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Heft 43: "Ins Nichts mit ihm!" – Ins Nichts mit ihm?

Zur Rezeption Friedrich Nietzsches in der DDR

Von: Matthias Steinbach, Andreas Heyer

Heft 43:

Reihe "Philosophische Gespräche", 2016, Heft 43, 63 S.

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Das vorliegende Heft enthält die Vorträge von Prof. Dr. Matthias Steinbach und Dr. Andreas Heyer in einer Veranstaltung der Reihe „Philosophische Gespräche“, veranstaltet von „Helle Panke“ e.V. in Kooperation mit dem Institut für Sozialtheorie Bochum e.V. am 22. Februar 2016.

Im Anhang des Heftes fanden Aufnahme die Mitschrift der von Dr. Falko Schmieder geleiteten Diskussion im Anschluss an die beiden Vorträge sowie ergänzende Texte von Wolfgang Harich und Gregor Schirmer zur hier behandelten Thematik.

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Autoren:
Matthias Steinbach
Prof. Dr., seit 2007 Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der TU Braunschweig

Andreas Heyer
Dr., Herausgeber des Harich-Nachlasses, Braunschweig

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INHALT

Matthias Steinbach
„Der Donnerer hinter der Mauer“
Nietzsche-Lesarten und -Orte in der DDR

Andreas Heyer
Die Nietzsche-Debatte in der DDR der achtziger Jahre

Anhang
Diskussion
Mitschrift der Diskussion im Anschluss an die Vorträge

Wolfgang Harich
Brief an Walter Grab

Gregor Schirmer
Wolfgang Harich, Nietzsche und die SED

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LESEPROBE

Matthias Steinbach
„Der Donnerer hinter der Mauer“
Nietzsche-Lesarten und -Orte in der DDR[1]

„Also diese mauer Umschloss den Donnerer –
ihn der einzig war Von tausenden …
Hier sandte er auf flaches mittelland
Und tote stadt die letzten stumpfen blitze.“

Stefan Georges Gedicht von 1909 liefert unvermittelt Stichworte für unser Thema: Der Donnerer hinter der Mauer (hier der Jenaer Irrenanstalt), die tote Stadt, das flache Mittelland (Mitteldeutschland), letzte stumpfe Blitze. Die Losung ist plakativ, aber eine hübsche Metapher für Nietzsches Nachleben in der DDR. Denn hier hatte man ihn und seine ganze Philosophie hinter einer Mauer des Schweigens mit der Bedeutung dämonischer Größe aufgeladen und als historisch retardierende, reaktionäre Macht herabgewürdigt. Nietzsche war zweifellos ein entschiedener Gegner des Sozialismus – des, so eine symptomatische Passage aus Menschliches Allzumenschliches, „phantastischen jüngeren Bruders des […] Despotismus“, der eine Fülle von Staatsgewalt begehre, „wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vorhergegangene dadurch, dass er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt“ [KSA 2/I, 307 f., Nr. 473].

Es ließen sich leicht weitere Belege für Nietzsches Antisozialismus aufführen. Gänzlich entziehen konnte sich das kleine Preußen dem unbequemen Geist allerdings schon aus topografischen Gründen nicht; liegen doch Nietzsches deutsche Daseinsorte – Röcken, Naumburg, Tautenburg, Jena, Weimar (die zwei Semester Bonn und die Syphilis waren Angelegenheit des Westens J) – ausgerechnet zwischen Potsdam und Weimar, jenen Orten also, die nun einmal deutscher sind als alles sonst und deren Ideen Nietzsche wie kein Zweiter verklammerte: als deutscher Dichter und Denker wie Schiller, Goethe, Heine; aber auch als Stichwortgeber und Vordenker des politischen Irrationalismus, des Militarismus und zuletzt des Faschismus, wenn wir an die Thesen und Urteile eines Georg Lukács’ denken.[2] Nietzsches Relevanz beruhte überdies auf einem Namen, der zur Denunziation des ideologischen Gegners taugte. Durch die Folie Nietzsche grinste stets der Klassenfeind. Zugleich aber blieb der Denker ein mögliches kritisches Identitätsangebot unterhalb ideologieoffizieller Schablonen: unzeitgemäß, unangepasst, einsam – eine mögliche Chiffre politischer Irritation und Subversion.

