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Heft 228: Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in der Revolution 1918/19

Von: Klaus Dallmer

Heft 228: Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung in der Revolution 1918/19

Zum Thema der vorliegenden Publikation referierte der Autor am 19. November 2019 im Verein "Helle Panke" e.V. – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin.

Autor: Klaus Dallmer, Politologe, Werkzeugmacher, Entwicklungshelfer, Autor des Buches: Die Meuterei auf der “Deutschland” 1918/19 – Anpassung, Aufbäumen und Untergang der ersten deutschen Arbeiterbewegung
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INHALT 

Der Aufstieg  
Die Gegensätze brechen auf 
Anpassung  
Integration und Zustimmung zum Krieg
Der Krieg zerbricht die Einheit
Konterrevolution
Aktionismus statt taktischer Vernunft
Drei Jahre Ansehensgewinn 
Endgültige Isolierung, Vertiefung der Spaltung und Niederlage
Quellenliteratur 
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LESEPROBE

August Bebel und Wilhelm Liebknecht waren 1871 für ihre Ablehnung des Deutsch-Französischen Krieges mit nationalem Hass als "Vaterlandsverräter" überschüttet worden und für zwei Jahre in Haft gegangen. Ihre aufrechte Haltung begründete die angesehene Stellung der SPD in der internationalen Arbeiterschaft. Was hatte dazu geführt, dass der Grundsatz "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen" immer mehr aufgegeben wurde und die Reichstagsfraktion schließlich im August 1914 den Kriegskrediten zustimmte? Der Krieg setzte die Spaltung der SPD mit Zwangsläufigkeit auf die Tagesordnung. Warum konnte sie nicht mehr überwunden werden?
1920 hat die deutsche Arbeiterklasse den Kapp-Putsch der Freikorpsverbände in einem ungeheuer geschlossenen Generalstreik zurückschlagen können, obwohl ihre politischen Organisationen bereits verfeindet waren. Warum saß der Spaltkeil 13 Jahre später derartig tief, dass die Faschisten kampflos ihre Herrschaft antreten konnten?

Ausschlaggebend war sicherlich die Spaltung zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus, die hier auch Hauptgegenstand sein soll. Aber es gab noch weitere Spaltungen, die die Arbeiterbewegung geschwächt haben.

Der Aufstieg
Die Arbeiterschaft war im 19. Jahrhundert eine verachtete Klasse, deren Elend den herrschenden Kreisen völlig gleichgültig war. Sie musste sich in zähen und opferreichen Kämpfen soweit emporarbeiten, dass ihre Interessen wenigstens ansatzweise berücksichtigt werden mussten – und das unter ständigem nationalistischen Beschuss durch die öffentliche Meinung. Das rasche industrielle Wachstum im Deutschen Reich stieß an die Einflussgrenzen der älteren imperialistischen Staaten, die Deutschland seinen "Platz an der Sonne" verweigerten – die militaristische Propaganda richtete sich auch gegen die "Feinde", die das "Vaterland" durch Streiks und politischen Widerstand schwächten. Weil die deutsche Bourgeoisie nicht wie in Frankreich den Adel gestürzt, sondern sich mit ihm gegen das Proletariat verbunden hatte, war der kaisertreue Obrigkeitsstaat besonders ausgeprägt, und die Arbeiterschaft musste durch die autoritäre Mühle von Schule, Kirche, Militär und Fabrik.

Durch die Unterdrückung während der Sozialistengesetze wuchs die Aufnahmebereitschaft für den Marxismus stark an. Neben Engels' "Anti-Dühring" taten die illegal eingeschmuggelten Zeitungen ihre Wirkung, und die umsichtigen Behörden hatten beim Prozess, das verbotene Kommunistische Manifest als Beweismaterial zu den Akten nehmen lassen – damit war es öffentlich zugänglich geworden. Bei den elenden Zuständen konnte es nicht ausbleiben, dass viele Arbeiter ihrem Kampf und ihrem ärmlichen Leben mit der neuen "Weltanschauung" einen höheren Sinn verleihen wollten – die sozialistische Zukunftshoffnung wurde durch naturwissenschaftliche Werke gestützt und man grenzte sich scharf ab von allem Alten, was das System stützte, und betonte den Atheismus. Der wissenschaftliche Sozialismus wurde zur Ersatzreligion stilisiert.

