Publikationen

Suchmaske
Suche schließen

Heft 200: Die Tradition kritischer Solidarität von Luxemburg bis Gorbatschow

Von: Theodor Bergmann

Heft 200: Die Tradition kritischer Solidarität von Luxemburg bis Gorbatschow

Mit einem biographischen Abriss Theodor Bergmanns und der Bibliographie seiner Schriften aus Anlass seines 100. Geburtstages am 7. März 2016

--------------------------------------------------------------------------------------

Redaktionelle Vorbereitung des Heftes:
Mario Keßler, Prof. Dr., Historiker, Berlin
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

-----------------------------------------------------------------------------------

INHALT

Vorbemerkung

Theodor Bergmann
Die Tradition kritischer Solidarität – von Luxemburg bis Gorbatschow
Vortrag am 11. Juni 2015 im Verein „Helle Panke“, Berlin

Theodor Bergmann
Befreit von den Irrtümern unserer Bewegung fangen wir mit neuer Kraft von vorn an
Rede vom 17. Dezember 2013 aus Anlass der Enthüllung der Gedenktafel für die kommunistischen Opfer des Stalin-Terrors am Karl-Liebknecht-Haus in Berlin

Mario Keßler
Ein Jahrhundertleben – Theodor Bergmann

Theodor Bergmann: Bibliographie

----------------------------------------------------------------------

LESEPROBE

Vorbemerkung

Diese Publikation erscheint zu Ehren von Prof. Dr. agr. habil. Theodor Bergmann, der am 7. März 2016 seinen 100. Geburtstag begehen kann. Der in Stuttgart lebende Agrarökonom, Historiker der Arbeiterbewegung und politische Aktivist ist dem Berliner Bildungsverein „Helle Panke“ e.V. seit vielen Jahren eng verbunden. Deshalb ist es uns eine Freude, aber auch eine hohe Ehre, aus Anlass seines Zentenariums die Bibliographie Theodor Bergmanns publizieren zu können.

Wiewohl dieses schriftliche Ergebnis seiner Arbeit keineswegs den ganzen Menschen Theo Bergmann in seiner reichhaltigen Persönlichkeit widerspiegeln kann, legt es doch Zeugnis ab vom immensen Fleiß und von den vielfältigen Interessen des Jubilars, aber auch von seiner großen internationalen Wirksamkeit. Was zu seinem achtzigsten Geburtstag über ihn geschrieben wurde, hat heute um so mehr Gültigkeit: „Theodor Bergmanns Biographie steht exemplarisch für jene Linke, die von den antidemokratischen Rechten verfolgt, von den pseudodemokratischen Spießern gemieden und von den Stalinisten in Acht und Bann getan worden ist.“ Die vorliegende Publikation enthält deshalb auch einen biographischen Abriss, der zumindest die wichtigsten Lebensstationen und zentralen Punkte seines Denkens und Wirkens deutlich macht.

Besonders dankbar aber sind wir Theo Bergmann dafür, dass er am 11. Juni 2015 erneut die Zeit fand, um in der „Hellen Panke“ über „Die Tradition kritischer Solidarität – von Luxemburg bis Gorbatschow“ zu sprechen. Der Text dieses einleitenden Beitrages zur Vorstellung des Sammelbandes „Reformen und Reformer im Kommunismus“, herausgegeben von Wladislaw Hedeler und Mario Keßler (Hamburg: VSA, 2015), ist hier nachzulesen.

Ebenfalls abgedruckt ist Theodor Bergmanns Rede, die er am 17. Dezember 2013 aus Anlass der Enthüllung der Gedenktafel für die kommunistischen Opfer des Stalin-Terrors am Karl-Liebknecht-Haus in Berlin hielt.

------------------------------------------

Theodor Bergmann
Die Tradition kritischer Solidarität – von Luxemburg bis Gorbatschow
Vortrag am 11. Juni 2015 im Verein „Helle Panke“ e.V. aus Anlass der Vorstellung des Sammelbandes „Reformen und Reformer im Kommunismus“, herausgegeben von Wladislaw Hedeler und Mario Keßler, Hamburg: VSA, 2015

Zuerst meinen Dank an die Organisatoren dieser Veranstaltung, dass sie mir das erste Wort geben.

Ich hatte in meinem langen Leben einige Privilegien:

  1. Kluge kommunistische Lehrer bei einigen meiner Brüder, bei den erfahrenen KPD-O-Genossen, bei einigen Lehrern des Köllnischen Gymnasiums, in der Freien Sportvereinigung Fichte.
  2. Ich hatte die Möglichkeit, auf eigene Kosten, in die sozialistischen Länder zu fahren.
  3. Meine Forschungsarbeit in Entwicklungsländern half mir Entwicklungen zu verstehen.
  4. Meine Lehrer, u.a. August Thalheimer, Heinrich Brandler, Hans Beck, Waldemar Bolze, Franz Černý, standen in einer vor-stalinschen Tradition der kritischen Solidarität und der toleranten Debatte.