Auch mein persönlicher Nietzsche – man soll ja mit dem Meister nur von Dingen reden, worin man seine Erlebnisse hat – war irritierende Erfahrung im verdämmernden vormundschaftlichen Staat.[3]Ein Reclam-Bändchen: Nietzsche, Gedichte, Lpz. 1942[4], kam mir 1989 in der nachgelassenen Bibliothek eines alten Jenaer Musiklehrers unter. Lesetreffer: Beim Anblick eines Schlafrocks:

„Kam, trotz schlumpichtem Gewande
einst der Deutsche zu Verstande,
weh, wie hat sich das gewandt!
Eingeknöpft in strenge Kleider,
überließ er seinem Schneider,
seinem Bismarck – den Verstand!

Unter Bismarck fand sich da, mit Bleistift und in Klammern gesetzt, „Hitler“. Nun war Edmund Barczyk (Jg. 1895) gewiss kein systematischer Kopf, der im Sinne eines deutschen Sonderweges – von Bismarck zu Hitler – argumentiert hätte, oder gar mit marxistischem Theorierüstzeug gegen die Auswüchse des Bonapartismus, also den freiwillig auf unmittelbare politische Herrschaft verzichtenden und dafür von einer autoritären Führung begünstigten Bürger.[5] Aber die Assoziation zeigt doch, dass Nietzsche entgegen einer nationalsozialistischen Inanspruchnahme[6]als Kritiker des totalitären Systems zu lesen war und auch gelesen wurde. Gerade in dieser Erkenntnis und dem Wink auf eine eigensinnige, andere Nietzsche-Rezeption[7] lag wohl auch das Aha-Erlebnis für jemanden, der Nietzsche bis dato nur aus Georg Lukács’ Urteilen kannte. Als Gorbatschow-Bewunderer erschloss sich mir das Gedicht zudem ganz unmittelbar politisch: Dem Volk muss irgendwann der Kragen platzen. Es musste raus aus der Uniform. Und es muss sich einen besseren Schneider suchen. So ließen sich auch Ulbricht und Honecker in die Klammer schreiben, später Kohl und das vom Studenten Steinbach noch wenig geschätzte „Wir sind ein Volk“.

„Barczyk oder Lukács?“, so lautete die Frage, wozu ein Blick auf ideologieoffizielle und akademische Debatten, aber auch hinter gestanzte Verbrämungen und zugemuteter Versatzstücke angezeigt ist. Wir pendeln im Folgenden also ein wenig zwischen dem verordneten Feindbild und eigensinnig-subversiven Aneignungen Nietzsches im kulturellen Alltag des real existierenden Sozialismus.[8]

I.

Auch wenn Thomas Mann in einem berühmten Text von 1947 geneigt war, „nicht zu glauben, daß Nietzsche den Fascismus gemacht hat, sondern der Fascismus ihn [...]“[9], drohte Nietzsche, zumindest bei Rigoristen in der Umsetzung von Befehlen der SMAD, unter das Dekret zur „Aussonderung faschistischer und militaristischer Literatur (Befehl Nr. 4)“ zu fallen. In Leipzig streicht man ihn aus dem Ehrenverzeichnis der Uni, in Weimar und Naumburg werden Nietzschestraßen umbenannt. In Bandkatalogen der Unibibliotheken finden sich, aufsteigend nach dem Grad ideologischer Abweichung, hinter Nietzsche-Werken noch gelegentlich: Vermisst, ausgeschieden oder vernichtet. Anfangs gab es auch im Osten (unter Sozialisten) noch Verteidiger. Ernst Bloch und Eva Siewert gehörten dazu, deren Artikel über „Nietzsche vor der Spruchkammer“ 1947 in der Weltbühne erschienen war.[10] Im Berliner Kurier hatte sich fast zeitgleich der junge Wolfgang Harich zu Wort gemeldet. Zwar war die Einlassung anonym erschienen,[11] und die aktuelle Harich-Forschung bestreitet dessen Autorschaft.[12] Doch sprechen typische und in den Debatten der 1980er Jahre wiederholt herangezogene Zitate wie der lebendig-polemische Sprachstil, vergleichbar überdies dem Duktus anderer Beiträge, die Harich damals für den Kurier verfasste, für diesen als Verfasser. Nietzsche, so argumentierte Harich damals, sei „unschuldig“ und man dürfe ihn nicht für eine „fanatische Jugend“ verantwortlich machen, nur, weil sich in deren Pimpf-Dienstvorschriften das Motto „Gelobt sei, was hart macht“ befunden habe.