Den christlichen Glauben konnte ein Großteil der Arbeiterschaft noch nicht abschütteln, und so bildeten sich gegen den Atheismus der Sozialdemokratie und der freien Gewerkschaften christliche Gewerkschaftsverbände, die den Klassenkampf ablehnten und natürlich auch die Machtübernahme der Arbeiterklasse. Sie wirkten noch in der Weimarer Republik als Bremse gegen die Machtentfaltung der Arbeiterbewegung – kurz vor dem 1. Weltkrieg hatten sie etwa 300.000 Mitglieder, 1920 eine Million. Ihre Wahlstimmen kamen der Zentrumspartei zugute.

Von den autoritären Verhältnissen konnte sich auch die Arbeiterbewegung nicht freimachen, in den Arbeiterfamilien herrschte der Mann, der in die politischen Versammlungen ging, aus den ärmlichen häuslichen Verhältnissen in die Kneipe floh und dort über den Zukunftsstaat philosophierte. Die Hausarbeit und die Sorge für die Kinder überließ er der Frau, die "von Politik nichts verstand" und oft noch in die Kirche ging. Damit war die Hälfte des Proletariats aus der Arbeiterbewegung ausgeschlossen.

Sozialdemokratie und Gewerkschaften erstarkten unter harten Bedingungen, die geschlossenes Vorgehen unabdingbar machten. Organisationsdisziplin und Einheit spiegelten die autoritäre gesellschaftliche Umgebung: die SPD wurde oft als "bismarxistisch" verspottet, August Bebel galt als ihr "Ersatzkaiser", und er hatte selbstkritisch einmal bemerkt, die Sozialdemokratie sei die beste Vorbereitung aufs Militär.

Trotz oder gerade wegen der 12 Jahre Repression unter den Sozialistengesetzen erstarkte die Bewegung weiter und die SPD wurde stärkste Partei im Reichstag. Aus der Verbotsphase kam die Sozialdemokratie heraus mit einer Orientierung auf Wahlerfolge, auf Vermeidung eines neuerlichen Verbots und auf die Eroberung der politischen Macht zwecks Überführung der Produktionsmittel in Verfügung der Produzenten. Die zähen Kämpfe, die die Arbeiterschaft zur Verbesserung ihrer Lebenslage führte, verblieben im Rahmen von Reformen – für revolutionäre Kämpfe in Richtung Sturz des kapitalistischen Systems gab es keine Möglichkeiten. Und so erwartete das Gros der Parteimitglieder, dass der Kapitalismus an seinen Krisen zusammenbrechen werde – Bebel sprach vom "großen Kladderadatsch" – und dass die weiter erstarkte Sozialdemokratie dann das Erbe werde übernehmen können. Und der Augenschein schien das zu bestätigen: die Erfolge bei den Reichstagswahlen wurden immer größer, die Mitgliedschaft der SPD wuchs von 38.000 Mitgliedern 1876 auf das Zehnfache 1906 und auf über eine Million 1914. Bei den Gewerkschaften sah es ähnlich aus: waren es 1877 nur erst 50.000 Mitglieder, so gab es 1906 etwa eine Million und 1914 über 2,5 Millionen Gewerkschafter. Dennoch waren die Organisierten immer nur ein kleiner Bruchteil der Arbeiterschaft, diejenigen, die die Notwendigkeit der Organisierung einsahen und das Risiko auf sich nahmen – die Spitze des Eisbergs.

