als Grundlage für die vergleichbare Messung der Inflation und die Bewertung der Geldwertstabilität in der Eurozone – verzeichnete für Deutschland in den Jahren 2013 bis 2020 durchweg Werte von unter zwei Prozent. Noch 2021 lag die Inflationsrate in Deutschland bei 3,1 und im Euroraum bei 2,6 Prozent. Im ersten Halbjahr 2022 dagegen betrug sie durchschnittlich 7,1 Prozent bzw. 7,2 Prozent. Der Vergleich dieser Daten macht das Ausmaß der Veränderung deutlich. Die Daten belegen aber auch, dass es für die EZB bis zum Frühjahr 2022 nicht den geringsten Anlass gab, geldpolitisch zu reagieren: Der Dreijahresdurchschnitt der Teuerung lag 2019 bis 2021 im Euroraum bei 1,4 Prozent, also signifikant niedriger als das angestrebte Inflationsziel von zwei Prozent. Zudem gilt es in Rechnung zu stellen, dass eine frühzeitige Anhebung der Leitzinsen restriktive Auswirkungen auf das Investitionsgeschehen in den Euro-Staaten gehabt hätte und hoch verschuldete Staaten in Liquiditätsprobleme gebracht hätte. Es ist daher nur logisch, dass die EZB zunächst abwartete und nicht aktiv wurde.

Im ersten Halbjahr 2022 hat sich die Situation jedoch gründlich gewandelt. Die Daten für die Preisentwicklung signalisieren nunmehr einen geldpolitischen Handlungsbedarf. Dies gilt selbst dann, wenn es zweifelhaft erscheint, dass die Preisentwicklung durch geldpolitische Maßnahmen beeinflusst werden könnte. Und dies scheint tatsächlich so zu sein, denn der beschleunigte und äußerst differenzierte Preisniveauanstieg der letzten Monate wurde ganz überwiegend von den Energie-, Rohstoff- und Lebensmittelpreisen bestimmt. Er war folglich kein Reflex einer überhitzten Konjunktur, exorbitanter Lohnsteigerungen oder gestiegener Staatsausgaben, sondern ist auf angebotsseitige Faktoren, auf Kostensteigerungen, Lieferengpässe, logistische Probleme, Sanktionen und ein gewachsenes Spekulationsverhalten der Anbieter zurückzuführen. Damit stellt sich die Frage, ob die Geldpolitik hierauf überhaupt Einfluss ausüben kann. Und wenn nicht, welche Wirkungen hätten geldpolitische Maßnahmen dann für die Konjunktur?

Bekämpfte die EZB bis 2020 noch die drohende Deflation, so machte die Teuerung im Euroraum Mitte 2022 eine Wende in der Geldpolitik unumgänglich. Ob diese hier jedoch etwas ausrichten kann, steht auf einem anderen Blatt. Möglicherweise sind die Erwartungen, die in die EZB und deren Geldpolitik gesetzt werden, gänzlich unrealistisch. Vielleicht aber ist es auch zu unpräzise, in Bezug auf die aktuelle Teuerungswelle von einer „Inflation“ zu sprechen, denn die „vielen einleuchtende Gleichsetzung von Preissteigerung und Inflation“ ist ökonomisch „falsch“[3], auf jeden Fall aber populistisch, da vereinfachend und irreführend. Es bleibt daher abzuwarten, welches die Wirkungen der im Juli 2022 eingeleiteten Zinswende sein werden. Wahrscheinlich wird sich die Teuerung dadurch nicht eindämmen lassen. Es ist aber gut möglich, dass sie im Zeitverlauf trotzdem zurückgeht, aber aus anderen Gründen. Auch wenn die eingeleiteten geldpolitischen Maßnahmen diesbezüglich mehr oder weniger wirkungslos bleiben sollten, so heißt das nicht, dass sie überhaupt keine Wirkungen hätten. So kann insbesondere nicht ausgeschlossen werden, dass die mit der Leitzinsanhebung verbundene Verteuerung kreditfinanzierter Investitionen in eine Rezession führt. Zudem wächst in der Europäischen Union die Gefahr einer neuen Währungskrise, da ökonomisch schwache und hoch verschuldete Staaten nun zusätzlich in Schwierigkeiten geraten könnten. Ein weiterer Aspekt betrifft den ökologischen Umbau der Wirtschaft und die dafür erforderlichen Investitionen. Es ist eine offene Frage, wie sich die neue Geldpolitik hierauf auswirken wird.

 

[1]  Vgl. Mechthild Schrooten: Inflation und Inflationsangst, in: Geldpolitik.

   Aus Politik und Zeitgeschichte 72 (2022) 18–19, S. 25–31.

[2]  Quelle:

    https://ec.europa.eu/eurostat/de/web/products- da tasets/product?code=tec00118

[3]  Klaus Müller: Geld. Von den Anfängen bis heute, Freiburg 2015, S. 406.

  • Preis: 4.00 €
  • 1 Seiten
  • Erscheinungsjahr: 2022