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Heft 231: Revolutions- und Utopietourismus in die Sowjetunion der 1920er/1930er Jahre

Teil 1 einer Analyse von Berichten Reisender aus Deutschland

Von: Thomas Möbius, Anna Sator

Heft 231: Revolutions- und Utopietourismus in die Sowjetunion der 1920er/1930er Jahre

Die Hefte PV 231 und PV 232 präsentieren drei Analysen zu Reiseberichten von Deutschen, die in die Sowjetunion allein oder als Mitglied von Reisegruppen bzw. Delegationen in den 1920er und 1930er Jahren sowie nach Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 bis 1955 reisten. Teil I enthält die Beiträge zu den 1920er und 1930er Jahren, Teil II zur Nachkriegszeit.

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Autorin und Autoren

Heft 231
Thomas Möbius, Dr., Literatur- und Sozialwissenschaftler, Berlin
Anna Sator, Doktorandin, Allgemeine und Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaften, Freiburg

Heft 232
Wladislaw Hedeler
Dr. phil., Historiker und Publizist, Berlin
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INHALT

 Heft 231
Thomas Möbius
Revolutions- und Utopietourismus
Sowjetunionreisende der 1920er und 1930er Jahre                                          

Anna Sator
Konstruktionen von Geschlecht und Kultur
in deutschsprachigen Reiseberichten über die frühe Sowjetunion              

Heft 232
Wladislaw Hedeler
Reise in die Zukunft

Analyse von Berichten Reisender aus Deutschland 
in die Sowjetunion 1946 bis 1955  
                                                            

Wladislaw Hedeler
Übersicht Reisen von Deutschen in die Sowjetunion 1945 bis 1955  
Tabelle    
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LESEPROBE

Thomas Möbius
 Revolutions- und Utopietourismus
Sowjetunionreisende der 1920er und 1930er Jahre

In  den 1920er und 1930er Jahren entwickelte sich eine Art „Revolutions- und Utopietourismus“ in die Sowjetunion. Man kam, um den Aufbau der neuen Gesellschaft zu besichtigen: Arbeiter- und Gewerkschaftsdelegationen, Intellektuelle, Künstler. Erich Kästner spottete 1930, der „ganze deutsche Dichterwald“ treffe sich in Russland. Rund tausend deutschsprachige Reiseberichte sind aus der Zeit überliefert. Nicht wenige von ihnen beschreiben das neue Russland als Utopie. Sie sind weniger als Reisereportagen zu lesen, sondern vielmehr Vergewisserung der mit der Revolution verbundenen Erwartungen und der Haltung zur Sowjetunion. Anhand einiger Reiseberichte wird der utopische Blick auf die Sowjetunion exemplarisch nachgezeichnet. 

Zum Einstieg zwei Bilder, die die Pole der westlichen Vorstellungen und Erwartungen über das revolutionäre Russland markieren. Bild eins aus der sowjetischen Filmkomödie „Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki“ von 1924 (Goskino, Regie: Lew Kuleschow), die die Klischees vom barbarischen Bolschewismus parodiert. Mr. West, Präsident der Young Men’s Christian Association, will die Sowjetunion besuchen. Freunde schicken ihm zur Warnung einige US-amerikanische Journale mit Schreckensbildern des kommunistischen Russlands: wilde Räuber, fellbehangen und mit Sichel als Kopfschmuck: „An Mr. West, Präsident der Yong Men’s Christian Association: Wir haben von Ihrer Absicht erfahren, das Land der Bolschewiki zu besuchen. Wir schicken Ihnen diese New Yorker Magazine, die einige Figuren aus dem gegenwärtigen barbarischen Russland zeigen. Wir empfehlen Ihnen, zu Ihrer Sicherheit einen Leibwächter und Waffen mitzunehmen.“[1] Kaum angekommen in Russland, wird Mr. West die Tasche mit den Zeitschriften gestohlen. Die Ganoven amüsieren sich über die Bilder. Sie entführen Mr. West, spielen ihm das Russland-Bild der Journale vor und versuchen, ein Lösegeld zu erpressen. Es geht selbstverständlich alles gut aus: Die Polizei befreit Mr. West und er lernt das richtige Russland kennen. Am Ende telegrafiert er nach Hause an seine Frau: „Liebe Madge, Grüße aus Sowjet-Russland. Verbrenne die New Yorker Magazine und hänge im Arbeitszimmer ein Porträt von Lenin auf. Lang leben die Bolschewiki! Dein John“ (h:min 1:15:00 ff.).