Die Gegensätze brechen auf
Als Resultat der beständigen kleinen Erfolge, vor allem des gewerkschaftlichen Kampfes, machten sich Aufweichungserscheinungen der oppositionellen Haltung breit: Bereits 1891 hatte es eine Debatte gegeben, wieweit Sozialdemokraten in reformerischer Praxis gehen dürften. Der bayerische Sozialdemokrat Georg von Vollmar hatte Bündnisse mit bürgerlichen Parteien zur Aufstellung reformorientierter Aktionsprogramme gefordert. Seine Position wurde als Verwässerung des Klassenstandpunktes zurückgewiesen, er wurde aber in der Partei belassen. 1894 bewilligten die SPD-Abgeord-neten in Bayern und Franken das Staatsbudget. Im Jahr 1900 waren es die badischen Sozialdemokraten, die im Landtag den Haushalt mit bewilligten und den Grundsatz "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen" verletzten. Gleichzeitig gab es in der Partei und in der Internationale eine Debatte um den französischen Sozialisten Millerand, der als Minister in die bürgerliche Regierung eingetreten war, aber dort nichts für die Arbeiterklasse bewirken konnte – und eine grundsätzliche Oppositionshaltung konterkarierte. Der Reichstagsabgeordnete Schippel wollte Militärausgaben bewilligen, um die Sicherheit deutscher Soldaten im Kriegsfall zu verbessern – der Abgeordnete Heine schlug eine „Kompensationspolitik“ vor, soziale Reformen gegen Zustimmung zur militärischen Aufrüstung einzuhandeln, von Clara Zetkin auf dem Parteitag 1898 als Schacherpolitik zurückgewiesen. Dass der „Vorwärts“ Heines Vorstellungen breiten Raum gegeben hatte, seine Kritiker aber beschnitt, zeigte, wie tief die opportunistische Anpassung bereits in die Partei eingedrungen war.

Den schlummernden Gegensatz zwischen marxistischer Theorie und reformerischer Praxis brach um die Jahrhundertwende Eduard Bernstein auf, als er die Revision des Marxismus verlangte: die Krisen seien ausgeblieben, Kreditsystem und Unternehmerverbände würden krisendämpfend wirken, Reformpolitik, Genossenschaften und das Erstarken der Gewerkschaften würden zum Sozialismus überleiten. Rosa Luxemburg zerpflückte seine Argumentation und legte dar, dass nur das Lernen der Unumgänglichkeit der Revolution den reformerischen Kämpfen ihren sozialistischen Charakter verleihe, sonst blieben die Anstrengungen eine sich immer wiederholende Sisyphusarbeit, um den Wert der Ware Arbeitskraft überhaupt durchzusetzen. Gewerkschaftsarbeit verbliebe im Rahmen des kapitalistischen Systems. Das Lohnsystem könne nicht auf gesetzlichem Wege aufgehoben werden, weil es gar nicht durch Gesetze fixiert sei, sondern durch ökonomischen Zwang. Ihre Schrift "Sozialreform oder Revolution?" wurde zum vielgelesenen Schulungsmaterial und wirkte als einer der Bausteine des deutschen Kommunismus. Der Parteivorstand und die Masse der Mitglieder verdammten Bernsteins Angriff, war er doch geeignet, die Identifikation mit dem politischen Zukunftsziel und den Weg zur Machtübernahme infrage zu stellen. Und so blieb die Erringung des Sozialismus als Ziel im Parteiprogramm stehen – zur praktischen Vorbereitung jedoch, zur Ausdehnung der Kämpfe, für die praktischen Lernprozesse der Massen tat man möglichst wenig, wollte man die Organisationen doch nicht wieder einem Verbotsrisiko aussetzen.
Anlässlich des belgischen Generalstreiks von 1902 kritisierte Rosa Luxemburg die ablehnende Haltung der deutschen Partei- und Gewerkschaftsführer und ihre nur-parlamentarische Orientierung:

"Allein wie für die Bourgeoisie die Rechtsordnung nur ein Ausdruck ihrer herrschenden Gewalt, so kann der parlamentarische Kampf für das Proletariat nur das Streben sein, auch seinerseits seine Gewalt zur Herrschaft zu bringen. Steht hinter unserer gesetzlichen, parlamentarischen Tätigkeit nicht die Gewalt der Arbeiterklasse, jederzeit bereit, im Notfall in Aktion zu treten, dann verwandelt sich die parlamentarische Aktion der Sozialdemokratie in einen ebenso geistreichen Zeitvertreib wie zum Beispiel das Wasserschöpfen mit einem Siebe."[1]