Beispielhaft für alle war Rosa Luxemburgs Essay über die russische Revolution. Nach aller Kritik an Lenin und Trotzki endet der Essay mit den Worten:

„Und dennoch gehört die Zukunft dem ‚Bolschewismus’!“

Die Anführungszeichen besagen: Wir sind solidarisch, aber sie sagen auch, dass solche, dort noch notwendige Maßnahmen, nicht für die deutsche Arbeiterbewegung brauchbar sind.

1925 warnt Antonio Gramsci in einem Brief aus Mussolinis Gefängnis das EKKI: Ihr gefährdet den Kredit, den Lenin euch vererbt hat und schadet der internationalen Bewegung. Im gleichen Jahr warnt Thalheimer, die „Bolschewisierung“ werde einen Scherbenhaufen verursachen. Ende 1928 fordert die gerade gegründete KPD-Opposition die Erneuerung der Kommunistischen Internationale an Haupt und Gliedern.

Und: Die KPdSU kann nicht mehr die führende Partei sein, sondern nur noch die Erste unter Gleichen; die Probleme der UdSSR müssen offen diskutiert werden.

Die KPD-Opposition protestiert 1929 gegen die Behandlung von Bucharin und Trotzki.

Die nächste Kritik kommt am 7. Weltkongress der Komintern und an der Volksfrontpolitik, die den Verzicht auf die revolutionären Ziele des Kommunismus impliziert. Die Kritik wird vertieft mit den vier Moskauer Prozessen 1936–1938; die KPD-O hofft, die Arbeiter der SU würden die Kraft haben, Stalin abzusetzen, dessen Politik die SU gefährde. Die Härte und Brutalität der GPU hatten meine Freunde unterschätzt. Aber natürlich müsse die sozialistische SU im nahenden Krieg verteidigt werden.

Das Schisma wird gegen Kriegsende unvermeidlich; es wird offenbar mit dem einstimmigen Beschluss des Kominform 1948, das „die KP Jugoslawiens in den Händen von Spionen und Mördern“ sieht; Josip Broz Tito sei ein Faschist und englischer Agent.

1949 besuchten wir Jugoslawien, fanden aber keine Faschisten, sondern Kommunisten, die Kommunisten bleiben wollten, aber unabhängig von so-wjetischer Kontrolle und Bevormundung. 1956 freute ich mich über den Mut von N. S. Chruschtschow, der den lebensgefährlichen Mut hatte, die Verbrechen der Stalin-Ära offenzulegen, die Lager aufzulösen und die unschuldig Verurteilten zu rehabilitieren.

1957 fuhren wir nach Polen, um uns über den polnischen Oktober zu informieren. Es folgten Studienreisen nach der ČSSR 1968, nach der VR China seit 1978, zwei Jahre nach Maos Tod, alle Reisen auf eigene Rechnung. Wir suchten nach den Spuren der Kritiker und Reformer im Kommunismus. Zusammen mit Mario Keßler veröffentlichte ich einen Sammelband über die wichtigsten Ketzer im Kommunismus. Viele mehr gehörten erinnert, die nicht in diesem Band behandelt werden konnten, u.a. Milovan Djilas, José Carlos Mariátegui, Paul Levi, Clara Zetkin. Zusammen mit den Menzels gab ich die ausgewählten Werke von Liu Shaoqi heraus.

Es gibt also eine Traditionslinie der solidarischen Kritik und der Ketzerei. Der marxistische Historiker Isaac Deutscher hat in einem eindrücklichen Essay den Unterschied zwischen Ketzern und Renegaten verdeutlicht. Die offiziellen Bürokraten erfanden die Sündenböcke und den letzten Hauptfeind Michail Gorbatschow.

Was lernen wir aus der widersprüchlichen Geschichte der kommunistischen Weltbewegung?

Der Marxismus ist vielfältig und plural, nicht monolithisch und einfältig. Es gab nicht nur Personenkult, sondern auch „Plagen unseres Systems“ (Deng Xiaoping), deutlicher gesagt: Strukturprobleme unserer Bewegung, die wir offen debattieren und lösen müssen.

Die Kritiker und Ketzer sind lebenswichtig. Unsere Kritik will, im Gegensatz zur bürgerlichen Kritik, den Kommunismus verbessern, von seinen Irrtümern befreien. Mit diesem Ziel müssen sich auch Form und Inhalt der Kritik von der anderen Kritik deutlich unterscheiden.

Nur wenn wir unsere Irrtümer und Irrwege erkennen und anerkennen, werden wir den dominierenden Antikommunismus überwinden. Dann wird es eine Erneuerung der kommunistischen Weltbewegung geben, wie sie Michael Gorbatschow 1987 gefordert hat – damals leider mit nur negativen Antworten der noch regierenden kommunistischen Parteien, die jedoch schon bürokratisch erstarrt waren.

Vielleicht ist dieses Buch und unser heutiges Gespräch der Auftakt zu einer toleranten Debatte über die Gegenwartsprobleme des Kommunismus.

Ich danke Euch allen für die Mitarbeit an diesem Buch und entschuldige mich für meine ketzerischen Worte.

  • Preis: 4.00 €