Bild zwei: Wer in den 1920er Jahren mit dem Zug in die Sowjetunion reiste, fuhr an der polnisch-russischen Grenzstation Negoreloe – in der Nähe von Stołpce, südwestlich von Minsk – durch einen mit Losungen versehenen hölzernen Torbogen, der sich über die Gleise spannte. Auf ihm standen anfangs die Losung aus dem „Kommunistischen Manifest“ „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ und „Der Kommunismus beseitigt alle Grenzen“, um 1928 änderte man die Aufschrift in: „Gruß den Werktätigen des Westens“. Hier war, so die Botschaft, nicht eine gewöhnliche Grenze, hier fuhr man in die neue Welt: in die Heimat des Proletariats, in die sozialistische Zukunft. In den Reiseberichten bildete der Torbogen mit den Losungen ein festes Motiv. Er wird in vielen Berichten erwähnt, z. B. in Kurt Kläbers „Fahrt nach Moskau“ (Linkskurve, 1931) und Ludwig Renns: „Russlandfahrten“ (1932); in französischen Reiseberichten wird er auch als Arc de Triomphe bezeichnet. Joseph Roth kommentiert bei seiner Reise 1929 die Grenzpassage mit: „Es scheint doch, daß hier nicht eine gewöhnliche Grenze ist zwischen Land und Land, sie will eine Grenze sein zwischen Welt und Welt.“[2] Die Frauenrechtlerin und Friedensaktivistin Helene Stöcker beschreibt im Bericht über ihre Reise zum zehnten Jahrestag der Revolution 1927 den Grenzübertritt emphatisch als Übertritt in die „wahre Menschenheimat“: „Es ist ein feierlicher Moment, als am Abend […] plötzlich aus dem Dunkel der Nacht der Sowjetstern als leuchtendes Fanal vor uns aufschimmert: ein Lichterbogen zur Begrüßung – das Zeichen: hier betreten wir den Boden einer neuen Welt. Im ganzen Zug wird bei diesem Anblick spontan die Internationale in den verschiedensten Sprachen angestimmt. Jungen Menschen, die diese Grenzüberschreitung zum ersten Mal erleben, entringt sich das Bekenntnis: es sei, als ob sie in ihre Heimat kämen.“[3]

Bücher über die Bolschewiki sind im Augenblick in Mode

In den 1920er und 1930er Jahren entwickelte sich ein regelrechter Revolutions- und Utopietourismus in die Sowjetunion. Man kam, um den Aufbau der neuen Gesellschaft zu besichtigen: Arbeiter- und Gewerkschaftsdelegationen, Intellektuelle, Künstler, politische Aktivisten aller Richtungen. Und die Journalisten natürlich. Es waren nicht nur sozialistische und kommunistische Kreise im engeren Sinne, es kamen viele linksliberale Intellektuelle und Künstler, die mit sozialistischen Ideen sympathisierten. Um einige wenige zu nennen: Walter Benjamin, Ernst Toller, Oskar Maria Graf, George Grosz, Helene Stöcker, die Psychoanalytiker Wilhelm Reich und Otto Fenichel, H. G. Wells, Bertrand Russel, Georg Bernhard Shaw, André Gide und Lion Feuchtwanger – der Skandal um deren Reiseberichte ist bekannt,[4] Sidney und Beatrice Webb, Fritz Schotthöfer von der „Frankfurter Zeitung“, Carmen Hertz-Finckenstein, Lenka von Koerber, die Berliner Malerin Jeanne Mammen.[5] Man ist wahrscheinlich schneller, wenn man diejenigen nennt, die nicht da waren. Erich Kästner spottete 1930 in einem Brief an seine Mutter aus Moskau, der „ganze deutsche Dichterwald“ treffe sich in Russland.[6]