Die russische Revolution von 1905 brachte dann den Durchbruch für eine breite Massenstreikdebatte. Führende Parteimitglieder der SPD feierten auf zahlreichen Versammlungen die russischen Revolutionäre und sammelten Geld zur Unterstützung. Auch die Vorstandsmitglieder wurden militanter und aufgeschlossener für radikales Denken. Die Generalstreikdebatte griff um sich, sehr zum Unwillen der Gewerkschaftsführer: "Die Wahlkreisorganisationen, die zu den radikalsten Elementen in der Partei gehörten, schienen vom Teufel des Massenstreiks besessen zu sein und beanspruchten das Recht, sich in örtliche Gewerkschaftsangelegenheiten einzumischen."[2] Die Frage schien sich nur noch um das Wie und Wann zu drehen. "Als Vorschläge laut wurden, zum Streik für rein politische Ziele, wie die preußische Wahlrechtsreform, aufzurufen, wurden die Gewerkschaftsführer von Entsetzen gepackt."[3]

 Bei solch heraufziehendem Chaos waren die gewerkschaftlichen Kassen bedroht, würden womöglich Aussperrungen provoziert und die Unterstützung für die Streikenden in Frage gestellt, die Organisation selbst könnte illegalisiert werden und die Arbeitsplätze der Funktionäre gingen verloren, oder die Massenbewegung würde "Unerfahrene" in die Ämter hochspülen. Die Gewerkschaftsführer gingen zum Gegenangriff über. Der 5. Kongress der Freien Gewerkschaften Deutschlands im Mai 1905 in Köln erklärte den Massenstreik für indiskutabel und "... warnt die Arbeiterschaft, sich durch die Aufnahme und Verbreitung solcher Ideen von der täglichen Kleinarbeit zur Stärkung der Arbeiterorganisationen abhalten zu lassen".[4] Diese weitere Stärkung sei für künftige Kämpfe nötig. "Generalstreik ist Generalunsinn." Zahlreiche Unterorganisationen der Gewerkschaften protestierten gegen diese Beschlüsse.

Der SPD-Parteitag dagegen sprach sich vorsichtig für "Massenarbeitseinstellungen" bei Angriffen auf das Wahlrecht oder das Koalitionsrecht aus. Rosa Luxemburg, die in Warschau, einem der wichtigsten Industriezentren des Zarenreichs, an der Revolution teilgenommen hatte, griff mit ihrer Broschüre "Massenstreik, Partei und Gewerkschaften" in die Debatte ein: 

"Und während die Hüter der deutschen Gewerkschaften am meisten befürchten, dass die Organisationen in einem revolutionären Wirbel wie kostbares Porzellan krachend in Stücke gehen, zeigt uns die russische Revolution das direkt umgekehrte Bild: aus dem Wirbel und Sturm, aus Feuer und Glut der Massenstreiks, der Straßenkämpfe steigen empor wie die Venus aus dem Meerschaum: frische, junge, kräftige und lebensfrohe ... Gewerkschaften."[5]

Mit ihrer Beschreibung der Organisation als dialektischem Prozess des im Klassenkampf selbst lernenden Proletariats widersprach Luxemburg auch der mechanistischen Auffassung Kautskys, das Klassenbewusstsein müsse von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden, die Lenin sich für seine autoritäre Parteikonzeption zu Nutze gemacht hatte.[6]

[1] Rosa Luxemburg, Und zum dritten Mal das belgische Experiment, a.a.O, S. 243.
[2] Peter Nettl, Rosa Luxemburg, Köln und Berlin 1968, S. 293.
[3] Ebd.
[4] Zitiert nach Ralf Hoffrogge, Sozialismus und Arbeiterbewegung in Deutschland und Österreich, Stuttgart 2017, S. 153.
[5]Rosa Luxemburg, Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: Rosa Luxemburg, Politische Schriften Band 1 Frankfurt/Main, S. 164 f.
[6]Siehe Ulf Wolter, Grundlagen des Stalinismus, Berlin 1985, und Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in: Rosa Luxemburg, Politische Schriften Band 3, Frankfurt/Main 1968.

  • Preis: 4.00 €
  • 40 Seiten
  • Erscheinungsjahr: 2020