Publikationen

Suchmaske
Suche schließen

Heft 232: Reise in die Zukunft

Berichte Deutscher über ihre Fahrten in die Sowjetunion 1946 bis 1955 -- Analyse -Teil II

Von: Wladislaw Hedeler

Heft 232: Reise in die Zukunft

 

 Die Hefte PV 231 und PV 232 präsentieren drei Analysen zu Reiseberichten von Deutschen, die in die Sowjetunion allein oder als Mitglied von Reisegruppen bzw. Delegationen in den 1920er und 1930er Jahren sowie nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1946 bis 1955 reisten. Teil I enthält die Beiträge zu den 1920er und 1930er Jahren, Teil II zur Nachkriegszeit.
-------------------------------------------------------------------------------------------

Autor (Heft 232)
Wladislaw Hedeler , Dr. phil., Historiker und Publizist, Berlin

-------------------------------------------------------------------------------------------------------

INHALT 

Heft 232
Wladislaw Hedeler
Reise in die Zukunft
Berichte Deutscher über ihre Fahrten in die Sowjetunion
1946 bis1955  
Tabelle 
mit näheren Angaben zu den Reisenden

-------------------------------------------------------------------------------------
LESEPROBE
        

Wladislaw Hedeler

Reise in die Zukunft
Berichte Deutscher über ihre Fahrten in die Sowjetunion 1946 bis 1955

 „Auch für den, der zum erstenmal in die
Sowjetunion reist, ist es keine Reise ins
Unbekannte. Oder er müsste nicht von
dieser Welt sein.“ (Rilla 1955: 15)

„Vielmehr verhielt es sich so, dass mein Bild
des sowjetischen Lebens, das bislang nur aus
theoretischen Konstruktionen bestanden hatte,
sich durch Reiseeindrücke mit Fleisch und Blut
füllte – aber die Grundkonstruktion, das
Prinzipielle blieb gültig.“ (Harich 1948)

Es mangelt nicht an Untersuchungen der in den 1920er und 1930er Jahren verfassten Berichte von Russlandreisenden, unter ihnen Schriftsteller, Mitglieder von Arbeiterdelegationen, vor dem Naziterror geflohene Politemigranten oder zur Arbeit in der UdSSR angeworbene Facharbeiter. Viele dieser Texte sind neu aufgelegt und mit ausführlichen Kommentaren versehen. (Shurawljow 2003; Oberloskamp 2011; Hartmann 2017) Hinzu kommen die von Kindern aus dem Nachlass ihrer Eltern veröffentlichten Berichte über Verfolgung, Verbannung oder Lagerhaft (Lochthofen 2012; Friedmann-Wolf 2013; Hamburger 2013) sowie Ausstellungen zum Thema Exil. (Hedeler; Koenen 2013; Fischer-Defoy 2012)

Von einer vergleichbar umfangreichen und gründlichen Untersuchung der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wiederbelebten Praxis, in die Sowjetunion zu reisen, kann keine Rede sein. (Hartmann; Eggeling 1998) Die Recherchen erschwerend kommt hinzu, dass diese für die eigene Entwicklung wichtigen Reisen weder in den Memoiren der „Reisekader“ noch in den von deren Biographen verfassten Skizzen oder Porträts eine adäquate Widerspiegelung erfahren haben. (Hoffmann 1991; Florath 2016; Steinitz; Kaschuba 2006; Leo 2005; Kaiser 1985; Fühmann 1998)

In der reichhaltigen Fachliteratur zum Thema Nachkriegsjahre in Deutschland, der SBZ bzw. der DDR finden sich kaum Hinweise auf die rege Reisetätigkeit. Und das obgleich festgestellt wird, dass die „Intensität, der Ressourcenaufwand und die Kontrolldichte, mit der die sowjetische Verwaltung nichts unversucht ließ, eine sowjetische reeducation der deutschen Bevölkerung und vor allem das ‚Schmieden‘ von Kadern zu bewerkstelligen“, beeindruckt. „Es ging nicht einfach um Gehorsam gegen die neuen Herren – das hätte sich im Interesse der Ausbeutung der ökonomischen Ressourcen effizienter mit bürgerlichen Kräften erreichen lassen –, sondern um die innere Verankerung, kurz die Internalisierung der neuen sowjetischen Ordnung auf deutschem Boden.“ (Beyrau 2004: VIII)