Neben denen, die kürzer oder länger die Sowjetunion besuchten, kamen viele auch zum Arbeiten, die länger blieben. Gut dokumentiert ist das insbesondere für die Architekten, die sich am Bau der neuen Städte und Industriezentren beteiligten, z. B. die Gruppen um Ernst May und Hannes Meyer oder auch Werner Hebebrand – das ist ein eigenes Kapitel.[7] Weniger bekannt sind zum Teil jene, die aus individuellen politischen und persönlichen Gründen in die Sowjetunion gingen, wie etwa Karl Schmückle, der 1925 nach Moskau ans Marx-Engels-Institut ging und die deutsche Gruppe in der MEGA-Redaktion leitete,[8] und die Schriftstellerin und Medizinerin Angela Rohr, sie folgte 1925 ihrem Mann Wilhelm Rohr – er arbeitete ab 1925 ebenfalls in der MEGA-Redaktionsgruppe von Schmückle – in die Sowjetunion, sie war zunächst am Timirjasew-Institut

für Biologie tätig, später schrieb sie für die „Frankfurter Zeitung“.[9] Viele von ihnen wurden in den 1930er Jahren Opfer des Stalin`schen Terrors[10] und gerieten später in Vergessenheit.

Fast alle der Reisenden schrieben nach der Rückkehr über ihre Erfahrungen in der Sowjetunion: Reportagen in Zeitungen, als Buch oder in ihren Memoiren. Die Bibliographie von Metzger führt für den Zeitraum 1918 bis 1941 rund tausend deutschsprachige Reiseberichte auf. Der irische Schriftsteller Liam O’Flaherty – er hatte 1922 in Dublin die Irische Sowjet-Republik ausgerufen und reiste 1930 in die Sowjetunion – lästert in seinem Reisebericht (1931) über die Inflation an Reiseberichten, wer derzeit als Schriftsteller Geld verdienen wolle, fahre am besten in die Sowjetunion und schreibe ein Buch darüber: „Im Augenblick sind gerade zwei Arten von Büchern in Mode: Autobiographien und Bücher über die Bolschewiken.“(11)

Suche nach der Utopie

Der Polit-Tourismus der 1920er, 1930er Jahre und seine Reiseberichte sind umfangreich dokumentiert und untersucht.[12] Umstritten ist jedoch, wie sie zu werten sind. Vielfach werden die Reiseberichte als Dokumente eines „getäuschten“ oder „ideologischen“ Blicks oder als Propaganda gesehen. Ihnen sei mehr über die Erwartungen und politischen Haltungen der Reisenden zu entnehmen als über die Verhältnisse im neuen Russland. Das ist nicht falsch. Aber es verkürzt ihre Bedeutung. Die Reisen und Berichte in bzw. über die Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre lassen sich als eine Form des politisch-kulturellen Dialogs sehen, die im hohen Maße von utopischen Erwartungen und politischer Stellungnahme bestimmt ist. Jacques Derrida charakterisiert in diesem Sinne die Reiseberichte als spezifische Textgattung, die er in Anlehnung an André Gides „Zurück aus Sowjetrußland“ (1936) als Retour de l’U.R.S.S. bezeichnet: „In der Geschichte der menschlichen Kultur gibt es, soweit ich sehe, keinen Werktypus, der in gleicher Weise wie diese seit Oktober 1917 und bis vor kurzem geschriebenen Rückkehrerberichte aus der UdSSR mit einer einzigartigen und abgeschlossenen, irreversiblen und unwiederholbaren Etappe in einer politischer Geschichte zusammenhinge; und mit einer derartigen Etappe genau so verquickt wäre wie im Reise- oder Augenzeugen- oder autobiographischen Bericht selbst der Gehalt mit der Form, die Semantik beziehungsweise Thematik mit der Struktur.“[13]

Die Reiseberichte dienten einerseits dem Bedürfnis nach Informationen aus erster Hand über das neue, kommunistische Russland. Das Interesse daran war sichtlich groß, gerade in den ersten Jahren. Zu Alfons Goldschmidts Reisebericht „Moskau 1920“ heißt es, die erste Auflage von elftausend Exemplaren sei innerhalb weniger Tage vergriffen gewesen. Der Verleger Ernst Rowohlt schrieb Goldschmidt, die Käufer hätten vorm Verlag Schlange gestanden. Der Verlag hatte allerdings auch tüchtig Werbung gemacht, inklusive Vorabdruck einiger Kapitel in der Zeitung. Ebenso der Bericht der ersten deutschen Arbeiterdelegation 1925 „Was sahen 58 Arbeiter in Russland?“, am ersten Tag soll die erste Auflage von hunderttausend verkauft gewesen sein.