Der alte Ernst Bloch hatte noch in einer seiner letzten Leipziger Vorlesungen, 1956 war er dann in den Westen gegangen, eine Lanze für Nietzsche gebrochen. Für ihn blieb Nietzsches Denken, bei aller Kritik, vor allem ein „Essayraum der Hoffnung“. Manfred Riedel glaubt, Bloch habe den Hörern und Lesern der frühen DDR, mein Vater saß im Leipziger Hörsaal 40 (dem berühmten!) auch zu dessen Füßen, damals einen völlig unbekannten Nietzsche eröffnet, einen überaus lebendigen, durch dessen Briefe vermittelten, keinen „Vordenker“ jedenfalls, sondern einen gefährdeten Geist utopischer Zukunftsintentionen.[13] In einer abschließenden Würdigung fragte er, man spürt die Konzessionen an das marxistisch bereits vorimprägnierte und Bloch nicht unkritisch gegenüberstehende Publikum, wie man sich nun, nach Hitler und im Sozialismus, zu Nietzsche verhalten solle. Problematisch findet er es „[…] Hitler mit Gewalt Nietzsche zuzuschreiben oder ihm auch mit Gewalt Wagner zuzuschreiben, so gewiss hier faschistische Züge stecken und bei Nietzsche mit Händen zu greifen sind, zum Teil schon Faschismus vorliegt, auch mit Hass gegen die Arbeiter und mit Hass gegen den Sozialismus. Aber es ist doch falsch, weil das neutrale bürgerliche Publikum denkt, dass, wenn Wagner und Nietzsche die Vorläufer von Hitler sind, an Hitler doch was sein müsste. Also war die Wendung, die ich versuchte durchzusetzen: nicht das Vorspiel zu den ‚Meistersingern‘, sondern das Horst-Wessel-Lied ist Nazimusik, und es ist ungeheuer schädlich, was leider von allen Antifaschisten betrieben wurde, Nietzsche zu einem Vorläufer von Hitler zu machen. Damit ist Hitler gerechtfertigt für viele, mindestens sehr interessant gemacht, er kommt in eine vornehme Gegend.“[14]

Im Nachkriegsdeutschland steht Nietzsche zunächst in allen Besatzungszonen unter Verdacht, wenn nicht unter Anklage. Manfred Riedel sprach von einer sich durchsetzenden „Konjunktur der Rechthaber“, die freilich in West und Ost unterschiedlich lang dauerte.[15] Jürgen Habermas’ Diktum mit Schlussstrichcharakter, Nietzsche liege inzwischen „hinter uns“, sei „fast schon unverständlich geworden“ und habe jedenfalls „nichts Ansteckendes mehr“, bildete noch in den 1970ern das Credo und die Mitte einer linksliberalen Nietzsche-Abkehr in der Bundesrepublik.[16] Der Foucault-Nietzsche brachte hier dann den grundlegenden Umschwung.[17]

Im Osten wurde die Faschismusvordenkerlinie kanonisch. Johannes R. Becher, einst glühender Nietzsche-Anhänger, hatte noch im Moskauer Exil die Kehrtwende vorgenommen und in Nietzsches Denken den Keim der Idee eines „germanischen Europa“ ausgemacht.[18] Otto Grotewohl ging 1948 vor Kulturfunktionären der SED noch ein Stück weiter, nannte die SS-Schergen „Kinder Zarathustras“ und Himmlers Orden „Nietzsches Söhne“[19]. Damit war die offizielle Lesart des Feindbildes Nietzsche vorgezeichnet, ohne den Denker und sein Denken selbst noch näher unter die Lupe nehmen zu müssen. Es reichten jetzt und auch später, angesichts einer inzwischen behaupteten „Nietzsche-Renaissance“[20] in der Bundesrepublik, Schlagworte wie Zarathustra (im Tornister), die blonde Bestie oder Der Wille zur Macht.