Unter den 94 VerfasserInnen der im vorliegenden Beitrag ausgewerteten Reiseberichte sind u.a. Politiker wie Hans Loch, Wissenschaftler wie Wolfgang Harich, Wolfgang Steinitz und Robert Havemann, Schriftsteller wie Johannes R. Becher, Juri Brĕzan, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Stefan Heym und Peter Huchel, Architekten wie Kurt Liebknecht und Walter Pisternik, Theologen wie Emil Fuchs und Martin Niemöller. Zu den mit Blick auf das politische und kulturelle Leben in der DDR bekanntesten Frauen unter den Reisenden gehören Emmy Koenen, Frida Rubiner, Anna Seghers, Inge von Wangenheim und Hedda Zinner.

An den 32 von 1946 bis 1955 durchgeführten Gruppenreisen nahmen nachweislich 156 in den publizierten Berichten namentlich genannte Personen (123 Männer und 33 Frauen, siehe die Tabelle im Anhang) aus Deutschland, der SBZ bzw. der DDR teil. 77 Männer und 16 Frauen haben Reiseberichte veröffentlicht. Sie erschienen in Sammelbänden oder als Broschüren, denen im Regelfall Zeitungs- oder Zeitschriftenbeiträge zugrunde lagen. Neben Reisen für Erwachsene wurden auch Reisen für Kinder und Jugendliche organisiert. FDJ-Mitglieder und Thälmann-Pioniere fuhren nach Moskau und nach Artek am Schwarzen Meer. Hedda Zinner hat einige dieser, vor Stalins Tod verfassten Berichte bearbeitet und nach Stalins Tod herausgegeben. (Zinner 1953)

Im Vergleich zur Vorkriegszeit waren Individualreisen in den 1950er Jahren die Ausnahme. Regierungsmitglieder, wie z.B. Wilhelm Pieck, Präsident der DDR, oder Hans Loch, Finanzminister der DDR, Letzterer hat sehr viel und sehr ausführlich über seine Aufenthalte in der Sowjetunion geschrieben (Loch 1953–1958), konnten (oft mit Familie) zur Kur nach Barwicha bei Moskau oder nach Sotschi am Schwarzen Meer reisen. Stefan Heym schildert den mit seiner Frau Gertrude unternommenen Abstecher nach Kislowodsk. (Heym 1990: 612 f.) Von Alfred Kurella, der 1954 in die DDR zurückkehrte, stammen u.a. Berichte über seine noch als Sow-jetbürger unternommenen Ausflüge in den Kaukasus. (Kurella 1956) Kurella hat auch die Vorworte zu den als Reiseführer konzipierten und in den Jahren 1957 bis 1959 publizierten Bildbänden über den Kaukasus und die Hauptstädte Moskau und Leningrad verfasst.

Individualreisen waren – ebenso wie die in den 1970er/1980er Jahren von Jugendlichen praktizierten illegalen Reisen durch das Sowjetreich (Klauß; Böttcher 2012) – die Ausnahme von der Regel. Reisen mit dem Wartburg-Kombi vom Eismeer zum Schwarzen Meer (Bekier; Schmueckler 1959) blieben für die Automobilisten ein Wunschtraum. „Der interessierte Bürger, der nicht für Partei, Gewerkschaft, DSF oder ähnliche Institutionen aktiv und kein Bestarbeiter, Rationalisator etc. war, wurde nach wie vor nicht berücksichtigt.“ (Hartmann; Eggeling 1998: 273)

Zu den im Beitrag nicht ausgewerteten Überlieferungen gehören die von Österreichern oder Schweizern verfassten deutschsprachigen Berichte über ihre Reisen in die Sowjetunion, die Erinnerungen von Kriegsgefangenen sowie jene Publikationen, die ausschließlich das Exil in den 1920er/1930er Jahren zum Inhalt haben. Keine Berücksichtigung fanden ferner die in der SBZ/DDR veröffentlichten Übersetzungen von Reiseberichten aus dem Russischen (z.B. Michailow; Pokschischewski 1947) oder Englischen (z.B. Hardy 1953). Einen umfassenden Überblick über die von 1917 bis 1991 veröffentlichten Reiseberichte bietet die von Wolfgang Metzger erstellte Bibliographie (Metzger 1991: 99–132), die für die vorliegende Untersuchung ausgewertet worden ist.

  • Preis: 4.00 €