Zugleich waren die Berichte aber immer auch, wenn nicht sogar zuerst politische Stellungnahme zu dem, was in Russland geschah: Ja oder Nein zur Revolution, Ja oder Nein zum Sozialismus. Sie verhandeln die mit der Revolution verbundenen Erwartungen und die Haltung zur Sowjetunion. Das ist das eigentliche Thema der Reiseberichte. Hans Magnus Enzensberger spricht für sie denn auch von einer „Literatur der Illusion“ bzw. „Dokumenten der Desillusion“.[14] Im Blick darauf sind die Berichte nicht zu trennen von den Krisenerfahrungen der westlichen Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg: das Gefühl des Bankrotts der europäischen Zivilisation im Krieg, die Suche nach einem geistigen Neuanfang, die Wirtschaftskrisen und ihre sozialen Folgen, die Enttäuschungen über die parlamentarischen Demokratien und die politische Radikalisierung der Intellektuellen. Dies war der stets präsente Hintergrund der Berichte. Die Suche nach der Alternative oder die Warnung vor dem bolschewistischen Weg überlagern dabei oftmals sichtlich den Informationscharakter.

Gerade im krisengeschüttelten Deutschland der Weimarer Republik waren das Bedürfnis – und auch die Notwendigkeit – nach Information wie politischer Orientierung hinsichtlich des neuen Russlands gleichermaßen intensiv: Was ist von diesem zu erwarten? Die „Umwälzungen im Nachbarland [wurden] mit zeitweilig geradezu stockendem Atem verfolgt“, „ihr Überspringen auf Deutschland [galt] als möglich“.(15) Nicht zufällig war die Zahl der deutschen Reisenden, einschließlich derer, die zum Arbeiten in die Sowjetunion gingen, und ihrer Berichte besonders hoch. Die Sowjetunion-Berichte sind in dem Zusammenhang nicht zuletzt auch als Teil der Auseinandersetzungen zwischen den linken Parteien und Gruppen um die Deutungshoheit über die Revolution und um den richtigen Weg zum Sozialismus zu sehen.

Eine spezifische Kategorie der Reiseberichte bilden dabei jene, die die Sowjetunion als konkret gewordene Utopie beschreiben. Um diese Reiseberichte soll es im Folgenden gehen. Sie sind, um das einzuschränken, nur ein kleiner Teil der Berichte. Die Frage nach dem Pro und Contra stand im Zentrum von fast allen. Die Beschreibung als Utopie jedoch findet sich vor allem in den Berichten von linken Intellektuellen, Künstlern und denen der Arbeiterdelegationen sowie in den Reportagen zu den Fünfjahrplänen. Trotzki bezeichnete in „Verratene Revolution“ das Sowjetunion-Bild dieser Reiseberichte spöttisch als „Sozialismus für radikale Touristen“.(16)

Der Utopiecharakter zeigt sich in zweierlei Weise: Zum einen wurde die Sowjetunion als Verwirklichung utopischer Hoffnungen dargestellt, zum Teil mit direktem Bezug auf die klassische Utopietradition.[17] Zum anderen übernahmen die Reiseberichte für die Beschreibung der neuen Gesellschaft oftmals – indirekt, aber auch explizit – das Muster der klassischen Utopien mit der Verschränkung von Kritik und Alternative. Richard Saage hat das beispielsweise für Sidney und Beatrice Webbs „Soviet Communism: A new civilisation“ (1935) gezeigt.[18] Die Reiseberichte lassen sich dahingehend „als Manifestationen von sozialutopischen und sozialistischen Ideen“ verstehen, die anhand der Sowjetunion zur „konkret gemachten Utopie“ geformt werden.[19] Die Autoren projizierten auf die Sowjetunion ihre eigenen utopischen Vorstellungen einer neuer Gesellschaft, eines Neuen Menschen, einer neuen Erziehung, Kunst etc. Sie sahen die Sowjetunion als Ort, an dem sich diese verwirklichen lassen. So heißt es z. B. in Otto Corbachs Bericht über die sowjetrussische Bildungspolitik, dass in Sowjetrussland erstmals die Bildungsutopien Pestalozzis und Fichtes verwirklicht werden könnten. „Rußland ist heute das günstigste Feld für die erstmalige Verwirklichung einer idealen Erziehung, wie sie Pestalozzi und Fichte schon vor mehr als hundert Jahren in ihren Grundzügen richtig entwarfen.“[20] Oder es wurde später beklagt, dass die Ideale der Revolution nicht eingelöst wurden bzw. dass man sie „verraten“ habe.