[1] Vortrag vom 22. Februar 2016. Die Redefassung wurde im Wesentlichen so belassen, der Text für den Druck lediglich um einige Zitate erweitert. Verf. bereitet einen umfangreichen dokumentarischen Essay unter dem Titel „Nietzsche in der DDR“ vor. Für mündliche und schriftliche Auskunft danke ich Dorothee Bertold und Heidemarie Thamm (Röcken), Kurt Stauss (Halle), Reinhard Creutzburg (Stendal), Steffen Dietzsch und Friedrich Tomberg (Berlin).

[2] Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Berlin 1954.

[3] In den Vorlesungen lasen wir damals unter der Bank: Rolf Henrich, Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus, Hamburg 1989.

[4] Mit einem Nachwort von Kurt Hildebrandt.

[5] Vgl. Chris Lorenz, Wozu noch Theorie der Geschichte? Über das ambivalente Verhältnis von Gesellschaftsgeschichte und Modernisierungstheorie, in: Volker Depkat u.a. (Hrsg.), Wozu Geschichte(n)? Geschichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie im Widerstreit, Stuttgart 2004, S. 117–143.

[6] Vgl. Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults. Stuttgart 1996.

[7] Noch während der NS-Zeit wurde für eine differenzierte Sicht auf die Nietzsche-Rezeption verschiedener „Gruppen des deutschen Volkes“ plädiert: Franz Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, New York 1944, S. 490.

[8] Manfred Riedel suchte und fand 1990 noch derlei Spuren im Gelände, war damit aber eher auf eine radikale Kritik am verdämmernden und nachlebenden DDR-Sozialismus mit Nietzsche als Stichwortgeber aus: Ders., Zeitkehre in Deutschland. Wege in das vergessene Land, Berlin 1991. West-Ost-Diskurskritisch hingegen: Jürgen Große, Ernstfall Nietzsche. Debatten vor und nach 1989, Bielefeld 2010.

[9] Thomas Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, Berlin 1947, S. 39.

[10] Weltbühne 2 (1947), Heft 8, S. 346 ff.

[11] (Wolfgang Harich), Nietzsche im Zwielicht des Jahrhunderts, in: Der Kurier. Die Berliner Abendzeitung, 09. Februar 1946. Vgl. Manfred Riedel, Nietzsche in Weimar. Ein deutsches Drama, Leipzig 1997, S. 180 ff.

[12] Vgl. Andreas Heyer, Studien zu Wolfgang Harich, 2. Aufl., Norderstedt 2016, S. 65.

[13] Vgl. Riedel, Nietzsche in Weimar (wie Anm. 11), S. 222 f. Stefanie Maffeis, Zwischen Wissenschaft und Politik. Transformationen der DDR-Philosophie 1945–1993, Frankfurt/M. 2007, S. 151 f.

[14] Ernst Bloch, Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie 1950–1956, Bd. 4: Neuzeitliche Philosophie II: Deutscher Idealismus, Frankfurt/M. 1985, S. 413–416.

[15] Riedel, Nietzsche in Weimar (wie Anm. 11), S. 203.

[16] Nachwort zu: Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt/Main 1968, S. 237–261, hier S. 237.

[17] Sammlung wichtiger Stimmen bei: Werner Hamacher (Hrsg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin u. Wien 2003.

[18] Johannes R. Becher: Deutsches Bekenntnis. Drei Reden zu Deutschlands Erneuerung, Berlin 1945.

[19] Otto Grotewohl: Die geistige Situation der Gegenwart und der Marxismus, in: Dietrich, G. (Hrsg.): Um die Erneuerung der Kultur, Dokumente 1945–1949, Berlin 1983, S. 222 f. Zit. nach Ulrich Busch, Friedrich Nietzsche und die DDR, in: UTOPIE kreativ, Heft 118 (August 2000), S. 762–777, hier S. 765.

[20] Begriff zuerst bei Bernhard Kaufhold, Zur Nietzsche-Rezeption in der westdeutschen Philosophie der Nachkriegszeit, in: Robert Schulz (Hrsg.): Beiträge zur Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Berlin 1958, S. 279 ff. Vgl. auch Busch, Nietzsche (wie Anm. 19), S. 766 f.

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