André Gide brachte diese Erwartungshaltung in „Zurück aus Sowjetrussland“ (1936) auf den Punkt: „Wer vermöchte zu sagen, was Sowjetrussland für uns gewesen ist? Mehr als die Heimat, die wir uns wählten: ein Beispiel war sie, ein leuchtendes Vorbild. Dort hatte es sich zugetragen, was wir erträumten, was wir kaum zu hoffen wagten und doch mit unserem ganzen Wollen, mit aller Kraft anstrebten. Es gab also ein Land, wo Utopisches die Chance fand, Wirklichkeit zu werden.“[21] Ähnlich Annemarie Schwarzenbach in ihren Notizen von ihrer Reise zum Schriftstellerkongress 1934: „wir sehen, dass es möglich ist, Utopien in Wirklichkeit zu verwandeln“.(22)

Anhand einiger Reiseberichte soll im Folgenden dieser Blick auf die Sowjetunion als Utopie skizziert werden. Es sind alles bekanntere Reiseberichte. Ich konzentriere mich in ihrer Darstellung auf den Aspekt des Utopiecharakters und will versuchen, die Entwicklung des „utopischen Blicks“ deutlich zu machen, beginnend mit der Oktoberrevolution[23] bis Ende der 1930er Jahre. Ein letzter Höhepunkt waren die Reisen und Berichte zum 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller 1934 und die Reisen von Gide und Feuchtwanger 1936 und 1937. Danach bricht diese Form des Utopietourismus vorerst ab. Die Gründe sind naheliegend: die Situation des Exils und der Krieg. Eine Zäsur bedeutete auch der Hitler-Stalin-Pakt 1939.[24] Nach 1945 wurde die Praxis der Delegationsreisen ins „Land der Zukunft“ wiederbelebt.[25] Deren Reiseberichte haben aber meines Erachtens nichts mehr von der Energie und der Faszination eines Aufbruchs in die Utopie, wie sie sich in denen der 1920er und 1930er Jahre finden. Sie sind deutlich ideologisch formelhafter. In der ersten Zeit waren es von deutscher Seite auch fast ausschließlich Delegationen, keine individuellen Reisen. Erstaunlich ist auch, dass in den Reiseberichten zunächst kaum Bezug genommen wird auf die Reisen vor dem Krieg, obwohl einige Teilnehmer an diesen beteiligt waren. Später wurden einige der früheren Reiseberichte in Anthologien[26] und als Einzelausgaben wiederveröffentlicht.

 

[1]   https://www.youtube.com/watch?v=wVeg8shVTiQ (min. 2:45 ff.; Abruf: 26.08.2019).
[2]   Joseph Roth: Reise nach Rußland. Feuilletons, Reportagen, Tagebuchnotizen 1919–1930, Köln 1995, S. 123.
[3]   Helene Stöcker: Zum vierten Male in Rußland, in: dies.: Verkünder und Verwirklicher, Berlin 1928, S. 73–111, S. 74.
[4]   Vgl. Anne Hartmann: „Ich kam, ich sah, ich werde schreiben“. Lion Feuchtwanger in Moskau 1937. Eine Dokumentation, Göttingen 2017; Anne Hartmann: Der Stalinversteher. Lion Feuchtwanger in Moskau 1937, in: Osteuropa 64. Jg. (2014), H. 11/12, S. 59–80; Inka Zahn: André Gides Zurück aus Sowjetrussland (1936) – Bericht einer Desillusionierung, in: Hermann Haarmann, Anne Hartmann (Hrsg.): „Auf nach Moskau!“ Reiseberichte aus dem Exil, Baden-Baden 2018, S. 127–139.
[5]   Die Jeanne-Mammen-Ausstellung der Berlinischen Galerie 2017 „Jeanne Mammen. Die Beobachterin. Retrospektive 1910–1975“ zeigte drei ihrer Zeichnungen mit Moskauer Straßenszenen und ein Gemälde („Moskauer Droschkenkutscher“), die bei ihrem Besuch in Moskau 1932 entstanden; vgl. den Katalog: Thomas Köhler, Annelie Lütgens (Hrsg.): Jeanne Mammen. Die Beobachterin. Retrospektive 1910–1975, München 2017, S. 122 f.
[6]   Erich Kästner: Mein liebes, gutes Muttchen, Du!, Hamburg 1981, S. 122 (Brief vom 26. April 1930).
[7]   Vgl. zu den Architekten u. a. Thomas Flierl (Hrsg.): Standardstädte – Ernst May in der Sowjetunion 1930–1933, Berlin 2012; Thomas Flierl, Philipp Oswalt (Hrsg.): Hannes Meyer und das Bauhaus. Im Streit der Deutungen, Leipzig 2018; Klaus Jarmatz u. a.: Exil in der UdSSR. Leipzig 1979, S. 326 ff.; Astrid Volpert: Vom Traum, der narrte bis zum Irresein. Bauhaus-Künstler in der Sowjetunion, in: Berliner Debatte Initial 27. Jg. (2016), H. 2, S. 107–125; Astrid Volpert: Welterfahrungen. Werner Hebebrands Rehabilitierung und Reisen in die UdSSR, in: Berliner Debatte Initial 29. Jg (2018), H. 3, S. 53–64.
[8]   Vgl. u. a. Reinhard Müller: Don Quijote im Moskauer Exil. Cervantes, Thomas Mann und Karl Schmückle, in: Mittelweg 36 14. Jg. (2005), H. 2, S. 72–76; Karl Schmückle: Begegnungen mit Don Quijote. Ausgewählte Schriften, hrsg. von Werner Röhr, Hamburg 2014.
[9]   Vgl. Gesine Bey: Als Autorin für die „Frankfurter Zeitung“ in der Sowjetunion. Angela Rohr in den Jahren 1928 bis 1936, in: Berliner Debatte Initial 29. Jg. (2018), H. 3, S. 42–52. Gesine Bey ist es zu verdanken, dass Rohr und ihre Texte in den letzten Jahren wiederentdeckt wurden.
[10] Vgl. Wladislaw Hedeler, Inge Münz-Koenen (Hrsg.): „Ich kam als Gast in euer Land gereist …“ Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933–1956, Berlin 2013.
[11] Liam O’Flaherty: Ich ging nach Rußland, Zürich 1971, S. 7 f.
[12] Vgl. u. a. Waltraut Engelberg: Die Sowjetunion im Spiegel literarischer Berichte und Reportagen in der Zeit der Weimarer Republik, in: Literatur der Arbeiterklasse, Berlin, Weimar 1971, S. 312–379; Bernhard Furler: Augen-Schein. Deutschsprachige Reportagen über Sowjetrußland 1917–1939, Frankfurt a. M. 1987; Hermann Haarmann, Anne Hartmann (Hrsg.): „Auf nach Moskau!“ Reiseberichte aus dem Exil, Baden-Baden 2018; Anne Hartmann: Perspektivwechsel. Passanten und Emigranten über die Sowjetunion der 20er und 30er Jahre, in: Berliner Debatte Initial 29. Jg. (2018), H. 3, S. 22–31; Matthias Heeke: Reisen zu den Sowjets. Der ausländische Tourismus in der Sowjetunion 1921–1941, Münster u. a. 2003; Gerd Koenen: „Indien im Nebel“. Die ersten Reisenden ins „neue Rußland“, in: ders./ Lew Kopelew (Hrsg.): Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924. München 1998, S. 557–615; Primus-Heinz Kucher, Rebecca Unterberger (Hrsg.): Der lange Schatten des „Roten Oktober“. Zur Relevanz und Rezeption sowjet-russischer Kunst, Kultur und Literatur in Österreich 1918–1938, Berlin 2019 (Kapitel „Russland-Reisen“); Eva Oberloskamp: Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller in die Sowjetunion 1917–1939, München 2011; Antonia Opitz: Sowjetrussland zwischen 1918 und 1928 im Spiegel deutschsprachiger Reiseberichte, in: Wolfgang Geier (Hrsg.): Deutsche und Russen. Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten, Potsdam 2014, S. 131–166; Donal O’Sullivan: Furcht und Faszination. Deutsche und britische Rußlandbilder 1921–1933, Köln u. a. 1996; Dieter Pforte: Rußland-Reiseberichte aus den 20er Jahren als Quellen historischer Forschung, in: Eberhard Knödler-Bunte u. a. (Hrsg.): Kultur und Kulturrevolution in der Sowjetunion, Berlin, Kronberg i. Ts. 1978, S. 25–32; Christiane Uhlig: Utopie oder Alptraum. Schweizer Reiseberichte über die Sowjetunion 1917–1941, Zürich 1992 sowie Wolfgang Metzger: Bibliographie deutschsprachiger Sowjetunion-Reiseberichte, ‑Reportagen und -Bild-bände 1917–1990, Wiesbaden 1991.
[13] Jacques Derrida: Rückkehr aus Moskau, Wien 2005, S. 16; vgl. auch Michael Ryklin: Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution, Frankfurt a. M. 2008, S. 53 ff.
[14] Hans Magnus Enzensberger: Revolutions-Touristen, in: Kursbuch Nr. 30 (1972), S. 155–181, S. 167.
[15] Stephan Braese: Deutsche Blicke auf „Sowjet-Rußland“: Die Moskau-Berichte Arthur Holitschers und Walter Benjamins, in: Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte 24. Jg. (1995), S. 117–147, S. 117.
[16] Leo Trotzki: Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie? Essen 1990, S. 20; Trotzki zählte dazu namentlich die Webbs.
[17] Siehe z. B. Karl Schmückles „Geschichte vom Goldenen Buch. Eine utopische Reportage“ (in: Internationale Literatur 5. Jg. (1935), Nr. 12, S. 41–48).
[18] Richard Saage: Utopische Ökonomien als Vorläufer sozialistischer Planwirtschaften, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59. Jg. (2011), H. 6, S. 544–556, S. 549 ff. Ebenso Robert Conquest: „Daher sollte man ihr Buch weniger als einen Bericht über ein wirkliches Land betrachten, sondern eher als ein Werk in der Tradition von Sir Thomas More, Campanella, Plato, Harrington und William Morris.“ (Robert Conquest: The Great Terror. Stalin’s Purge of the Thirties, New York 1973, S. 673).
[19] Pforte: Rußland-Reiseberichte aus den 20er Jahren, S. 31; vgl. auch Dieter Pforte: Der Reisebericht als Umkehrbild heimischer Zustände, in: Heinrich Vogeler: Reise durch Rußland, Fernwald u. a. 1974, S. 131–135.[20] Otto Corbach: Moskau als Erzieher. Erlebnisse und Einsichten aus Sowjet-Rußland, Leipzig 1923, S. 18.[21] André Gide: Zurück aus Sowjetrußland, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6, Stuttgart 1996, S. 41–116, S. 49.[22] Annemarie Schwarzenbach: Notizen zum Schriftstellerkongreß in Moskau, in: dies.: Auf der Schattenseite. Ausgewählte Reportagen, Feuilletons und Fotografien 1933–1942 (Ausgewählte Werke; 3), Basel 1990, S. 35–62, S. 46.[23] Zu der Zeit von der Februarrevolution bis zum November 1917 vgl. Wladislaw Hedeler (Hrsg.): Die russische Linke zwischen März und November 1917, Berlin 2017, Wladislaw Hedeler u. a.: Ein Revolutionsjahr im Spiegel der Literatur, in: Berliner Debatte Initial 28. Jg. (2018), H. 1, S. 4–12.[24] Vgl. z. B. die Reaktionen der Webbs (Beatrice Webb: Pilgerfahrt nach Moskau, Passau 1998, S. 132 f.).[25] Vgl. Wladislaw Hedeler: Reise in die Zukunft. Berichte von Deutschen über ihre Fahrten in die Sowjetunion 1946 bis 1955, in: Berliner Debatte Initial 29. Jg. (2018), H. 3, S. 65–83; Wladislaw Hedeler: Reise in die Zukunft (Helle Panke, Pankower Vorträge 232), Berlin 2020.[26] Vgl. z. B. Smoking braucht man nicht. Moskauer Skizzen 1918–1922, Berlin und Weimar 1975.

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